Über das Störungsbild ADHS – Teil 2: Wo liegen die Ursachen?

Liegen die Ursachen der ADHS tatsächlich im Verhalten der Eltern – oder hat es vielmehr etwas mit Genetik und Biologie zu tun, dass die Betroffenen mit bestimmten Dingen so schnell überfordert sind? In diesem Teil widme ich mich der Aufklärung genau dieser Fragen.

In diesem Teil soll es, nachdem ich in Teil 1 die Symptome und die Diagnostik von ADHS im Kindes- und Erwachsenenalter beschrieben habe, um die Ursachen der ADHS gehen.

Ursachen

Das Wichtigste vorweg: Bei der ADHS überwiegen, wie auch z. B. beim Autismus, genetische und biologische Ursachen – im Gegensatz zu der oft von leider nicht gut informierten oder ideologisch angetriebenen Menschen vertretenen These, das Verhalten „moderner Eltern“ sei daran schuld (wenn sie nicht gerade in Ermangelung jeglicher Fachkenntnis behaupten, ADHS sei kompletter Unsinn). Nun zurück zur Ernsthaftigkeit. Die Rolle der Genetik wurde schon in den 1990er Jahren anhand von Zwillings- und Adoptionsstudien deutlich, die zeigten, dass voneinander getrennt aufgewachsene eineiige Zwillingspaare in 55-92% bezüglich der Diagnose ADHS übereinstimmten. Das heißt: Hatte Zwilling A ADHS, so hatte Zwilling B in 55-92% der Fälle auch ADHS. Zum Vergleich: Spielte die Genetik keine Rolle, sollte diese Prozentzahl der Häufigkeit in der Bevölkerung entsprechen, also unter 5% liegen.

Es ist schwer, die vielen Studien, Überblicksartikel und Metaanalysen, die sich mit den Ursachen der ADHS befassen, prägnant zusammenzufassen, aber ich werde es dennoch versuchen. Die ADHS wird auf Basis wissenschaftlicher Befunde heutzutage weitestgehend als Inhibitionsdefizit in der Informationsverarbeitung angesehen. Inhibition („Hemmung“) ist unsere Fähigkeit, auf uns einströmende, aber nicht relevante Reize (= Informationen) aus der Umwelt zu unterdrücken. Dies bezeichnet konkret die Fähigkeit unseres Gehirns, die Aufmerksamkeit weiterhin auf einen relevanten Reiz (z. B. eine Matheaufgabe) fokussiert zu halten, auch wenn ein hervorstechender Reiz (z. B. quietschende Reifen) durch unsere Sinnesorgane Eingang in unser Gehirn finden. Bei intakter Inhibition gelingt es dem Gehirn meistens, die weitere Verarbeitung eines solchen Geräuschs so früh zu unterdrücken, dass dieses gar nicht oder nur teilweise unser Bewusstsein erreicht. Menschen mit ADHS haben genau damit Schwierigkeiten: Der Fokus der Aufmerksamkeit wird leicht woanders hingelenkt. Die Inhibitions-Perspektive bietet auch den Vorteil, dass damit das begriffliche Paradoxon umgangen wird, welches darin besteht, dass die Aufmerksamkeitsleistung an sich, die sich mit zahlreichen psychologischen Testverfahren überprüfen lässt, bei Menschen mit ADHS gar nicht oder nur wenig beeinträchtigt ist. Es ist in der Tat viel mehr die mangelnde Inhibition, die erst dann sichtbar wird, wenn die Betroffenen mit verschiedenen Reizen konfrontiert werden, von denen aber einige irrelevant sind.

Diejenigen Wissenschaftler:innen, die die Ansicht vertreten, dass die ADHS ein einheitliches Störungsbild darstellt und nicht eigentlich zwei unterschiedliche Störungen (nämlich die Aufmerksamkeitsstörung und die Hyperaktivität) fälschlicherweise zusammenfasst, erklären auch die Hyperaktivität durch ein Defizit bezüglich der Unterdrückung von impulsiven Handlungsweisen. Wie damit angedeutet, gibt es aber auch die Verfechter der Ansicht, dass diese beiden Symptomgruppen zwei unterschiedliche Störungen darstellen. Schlussendlich kann diese Frage auf dem derzeitigen Stand der Wissenschaft nicht beantwortet werden.

Neurobiologisch betrachtet

Die Ursachenforschung zur ADHS ist größtenteils neurobiologischer und genetischer Natur. Dabei geht man in der Regel so vor, dass man sich anschaut, welche Gene oder Genvarianten („Allele“) besonders häufig bei Personen mit ADHS vorkommen, und betrachtet dann, welche Auswirkungen genau diese Gene auf die Beschaffenheit unseres Gehirns haben. Diese Art der Forschung erbrachte diverse so genannte „Kandidatengene“, d. h. solche, die in Zusammenhang mit ADHS gebracht werden. Viele dieser Gene enthalten die Baupläne für Transmitterezeptoren, d. h. Moleküle, an die in unserem Nervensystem Neurotransmitter (auch genannt Botenstoffe) andocken und die somit maßgeblich an der Weiterleitung von Nervensignalen beteiligt sind. Besonders heiß diskutiert werden Rezeptoren für die Neurotransmitter Dopamin und Noradrenalin. Diese spielen besonders im vorderen Teil unseres Gehirns eine Rolle, wo der Sitz der „exekutiven Kontrolle“ vermutet wird, d. h. ein Aufmerksamkeitssystem, das kontrolliert, was wir tun und denken – und was nicht. Diesem System werden auch Inhibitionsfunktionen zugesprochen, sodass sich im Zusammenhang mit den beschriebenen Befunden ein recht rundes Bild ergibt: Eine bestimmte Genvariante erzeugt ungünstig beschaffene Dopaminrezeptoren in bestimmten für Inhibition relevanten Gehirnarealen, wodurch ein Dopaminmangel entsteht, der zu einer Unteraktivierung dieser Areale führt – und das Ergebnis heißt ADHS.

Leider ist dies nicht ganz so eindeutig, wie man es gern hätte, da viele wissenschaftliche Befunde im Widerspruch zueinander stehen und noch viele Zusammenhänge ungeklärt sind. Dass jene Gehirnareale aber tatsächlich bei Menschen mit ADHS gewisse Abweichungen im Vergleich zu gesunden Kontrollpersonen aufweisen, konnte in vielen Studien gezeigt werden. MRT-Studien zeigten beispielsweise eine geringere Masse in frontalen Gehirnarealen, und fMRT-, MEG- und solche Studien, die so genannte ereignisevozierte Potenziale untersuchten (dafür benutzt man ein EEG), erbrachten neurowissenschaftliche Befunde, die eine gestörte, d. h. ineffiziente Informationsverarbeitung belegen, z. B. anhand einer zu geringen Aktivierung in verschiedenen Gehirnarealen.

Doch was bedeutet all dies nun für die Behandlung der ADHS? Darum wird es in Teil 3 gehen.

© Dr. Christian Rupp 2022