psycholography

Buchveröffentlichung „Blackbox Psychotherapie“ auf Sommer verschoben

Leider teilte der Verlag mir heute mit, dass mein Buch „Blackbox Psychotherapie“, das ich in den ersten acht Monaten des Jahrs 2023 geschrieben habe, aufgrund von personellen Engpässen im Lektorat nun doch erst im Sommer, voraussichtlich Ende Juli 2024, erscheinen wird. Anlass für das Verfassen dieses Buchs war, dass mir in rund neun Jahren psychotherapeutischer Tätigkeit aufgefallen war, dass es kaum einen Beruf gibt, bei dem die Realität sich so krass von dem unterscheidet, was der Durchschnittsmensch sich darunter vorstellt, wie beim Beruf des Psychotherapeuten.

In meinem Buch behandle ich daher in sechs unterhaltsamen Kapiteln informativ und humorvoll all die Themen, die mir seit etlichen Jahren am Herzen liegen und förmlich unter den Nageln brannten. Ich widme mich der Aufklärung über eine Vielzahl von Irrtümern und Missverständnissen rund um den Bereich der Psychotherapie von „Wer zum Psychotherapeuten geht, ist bekloppt“ bis zu gängigen Klischees wie dem mit der allseits beliebten „Couch“ und erkläre sowohl, was seriöse Psychotherapie von unseriösen Angeboten unterscheidet und welche Arten von Psychotherapie es gibt, als auch, wie und warum Psychotherapie eigentlich wirkt.

Als nächstes lernen Sie als Leserin einiges sowohl darüber, welche Rechte in der Psychotherapie der Patient hat und welchen zahlreichen Pflichten wiederum die Psychotherapeutin unterliegt (Es sind mehr, als Sie wahrscheinlich dachten!), als auch, warum Psychotherapie bei Weitem nicht für jeden Menschen gedacht ist, der psychisch erkrankt. Im längsten Kapitel beschreibe ich derweil so differenziert wie möglich die komplexen Gründe für die desolate Versorgungslage, die zum unschönen Phänomen der viel zu langen Wartezeiten führt, und lasse Sie an einigen kaum bekannten Missständen sowie seltsamen Blüten teilhaben, die das Gesundheitssystem in Bezug auf die Psychotherapie in den letzten Jahren hervorgebracht hat. Das Buch schließt mit einer ganz persönlichen und sehr ehrlichen Innensicht von mir auf meinen Beruf – was die vielen Menschen nicht ansatzweise bewussten Belastungen und täglichen Probleme ebenso einschließt wie das, was meinen Beruf trotz allem so erfüllend macht.

Interessierte finden das Buch zum Vorbestellen (auch wenn es noch rund fünf Monate bis dahin sind) unter anderem in diesen Onlineshops:

Wie man sinnvoll mit Schuldgefühlen umgeht – Teil 2: Wiedergutmachung oder entgegengesetztes Handeln?

In Teil 1 ging es darum, herauszufinden, wie viel tatsächliche Verantwortung einem vorhandenen Schuldgefühl gegenübersteht. In diesem Teil soll es nun darum gehen, wie Sie – je nachdem, wie viel Verantwortung Sie rational betrachtet haben – sinnvoll handeln können. Was Sie am besten tun, hängt nun massiv davon ab, was die vorausgehende Analyse ergeben hat. Schauen wir uns das also konkret an:

Fall 1: Hohe tatsächliche Verantwortung.

Der Einfachheit halber definieren wir diesen Fall als „mind. 50 % eigene Verantwortung gemäß Verantwortungskuchen“ (siehe Teil 1). Das dürfte z. B. der Fall sein, wenn Sie betrunken Auto gefahren sind und dabei einen anderen Menschen verletzt haben. Tatsächlich kommt man hier je nach Sachlage nah an die 100 % heran – etwas weniger vielleicht, wenn andere Akteure eine relevante Rolle spielten (andere Person, die Sie gegen Ihren Willen drängte zu fahren, Geschädigter, der bei Rot über die Ampel ging, etc.). In solchen Fällen ist die Handlungsempfehlung ganz klar: Erkennen Sie Ihre Schuld an, stehen Sie zu ihr und übernehmen Sie die Verantwortung. Sorgen Sie, soweit Sie selbst können und die geschädigte Person es zulässt, für Wiedergutmachung durch Entschuldigung, offizielle Schadensersatzleistungen oder symbolische Gesten jedweder Art. Zusätzlich ist es sinnvoll, zukunftsorientiert zu handeln und dafür zu sorgen, dass man selbst – und vielleicht auch andere – denselben Fehler nicht noch einmal begehen. Ich kannte z. B. einmal jemanden, dem es in dieser Situation geholfen hat, ehrenamtlich Vorträge in Fahrschulen zu halten und die Fahrschüler vor Alkohol am Steuer zu warnen. Ganz gleich, wie hoch der Verantwortungsanteil ist: Es ist wichtig, diesem ins Auge zu blicken und ihn vor sich selbst zu akzeptieren (womit ich nicht „gutheißen“ meine, sondern das wertungsfreie Annehmen dieser Schuld als Teil der eigenen Person).

Unabhängig davon, ob der eigene Verantwortungsanteil über oder unter 50 % liegt, kann es natürlich auch Fälle geben, in denen diese Akzeptanzhaltung um noch einen Punkt ergänzt wird, nämlich das Bewusstmachen möglicher guter Gründe für das eigene Handeln, das man trotz der erworbenen Schuld nach wie vor vertreten kann. Das ist immer dann der Fall, wenn man aus einer verantwortungsvollen Position heraus eine Entscheidung trifft (z. B. als Arbeitgeber drei Arbeiter zu entlassen), die einigen Menschen schadet (Arbeitslosigkeit), aber eine Mehrheit von Menschen (den Rest der Belegschaft und den Betrieb als Ganzes) schützt.

Fall 2: Niedrige tatsächliche Verantwortung.

Ganz anders sieht es derweil aus, wenn die tatsächliche Verantwortung, wie in unserem Beispiel mit der Krankmeldung aus Teil 1, eher gering ausfällt – oder man gemäß dem tatsächlichen eigenen Anteil alles an Wiedergutmachung & Co. geleistet hat, was ging – und das Schuldgefühl trotzdem anhält. In diesen Fällen ist es wichtig, sich klarzumachen, dass bei solchen irrationalen, also weit über die tatsächliche Verantwortung hinausgehenden Schuldgefühlen ein Teufelskreis (siehe Abbildungen) greift, der darauf basiert, dass unser Gehirn leider grundsätzlich unser Handeln (im Falle von Schuldgefühl: sich entschuldigen, rechtfertigen, klein machen und bestrafen) als Bestätigung seiner Gefühle versteht („Ich bestrafe mich, also bin ich schuld“) und dadurch das Schuldgefühl nicht verschwindet, sondern immer stärker wird. Daher greift hier ein altbewährtes Prinzip, das Sie vielleicht auch aus meinen Artikeln zum Thema Angst kennen: Das entgegengesetzte Handeln. Im Falle von Schuldgefühl bedeutet das: Tun Sie das Gegenteil von dem, was eine Person tut, die schuldig ist. Tun Sie sich mit voller Absicht etwas Gutes, seien Sie wohlwollend zu sich – und nehmen Sie ganz bewusst eine aufrechte, würdevolle Körperhaltung ein. Machen Sie sich groß statt klein! Das mag unangenehm egoistisch klingen – und ist genau deswegen richtig, um den Teufelskreis zu durchbrechen. Und ja, es wird sich erst einmal komisch anfühlen, befreit aber dafür bei wiederholter Umsetzung langfristig von den quälenden Schuldgefühlen.

Sonderfall: Schuldgefühl statt Hilflosigkeit

Es gibt bei Schuldgefühlen noch einen Sonderfall, der aus der Reihe tanzt: Nämlich den, dass Schuldgefühle eine Kompensation von realer Hilflosigkeit sind. Das ist z. B. der Fall, wenn Menschen einen geliebten Angehörigen durch einen Autounfall verlieren und diesen Verlust, über den Sie real keinerlei Kontrolle hatten, verarbeiten, indem Sie sich Vorwürfe der Art „Hätte ich ihn doch davon abgehalten, ins Auto zu steigen“ machen. Hier ist es essenziell wichtig zu verstehen, dass diese im Grunde selbst produzierten Schuldgefühle einen Zweck haben: Die selbst zugewiesene Schuld gaukelt einem vor, man habe Kontrolle gehabt, sprich man war nicht hilflos. Oft wählen Menschen (unbewusst) daher den Weg des Schuldgefühls, weil es leichter zu ertragen ist als die Hilflosigkeit. Letztere anzuerkennen und emotional zuzulassen, ist in diesem Fall die Herausforderung und somit auch der Weg zum Loslassen des quälenden Schuldgefühls.

© Dr. Christian Rupp 2024

Wie man sinnvoll mit Schuldgefühlen umgeht – Teil 1: Die Analyse der eigenen Verantwortung.

Schuldgefühle zählen zu den Problemen, die in der Psychotherapie mit am häufigsten Thema sind und enorm zu psychischem Leid beitragen. Schuldgefühle können sehr unterschiedliche Hintergründe haben: So unterscheidet sich das Schuldgefühl, nachdem man im betrunkenen Zustand mit dem Auto einen Menschen angefahren hat, in wichtigen Aspekten von dem Schuldgefühl, das sich einschleicht, nachdem man sich entschieden hat, einem Bedürfnis nachzugehen (sich bei der Arbeit krankmelden, anstatt sich hinzuschleppen, oder den Nachmittag auf dem Sofa verbringen, anstatt die Oma anzurufen), was automatisch bedeutet, dass das Bedürfnis einer oder mehrerer anderer Personen (einen entspannten Arbeitstag haben, von der Enkelin angerufen werden) nicht oder nur teilweise erfüllt wird.

Um zu beantworten, wie man im Falle eines Schuldgefühls handeln sollte, muss man einen Schritt vorweg schalten, und zwar eine gründliche Analyse der rationalen Grundlage des Schuldgefühls. Mit anderen Worten: Sie müssen erst systematisch klären, inwieweit Sie Schuld haben – und woran überhaupt. Und dann gilt es den eigenen Anteil rational zu beziffern. Und weil Schuld als notwendige Voraussetzung hat, dass man für den jeweiligen Umstand Verantwortung trägt, werde ich im Folgenden vorwiegend den Begriff „Verantwortung“ verwenden. Also – legen wir los.

Wie gerade gesagt, müssen wir erst einmal klären, für welchen Umstand Sie (vermeintlich) Verantwortung zu übernehmen haben. In unserem Beispiel mit der Krankmeldung wäre dieser Umstand, dass wegen der eigenen Krankmeldung die anderen Kollegen in Ihrer Abteilung (oder Ähnlichem) heute Ihre Arbeit mitmachen müssen, also mehr Stress haben als sonst. Die nächste Frage lautet: Wie viel Verantwortung haben Sie also an dem zusätzlichen Stress Ihrer Kollegen? Um diese Frage zu beantworten, müssen Sie zunächst einige weitere Fragen stellen. Zunächst einmal fragen Sie sich bitte, ob Sie über eine andere Person, die sich exakt so verhält wie Sie (und aus denselben Gründen) auch so ein hartes Urteil fällen und ihr die Schuld am Stress der Kollegen geben würden. Na, ertappt sich der eine oder andere beim Messen mit zweierlei Maß? Es wäre nicht ungewöhnlich. Außerdem könnten Sie eine vertraute, neutrale dritte Person (Freund, Partnerin…) um eine ehrliche (!) Antwort dazu bitten, wie sehr diese Sie in der Verantwortung sieht. Und drittens können Sie, wenn möglich (es geht nicht immer) die „geschädigten“ Personen selbst fragen, ob sie Ihnen einen Vorwurf machen (auch das ist natürlich nur sinnvoll, wenn diese Personen ehrlich antworten). Aber das ist noch nicht alles.

„Verantwortungskuchen“ zu dem Umstand, dass Kollegen durch die eigene Krankmeldung mehr Stress haben als sonst.

Die meisten Menschen, ganz gleich ob psychisch erkrankt oder nicht, überschätzen die eigene Verantwortung in solchen Situationen massiv und übersehen, wie viele andere Akteure am jeweiligen Umstand Verantwortung tragen. Um diese Anteile anderer Akteure sichtbar zu machen und zu quantifizieren, gibt es die wunderbare Übung des „Verantwortungskuchens“, bei dem Sie aufgefordert sind, zunächst alle Akteure mit Einfluss auf den jeweiligen Umstand aufzulisten – und ihnen dann im Sinne eines Kreisdiagramms „Kuchenstücke“ von Verantwortung zuzuordnen. Wichtig: Ihren eigenen Anteil schätzen Sie als letztes ein, und natürlich gibt es insgesamt nur 100 % Verantwortung zu verteilen.

Im Schaubild sehen Sie einen hypothetischen Verantwortungskuchen zu unserem Beispiel mit der Krankmeldung, bei dem es darum geht, die Verantwortung für den Stress der Kollegen zu verteilen. Ziemlich schnell wird klar: Ihre Verantwortung ist größer als 0 %, aber weitaus geringer als 100 %, weil man erstens anderen Akteuren Verantwortung zuspricht, die allein aufgrund ihrer Rolle (Arbeitgeber) schon mehr Einfluss und somit Verantwortung tragen (z. B. dadurch, dass Sie für eine ausreichende Personalplanung und Arbeitsverteilung sowie den Schutz der Gesundheit der Mitarbeiter zuständig sind) – und man zweitens auch den vermeintlich Geschädigten eine Verantwortung für ihr eigenes Handeln zuspricht (bzgl. Überforderung hat auch jeder Betroffene selbst eine Verantwortung für sich selbst, sich durch Abgrenzung vor dieser zu schützen). Was mir sehr wichtig ist: Es geht bei der rationalen Analyse von Schuldgefühl somit im Gegensatz zu manch anderer häufig gesehenen therapeutischen Technik nicht darum, dem Gegenüber Schuldgefühle „auszureden“, sondern es geht darum, der Realität ins Auge zu blicken.

Und damit haben wir den wichtigen Schritt 1 auch schon geschafft: Wir kennen nun unseren tatsächlichen, d. h. rational angemessenen Verantwortungsanteil, und sehr wahrscheinlich ist dieser kleiner als unser (irrationales) Schuldgefühl. In Teil 2 wird es daher darum gehen, wie man, aufbauend auf dem Ergebnis der Analyse, ins Handeln kommt. Und so viel sei schon jetzt gesagt: Je nach Ergebnis der Analyse werden sich die Handlungsempfehlungen gravierend unterscheiden.

© Dr. Christian Rupp 2024

Buchveröffentlichung im Frühjahr: „Blackbox Psychotherapie“

Ich freue mich, bekannt geben zu können, dass mein Buch „Blackbox Psychotherapie“, das ich in den ersten acht Monaten des Jahrs 2023 geschrieben habe, im kommenden Frühjahr veröffentlicht wird. Anlass für das Verfassen dieses Buchs war, dass mir in rund neun Jahren psychotherapeutischer Tätigkeit aufgefallen war, dass es kaum einen Beruf gibt, bei dem die Realität sich so krass von dem unterscheidet, was der Durchschnittsmensch sich darunter vorstellt, wie beim Beruf des Psychotherapeuten.

In meinem Buch behandle ich daher in sechs unterhaltsamen Kapiteln informativ und humorvoll all die Themen, die mir seit etlichen Jahren am Herzen liegen und förmlich unter den Nageln brannten. Ich widme mich der Aufklärung über eine Vielzahl von Irrtümern und Missverständnissen rund um den Bereich der Psychotherapie von „Wer zum Psychotherapeuten geht, ist bekloppt“ bis zu gängigen Klischees wie dem mit der allseits beliebten „Couch“ und erkläre sowohl, was seriöse Psychotherapie von unseriösen Angeboten unterscheidet und welche Arten von Psychotherapie es gibt, als auch, wie und warum Psychotherapie eigentlich wirkt.

Als nächstes lernen Sie als Leserin einiges sowohl darüber, welche Rechte in der Psychotherapie der Patient hat und welchen zahlreichen Pflichten wiederum die Psychotherapeutin unterliegt (Es sind mehr, als Sie wahrscheinlich dachten!), als auch, warum Psychotherapie bei Weitem nicht für jeden Menschen gedacht ist, der psychisch erkrankt. Im längsten Kapitel beschreibe ich derweil so differenziert wie möglich die komplexen Gründe für die desolate Versorgungslage, die zum unschönen Phänomen der viel zu langen Wartezeiten führt, und lasse Sie an einigen kaum bekannten Missständen sowie seltsamen Blüten teilhaben, die das Gesundheitssystem in Bezug auf die Psychotherapie in den letzten Jahren hervorgebracht hat. Das Buch schließt mit einer ganz persönlichen und sehr ehrlichen Innensicht von mir auf meinen Beruf – was die vielen Menschen nicht ansatzweise bewussten Belastungen und täglichen Probleme ebenso einschließt wie das, was meinen Beruf trotz allem so erfüllend macht.

Interessierte finden das Buch zum Vorbestellen unter anderem in diesen Onlineshops:

Neu auf der Website: Ausführliche Informationen zu meinem gRUPPentherapie-Angebot

Ab sofort finden Interessierte ausführliche Informationen und Antworten auf die häufigsten Fragen rund um mein Angebot „gRUPPentherapie„, wohinter sich das durch mich entwickelte, integrative Gruppentherapiekonzept zur Bearbeitung zwischenmenschlicher Probleme verbirgt. Hier geht es zu der neu erstellten und sehr ausführlichen Seite.

© Dr. Christian Rupp 2023

Das „Burnout-Syndrom“: Erfundene Diagnose oder echte Krankheit? (Update aus 2023)

Das „Burnout-Syndrom“ oder kurz „Burnout“ ist in aller Munde und aus dem alltäglichen Sprachgebrauch nicht wegzudenken. Doch worum handelt es sich dabei? Gerade wenn man bedenkt, wie oft Menschen berichten, sie seien wegen „Burnout“ krankgeschrieben, erscheint es mir wichtig, mit dem bedeutenden Hinweis einzusteigen, dass entgegen dem landläufigen Eindruck „Burnout“ nach wie vor kein offiziell diagnostizierbares Störungs- bzw. Krankheitsbild ist und somit auch nicht als Diagnose gestellt werden kann. In der 5. Auflage des Diagnostischen und Statistischen Manuals Psychischer Störungen (DSM-5) existiert die Diagnose ebenso wie in den vorherigen Auflagen nicht, und in der von der WHO herausgegebenen und für das deutsche Gesundheitssystem verbindlichen Internationalen Klassifikation von Krankheiten taucht „Burnout“ in der neusten Version (ICD-11) und in der Vorgängerversion (ICD-10, bis heute im Gebrauch) jeweils nicht als Diagnose auf, die eine Behandlung begründen kann, sondern wird in beiden Fällen weiterhin nur im Kapitel „Faktoren, die den Gesundheitszustand beeinflussen“ gelistet – quasi als „Nebenfaktor“ (ICD-10-Code: Z73), aber nicht als Diagnose, die eine Behandlung oder eine Krankschreibung begründen könnte. Auf letzterer findet sich als tatsächliche Diagnose, obwohl dem Patienten nicht selten mündlich „Burnout“ mitgeteilt wird, übrigens oft entweder die Diagnose einer depressiven Episode (ICD-10-Code: F32) oder aber die (Verlegenheits-)Diagnose der so genannten Neurasthenie (ICD-10-Code: F48.0), die letztlich auf ziemlich schwammige Weise einen umfassenden Erschöpfungszustand beschreibt, wobei ironischerweise in der ICD-10 beschrieben wird, dass Neurasthenie und das „Burnout-Syndrom“ (Z73) sich gegenseitig ausschließen. Oft habe ich übrigens auch schon gesehen, dass auf einer Krankschreibung Neurasthenie und eine depressive Episode standen. Das ist, wenn man dem Patienten gegenüber von „Burnout“ spricht, nicht nur Etikettenschwindel, sondern auch inhaltlich unsinnig, da die beiden Diagnosen sich gegenseitig ausschließen: Man kann nicht beides haben.

Und trotz dieser Faktenlage ist „Burnout“ inzwischen ein etablierter Begriff im Gesundheitssystem – Anlass genug, einmal zu schauen, wo die Wurzeln dieses Begriffs liegen und was er uns trotz der gegen ihn sprechenden Sachlage bringen könnte.

Die Geschichte des Begriffs

Während der Begriff „Burnout“ („Ausgebranntsein“) heute eher mit der profit- und leistungsorientierten Gesellschaft in Verbindung gebracht wird, bezeichnete er in den 70er Jahren ursprünglich vielmehr den Zustand der Erschöpfung, Ernüchterung und Resignation unter Angehörigen von Berufsgruppen, die sich als an ihren hohen ideellen (nicht materiellen) Zielen gescheitert sahen, z. B. Sozialarbeiter, Pflegekräfte oder Ärztinnen.
Heute hingegen werden Leute, die an „Burnout“ leiden, tendenziell eher als Opfer der Konsum- und Leistungsgesellschaft angesehen, und „Burnout“ selbst hat vielerorts in der Gesellschaft den Status eines „Verwundetenabzeichens“ erhalten: Die Symptomatik ist gesellschaftlich verzeihbar geworden, denn schließlich hat man der Leistungsgesellschaft gedient und sich „kaputt gearbeitet“.

Die vermeintliche Ursache: Stress am Arbeitsplatz

Zweifelsohne: Die Arbeitswelt hat sich verändert. Sie ist schnelllebiger geworden und setzt auf optimierte Kommunikation und permanente Erreichbarkeit. Vor allem E-Mails stellen einen permanenten Stressor dar, der den Arbeitsfluss erheblich behindert. Einer Studie zufolge kann eine deutsche Führungskraft nur durchschnittlich 11 Minuten ununterbrochen arbeiten, bevor eine neue E-Mail reinkommt, das Telefon klingelt, ein Messenger quakt oder es an der Tür klopft. Der Leistungsdruck ist in der Arbeitswelt allgegenwärtig: Der Anteil der Arbeitnehmer, die sich laut der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin in ihrem Job überfordert fühlen, stieg in den letzten zwei Jahrzehnten deutlich an, und die Folgen dessen sind ziemlich eindeutig.

Was Stress mit unserem Gehirn macht

Dauerhafter Stress führt zur übermäßigen Ausschüttung von Cortisol, einem so genannten Stresshormon. Dieses bewirkt, dass der Präfrontale Cortex (stark beteiligt an wichtigen kognitiven Funktionen wie Entscheiden und logischem Denken) und der Hippocampus (wichtige Funktion für das Gedächtnis und Geburtsstätte neuronaler Stammzellen) ihre Aktivität reduzieren und messbar an Volumen verlieren, während die Amygdala (das Angstzentrum) stärker aktiv wird. Das Ergebnis dieser Prozesse ist das, was man in der klinischen Psychologie und Psychiatrie schon lange kennt – allerdings nicht als „Burnout“, sondern schlichtweg als Depression.

„Burnout“ vs. Depression

Fakt ist: Symptomatisch ist das „Burnout-Syndrom“ so gut wie gar nicht von der Depression zu unterscheiden. In beiden Fällen sind die Leitsymptome gedrückte Stimmung, Freudlosigkeit, Erschöpfung, Konzentrationsschwäche und verminderte Leistungsfähigkeit (siehe auch mein Artikel zum Thema Depression). Wissenschaftlich ist eine Trennung der beiden Konzepte nicht haltbar.

Wenn man Depression und „Burnout“ nicht anhand der Symptome unterscheiden kann, dann vielleicht anhand der Ursache? Bei „Burnout“ hat es schließlich den Anschein, als wäre der übermäßige Stress die alleinige Ursache. Eigentlich ist es aber nicht der Stress selbst, sondern der Umgang der Person damit, der krank macht. Außerdem gilt wie bei Depression: Stress löst im Allgemeinen nur in Kombination mit bereits bestehender Vorbelastung eine psychische Störung aus. Auch hier möchte ich auf meinen Artikel zu Depression und das dort dargestellte “Vulnerabilitäts-Stress-Modell” verweisen. Dort findet sich eine Aufzählung sämtlicher Faktoren, die in diese Vorbelastung („Vulnerabilität“) eingehen. Insgesamt kann man sich aber merken: Dass von zwei Personen, die objektiv gesehen gleich viel Stress am Arbeitsplatz haben, nur eine eine Depression (oder einen vermeintlichen „Burnout“) entwickelt, erklärt sich dadurch, dass die beiden Personen unterschiedlich stark vorbelastet sind. Dies soll aber ganz ausdrücklich nicht bedeuten, dass der Stress am Arbeitsplatz keine Rolle spielt: Dass dieser in der Vergangenheit zugenommen hat, ist relativ unstrittig und zu großen Teilen in der Veränderung der Arbeitskultur zu sehen, in der wir jedoch ganz aktuell erfreuliche Entwicklungen einer Gegenbewegung sehen (mehr Flexibilität bei Teilzeitarbeit, Vier-Tage-Woche, weniger Pendeln dank Home Office, etc.).

Die Chance, die uns trotz allem der neue Begriff bietet

Depression ist eine schwerwiegende Erkrankung, die mit erheblichen Beeinträchtigungen im Leben einhergeht und leider auch viel zu häufig im Suizid endet. In jedem Augenblick leidet rund einer von 20 Menschen an einer Depression (die so genannte „Punktprävalenz“). Das Risiko, in seinem Leben jemals an Depression zu erkranken, kann mit ca. 10-15 % beziffert werden. Es ist also alles andere als ein seltenes Störungsbild.
Das Problem liegt darin, dass die wenigsten Patienten eine Behandlung erhalten, weil auf dieser Erkrankung ein so großes Stigma liegt. Die Menschen schämen sich, denken, sie seien selbst schuld an ihrer Erkrankung, und gehen nicht zum Arzt. Warum? Weil diese Gerüchte in der Gesellschaft fest verankert sind: Wer an Depression leidet, muss eine schwache Persönlichkeit haben, sollte sich einfach mal aufraffen und sich nicht so anstellen. Studien zufolge begeben sich aufgrund dessen nur rund 60 % der an Depression Erkrankten in Behandlung. Das ist viel zu wenig. Mal abgesehen davon, dass dann nur ein Bruchteil von ihnen angemessen behandelt wird, aber das ist ein anderes Thema.

Das Interessante ist nun, dass die Verbreitung des weniger stigmatisierenden Begriffs „Burnout“ dazu zu führen scheint, dass Menschen sich ihre Probleme eher eingestehen und Hilfe aufsuchen. Immer häufiger kommt es vor, dass jemand mit dem Anliegen namens „Burnout“ einen Psychotherapeuten aufsucht und nach den ersten 20 Minuten die tatsächliche Diagnose gestellt werden kann: Depression.

Sollte man nun vielleicht doch diese Diagnose offiziell machen, damit mehr Leuten geholfen werden kann? Für diese Idee spricht zusätzlich, dass durch diese „Legitimierung“ eventuell langfristig die Arbeitswelt dahingehend unter Druck geraten könnte, ihre Arbeitsbedingungen zu verbessern – ein erfreulicher Trend, der seit einigen Jahren, gerade im Zuge des Mangels an Arbeitskräften deutlich zu beobachten ist. Es sprechen allerdings auch eine ganze Reihe von Faktoren dagegen. Es ist genauso gut möglich, dass „Burnout“, wenn die Diagnose einmal „offiziell“ ist, seinen Reiz als Stigma-freie Erkrankung verliert, weil die Menschen beginnen, sich in genau gleichem Ausmaß dafür zu schämen, sodass wir nichts gewonnen hätten. Zudem sollten sich die offiziellen Diagnosesysteme am Stand der wissenschaftlichen Forschung orientieren und sich nicht dem Druck der Öffentlichkeit beugen (Nach dem Motto: „Wir machen zur Diagnose, was der Volksmund für eine Diagnose hält“). Letztlich wäre dies auch keine wahre Maßnahme gegen die Stigmatisierung von Depression, sondern man würde eine relativ beliebige Zweiteilung („Burnout“/Depression) bestätigen, die schlichtweg nicht zutrifft. Viel wichtiger wäre oder ist es, die Bevölkerung mehr über den Begriff der Depression und ihre Ursachen aufzuklären.

Mein Fazit

Meiner Einschätzung nach trägt der Begriff „Burnout“ eher zu einem Etikettenschwindel bei und erweist der Depression als tatsächlicher Erkrankung in Sachen Entstigmatisierung einen ziemlichen Bärendienst. Für viel wichtiger als die Diskussion über „Burnout“ als anerkannte Krankheit halte ich es, über Depression als schwerwiegende, aber gut behandelbare Erkrankung aufzuklären und gleichzeitig Arbeitgeber dazu zu bewegen, nachhaltiger mit ihren „Human Resources“ umzugehen – was gegenwärtig passiert und in eine erfreuliche Richtung geht.

© Dr. Christian Rupp 2023

Gut zuhören statt gut zureden: Über Pseudo-Empathie und das Prinzip Validierung.

Wie es dazu kommt, dass Menschen, die ihre negativen Gefühle äußern, so schnell vor den Kopf gestoßen werden, und was Validierung daran ändern kann.

Es ist ein Phänomen, das mir nicht nur beruflich ständig begegnet, wenn ich in Einzel- und Gruppentherapiesitzungen zwischenmenschliche Problemsituationen auseinandernehme, sondern auch im privaten Alltag: Gut gemeinte, aber oft wenig hilfreiche Reaktionen auf Äußerungen von Menschen, die sich trauen, auf die Frage „Wie geht’s dir“ ehrlich zu sagen, dass es ihnen nicht gut (oder gar: schlecht) geht. Was typischerweise passiert, ist, dass das Gegenüber auf eine der folgenden Arten reagiert. Variante 1 möchte ich einmal das „Kleinreden“ nennen. Damit meine ich das, was das Gegenüber tut, wenn es Dinge entgegnet wie „Ach, das wird schon wieder“, „Jeder hat mal einen schlechten Tag“ oder „Du schaffst das schon“. Ich bin mir sicher, dass die meisten Menschen, die solche Dinge entgegnen, dies mit bester Absicht tun. Was man jedoch bedenken sollte, ist, dass alle genannten Äußerungen die Gemeinsamkeit haben, dass sie demjenigen, dem es schlecht geht, nicht signalisieren, dass man ihn mit seinem Befinden ernst nimmt – oder mit anderen Worten: Man spricht seinen Gefühlen damit keine Gültigkeit, keine Daseinsberechtigung zu. Ähnlich verhält es sich mit Variante 2, die ich als „Ungefragte Ratschläge“ bezeichnen würde. Hiermit meine ich die ebenso häufig zu beobachtende Tendenz, der Person, die einem offenbart hat, dass es ihr schlecht geht, irgendwelche Ratschläge oder Tipps zu geben, ohne dass diese überhaupt um diese gebeten hat. Äußerungen wie „Versuch mal Y, dann geht es dir schon wieder besser“ – oder sogar Vorwürfe wie „Tja, musst du dich bei deinem Lebenswandel ja auch nicht wundern, hab ich dir ja immer gesagt“ gehören in diese Rubrik. Dass Letztere der betroffenen Person nicht helfen, sondern vor allem die Unzufriedenheit und Genervtheit des Gegenübers zum Ausdruck bringen, muss ich wohl nicht erklären. Aber auch die nicht-vorwurfsvollen „Ratschläge“ können schnell nach hinten losgehen, denn erstens hat die betroffene Person, der es schlecht geht, ja gar nicht darum gebeten, und zweitens signalisieren auch diese auf der Beziehungsebene letztlich eine Missachtung der Gefühlslage.

Variante 3 ist eine, für die ich gerne die Bezeichnung „Pseudo-Empathie“ verwende. Damit meine ich Äußerungen des Gegenübers, die auf den ersten Blick so wirken, als würde man die Gefühle des Betroffenen wirklich nachempfinden, wie z. B. „Ja, das hatte ich auch mal – das ist bei dir bestimmt auch, weil du nicht genug raus gehst“ oder „Meine Schwester hatte das auch, die hatte die Trauer um Papa nicht verarbeitet – du hast ja dieses Jahr auch deine Mutter verloren“. In diese Kategorie fallen auch Verhaltensweisen wie das Beenden der Sätze des Betroffenen (weil man sich einbildet, man wisse, was die Person meint) oder suggestive Fragen wie „Du hast bestimmt auch den Lebensmut verloren, ne?“. Ich spreche deshalb von Pseudo-Empathie, weil das jeweilige Gegenüber sich hierbei nicht selten für hochgradig empathisch hält und es vordergründig auch so wirken kann, dies jedoch meist überhaupt nicht der Fall ist. Was Menschen in diesem Fall eigentlich tun, ist in der Regel, ihre eigenen persönlichen Erfahrungen auf die betroffene Person zu projizieren – getreu dem Motto: „Wenn es bei mir oder jemand anderem so war, ist es bei ihr bestimmt genauso“. Im Grunde sind diese Menschen in dem Moment also sehr ich-zentriert und mitnichten empathisch. Denn das würde bedeuten, wirklich offen für die Gefühle der anderen Person zu sein, sich selbst zurückzunehmen und besser gut zuzuhören anstatt gut zuzureden.

Doch warum machen Menschen so etwas? Nun, als Psychotherapeut habe ich hierzu Antworten auf mehreren Ebenen. Zum einen könnte man sagen, dass es daran liegt, dass es in der Schule kein Schulfach namens „sozial-emotionale Kompetenz“ gibt. Weil das so ist und weil wir es auch an anderer Stelle nicht wirklich beigebracht bekommen (außer vielleicht in einer guten Psychotherapie), sind wir meistens nicht besonders geübt darin, negative Emotionen (bei uns ebenso wie bei anderen Menschen) auszuhalten. Unterschwellig wird uns in der Regel ab dem Kindesalter vermittelt, dass man negative Gefühle „weg machen“ muss, und die Folge davon ist, dass wir sie bei anderen Menschen auch gerne „weg reden“ möchten, und zwar so schnell wie möglich. Und wie schon oben beschrieben, haben die allermeisten Menschen sicherlich eine sehr gute Absicht dabei und wollen dem Betroffenen wahrscheinlich tatsächlich helfen.

Doch was ist die Alternative? Sie besteht darin, das zu tun, was wir Psychotherapeuten „Validieren“ nennen. Hiermit gemeint ist im Kern, den Gefühlen unserer Mitmenschen, seien sie angenehm oder unangenehm (alle Gefühle gehören zum Leben dazu) Gültigkeit zuzusprechen, d. h. sie ernst zu nehmen, anzuerkennen und auszuhalten, ohne ungefragte Versuche der Lösung, Aufmunterung oder des „Wegmachens“ zu unternehmen. Es bedeutet, zu signalisieren, dass es okay ist, sich schlecht zu fühlen. Sagt eine Person, dass es ihr schlecht geht, könnte eine validierende Aussage des Gegenübers z. B. darin bestehen, einfach nur zu sagen „Ich verstehe. Das ist okay. Danke, dass du mir das erzählst“ und dann zu fragen, ob die Person mehr davon erzählen möchte. Und bevor man mit irgendeinem Ratschlag um die Ecke kommt, sollte man die Person besser fragen, was sie sich von einem wünscht („Sag mir ruhig, wie ich dir helfen kann: Brauchst du einen Ratschlag oder hilft es dir, wenn ich einfach nur zuhöre?“).

Möglicherweise liegt Ihnen das jetzt erst einmal quer im Magen, weil Sie denken, dass Sie die Person doch aus ihrem „Loch rausholen“ müssen und sie die negativen Gefühle nur verstärken. Ich kann Ihnen allerdings aus Überzeugung und Erfahrung sagen: Das Gegenteil ist der Fall. Validierung öffnet nicht nur oft die Tür zu einer Person, sondern reicht mitunter sogar aus, um die unangenehmen Gefühle besser zu verarbeiten. Was enorm verletzen kann, sind hingegen die Varianten 1 bis 3, denn sie stoßen die betroffene Person schnell vor den Kopf und vermitteln ihr das Gefühl, nicht okay zu sein. Validierung hilft also und ist gleichzeitig so einfach – vielleicht ein gutes Vorhaben für die bevorstehende besinnliche Zeit?

© Christian Rupp 2022

Über das Störungsbild ADHS – Teil 3: Welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es?

Wie hängen das bei ADHS oft verordnete Methylphenidat und Cannabis zusammen? Was ist Neurobiofeedback und was kann man psychotherapeutisch erreichen? Um diese Fragen geht es in diesem dritten und letzten Teil der Reihe.

Die Behandlung der ADHS geschieht in aller Regel vorrangig durch die Gabe von so genannten Stimulanzien. Die bekannteste Substanz heißt Methylphenidat, die noch bekannteren Handelsnamen der Medikamente mit diesem Wirkstoff hören auf die Namen Ritalin und Medikinet. Jener Wirkstoff setzt am erwiesenen Dopaminmangel bei ADHS an (siehe Teil 2) und bewirkt eine verstärkte Ausschüttung dieses Neurotransmitters. Bei ca. 70% der Kinder verschwinden oder bessern sich die Symptome dadurch, bei Erwachsenen (für die nur Medikinet als Medikament zugelassen ist) liegt die Rate derer, die auf das Medikament ansprechen, ca. 10% niedriger. Die Nebenwirkungen sind über Patient:innen hinweg sehr unterschiedlich. Manch eine:r merkt fast gar keine, andere fühlen sich hierdurch sediert oder, um es mit den Worten eines Patienten zu sagen, “als wäre das innere Feuer erloschen”. Positiv zu werten ist der Befund, dass, obwohl Methlyphenidat als Stimulanziensubstanz dem deutschen Betäubungsmittelgesetz unterliegt, die dauerhafte Einnahme nicht mit einem erhöhten Abhängigkeitsrisiko einhergeht. Dennoch sollte mit diesem Medikament nicht leichtfertig umgegangen werden, da Langzeiteffekte bisher noch weitgehend unbekannt sind. Eine präzise Diagnostik und ein verantwortungsbewusster Einsatz dieses Medikaments sind deshalb unerlässlich.

Cannabis, Methylphenidat und der Schwarzmarkt

Ein Thema, das insbesondere bei Erwachsenen nicht zu vernachlässigen ist, ist der unter diesen Patient:innen sehr weit verbreitete Konsum von Cannabis. Das rührt daher, dass Cannabis (bzw. die relevante Substanz mit dem Namen THC) eine sedierende, also beruhigende Wirkung besitzt. Daher (und weil Cannabis von allen illegalen Drogen noch am leichtesten zu bekommen ist) greifen viele Erwachsene mit ADHS dazu, um selbst ihre oft als quälend erlebte innere Unruhe zu bekämpfen – nicht zuletzt auch, weil Cannabis im Gegensatz zu Methylphenidat keine unmittelbaren Nebenwirkungen hat.

Während Cannabis bei Menschen mit ADHS genauso wirkt wie bei gesunden Menschen, ist das bei Methylphenidat anders. Ganz im Gegensatz zu z. B. Antidepressiva, die bei Gesunden keinerlei Veränderung bewirken, wirkt Methylphenidat bei Menschen ohne ADHS in der Regel stimulierend und vor allem aufmerksamkeits- und konzentrationsfördernd. Wegen dieser aufputschenden Wirkung ist der Wirkstoff als “Gehirndoping” unter Studierenden beliebt.

Die Tatsachen, dass einerseits Methylphenidat bei Menschen ohne ADHS eine derart attraktive Wirkung entfaltet und andererseits aber unter das Betäubungsmittelgesetzt fällt und verschreibungspflichtig ist, hat dazu geführt, dass sich ein florierender Schwarzmarkt entwickelt hat. So berichtete mir einmal ein Patient, er habe einst Ritalin verschrieben bekommen, sei aber dann doch wieder auf sein altbewährtes Cannabis umgestiegen, weil das nicht die “nervigen Nebenwirkungen” gehabt und er zudem auf dem Schwarzmarkt durch den Verkauf der Pillen mehr Geld verdient habe, als das Cannabis ihn gekostet habe.

Bei Erwachsenen mit ADHS gibt es übrigens, falls mit Methylphenidat keine zufriedenstellende Wirkung erzielt werden kann, mit Atomoxetin (einem Nordadrenalin-Wiederaufnahmehemmer) und Bupropion (einem Noradrenalin- und Dopamin-Wiederaufnahmehemmer) noch zwei medikamentöse Alternativen.

Psychotherapie

Psychotherapeutische Behandlungsformen haben sich in Bezug auf die ADHS bei Kindern zusätzlich zu medikamentöser Behandlung als erfolgreich erwiesen. Hierbei scheinen besonders verhaltenstherapeutische Elterntrainings hilfreich zu sein, die darauf abzielen, das Verhalten unter den Familienmitgliedern dahin zu verbessern, dass für das betroffene Kind ein von Struktur und festen Regeln geprägter Alltag hergestellt wird. Denn auch, wenn das Verhalten der Eltern nicht als ursächlich im Hinblick auf die ADHS anzusehen ist, so kann es die Symptome dennoch verstärken, weshalb eine Verbesserung dessen auch positive Auswirkungen auf das Befinden des betroffenen Kindes haben kann. Zudem wird verhaltenstherapeutisch natürlich eine Verringerung des impulsiven und oft aggressiven Verhaltens angestrebt, wofür bei Kindern oftmals Belohnungssysteme eingesetzt werden. Weitere Inhalte sind außerdem Selbstmanagement- und Selbstinstruktionstrainings, um der starken Ablenkbarkeit entgegen zu wirken.

Bei erwachsenen Patient:innen sind typische Therapieinhalte neben Selbst- und Stressmanagementstrategien und Organisationstechniken auch ein Training der Emotionsregulation (im Hinblick auf die affektive Labilität, z. B. mittels so genannter „Skills“) sowie das Eindämmen von Substanzmissbrauch (meistens bezüglich Cannabis) und natürlich der Aufbau eines besseren Selbstwertgefühls (man erinnere sich an die in Teil 1 beschriebenen typischen Biographien der Betroffenen).

Neurobiofeedback

Unter diesem futuristisch anmutenden Begriff verbirgt sich eine weitere vielversprechende Behandlungsform bei ADHS. Das Prinzip ist das folgende: Der Patient wird über ein EEG an einen Computer angeschlossen, der die EEG-Wellen daraufhin untersucht, ob der Bewusstseinszustand des Patienten gerade eher konzentriert oder unkonzentriert ist. Dies wird dem Patienten am Bildschirm in Form einer Animation (z. B. eines hängenden Dreiecks) zurückgemeldet, die sich z. B. umso weiter nach oben bewegt, je konzentrierter der Patient ist. Dann erhält der Patient die Instruktion, das Dreieck nach oben zu bewegen und auszuprobieren, was er hierfür tun muss. In der Folge wird der Patient für einen konzentrierten Bewusstseinszustand durch die Veränderung der Animation belohnt, sodass eine unbewusste operante Konditionierung stattfindet und der Patient schlussendlich Wege erlernt, selbst einen aufmerksameren Bewusstseinszustand zu erreichen. Klingt nach science fiction, ist aber inzwischen Alltag in (guten) neurologischen Klinikabteilungen.

Fazit: Was man sich merken sollte

ADHS ist keine Erfindung der modernen Psychiatrie, sondern eine Störung, die mit starken Einschränkungen im Leben der Betroffenen einhergeht. Sie betrifft rund 3 % der Schulkinder und 1 % der Erwachsenen. Die Ursache liegt sehr wahrscheinlich in ungünstigen Genvarianten, die zu spezifischen strukturellen Veränderungen im Gehirn der Betroffenen führen. Kern dieser Störung ist dabei wahrscheinlich eine gestörte Inhibitionsfähigkeit, die vor allem mit dem Dopamin-System des Gehirns in Verbindung gebracht wird. Betroffene zeigen im Vergleich zu gesunden Personen mit neurowissenschaftlichen Methoden nachweisbare Auffälligkeiten in bestimmten Hirnarealen. ADHS ist durch medikamentöse Therapie und zusätzliche Psychotherapie ziemlich erfolgreich behandelbar, der Einfluss des Elternverhaltens spielt bei kindlicher ADHS allerdings eine bedeutsame Rolle für den weiteren Verlauf der Störung.

© Christian Rupp 2022

Über das Störungsbild ADHS – Teil 2: Wo liegen die Ursachen?

Liegen die Ursachen der ADHS tatsächlich im Verhalten der Eltern – oder hat es vielmehr etwas mit Genetik und Biologie zu tun, dass die Betroffenen mit bestimmten Dingen so schnell überfordert sind? In diesem Teil widme ich mich der Aufklärung genau dieser Fragen.

In diesem Teil soll es, nachdem ich in Teil 1 die Symptome und die Diagnostik von ADHS im Kindes- und Erwachsenenalter beschrieben habe, um die Ursachen der ADHS gehen.

Ursachen

Das Wichtigste vorweg: Bei der ADHS überwiegen, wie auch z. B. beim Autismus, genetische und biologische Ursachen – im Gegensatz zu der oft von leider nicht gut informierten oder ideologisch angetriebenen Menschen vertretenen These, das Verhalten „moderner Eltern“ sei daran schuld (wenn sie nicht gerade in Ermangelung jeglicher Fachkenntnis behaupten, ADHS sei kompletter Unsinn). Nun zurück zur Ernsthaftigkeit. Die Rolle der Genetik wurde schon in den 1990er Jahren anhand von Zwillings- und Adoptionsstudien deutlich, die zeigten, dass voneinander getrennt aufgewachsene eineiige Zwillingspaare in 55-92% bezüglich der Diagnose ADHS übereinstimmten. Das heißt: Hatte Zwilling A ADHS, so hatte Zwilling B in 55-92% der Fälle auch ADHS. Zum Vergleich: Spielte die Genetik keine Rolle, sollte diese Prozentzahl der Häufigkeit in der Bevölkerung entsprechen, also unter 5% liegen.

Es ist schwer, die vielen Studien, Überblicksartikel und Metaanalysen, die sich mit den Ursachen der ADHS befassen, prägnant zusammenzufassen, aber ich werde es dennoch versuchen. Die ADHS wird auf Basis wissenschaftlicher Befunde heutzutage weitestgehend als Inhibitionsdefizit in der Informationsverarbeitung angesehen. Inhibition („Hemmung“) ist unsere Fähigkeit, auf uns einströmende, aber nicht relevante Reize (= Informationen) aus der Umwelt zu unterdrücken. Dies bezeichnet konkret die Fähigkeit unseres Gehirns, die Aufmerksamkeit weiterhin auf einen relevanten Reiz (z. B. eine Matheaufgabe) fokussiert zu halten, auch wenn ein hervorstechender Reiz (z. B. quietschende Reifen) durch unsere Sinnesorgane Eingang in unser Gehirn finden. Bei intakter Inhibition gelingt es dem Gehirn meistens, die weitere Verarbeitung eines solchen Geräuschs so früh zu unterdrücken, dass dieses gar nicht oder nur teilweise unser Bewusstsein erreicht. Menschen mit ADHS haben genau damit Schwierigkeiten: Der Fokus der Aufmerksamkeit wird leicht woanders hingelenkt. Die Inhibitions-Perspektive bietet auch den Vorteil, dass damit das begriffliche Paradoxon umgangen wird, welches darin besteht, dass die Aufmerksamkeitsleistung an sich, die sich mit zahlreichen psychologischen Testverfahren überprüfen lässt, bei Menschen mit ADHS gar nicht oder nur wenig beeinträchtigt ist. Es ist in der Tat viel mehr die mangelnde Inhibition, die erst dann sichtbar wird, wenn die Betroffenen mit verschiedenen Reizen konfrontiert werden, von denen aber einige irrelevant sind.

Diejenigen Wissenschaftler:innen, die die Ansicht vertreten, dass die ADHS ein einheitliches Störungsbild darstellt und nicht eigentlich zwei unterschiedliche Störungen (nämlich die Aufmerksamkeitsstörung und die Hyperaktivität) fälschlicherweise zusammenfasst, erklären auch die Hyperaktivität durch ein Defizit bezüglich der Unterdrückung von impulsiven Handlungsweisen. Wie damit angedeutet, gibt es aber auch die Verfechter der Ansicht, dass diese beiden Symptomgruppen zwei unterschiedliche Störungen darstellen. Schlussendlich kann diese Frage auf dem derzeitigen Stand der Wissenschaft nicht beantwortet werden.

Neurobiologisch betrachtet

Die Ursachenforschung zur ADHS ist größtenteils neurobiologischer und genetischer Natur. Dabei geht man in der Regel so vor, dass man sich anschaut, welche Gene oder Genvarianten („Allele“) besonders häufig bei Personen mit ADHS vorkommen, und betrachtet dann, welche Auswirkungen genau diese Gene auf die Beschaffenheit unseres Gehirns haben. Diese Art der Forschung erbrachte diverse so genannte „Kandidatengene“, d. h. solche, die in Zusammenhang mit ADHS gebracht werden. Viele dieser Gene enthalten die Baupläne für Transmitterezeptoren, d. h. Moleküle, an die in unserem Nervensystem Neurotransmitter (auch genannt Botenstoffe) andocken und die somit maßgeblich an der Weiterleitung von Nervensignalen beteiligt sind. Besonders heiß diskutiert werden Rezeptoren für die Neurotransmitter Dopamin und Noradrenalin. Diese spielen besonders im vorderen Teil unseres Gehirns eine Rolle, wo der Sitz der „exekutiven Kontrolle“ vermutet wird, d. h. ein Aufmerksamkeitssystem, das kontrolliert, was wir tun und denken – und was nicht. Diesem System werden auch Inhibitionsfunktionen zugesprochen, sodass sich im Zusammenhang mit den beschriebenen Befunden ein recht rundes Bild ergibt: Eine bestimmte Genvariante erzeugt ungünstig beschaffene Dopaminrezeptoren in bestimmten für Inhibition relevanten Gehirnarealen, wodurch ein Dopaminmangel entsteht, der zu einer Unteraktivierung dieser Areale führt – und das Ergebnis heißt ADHS.

Leider ist dies nicht ganz so eindeutig, wie man es gern hätte, da viele wissenschaftliche Befunde im Widerspruch zueinander stehen und noch viele Zusammenhänge ungeklärt sind. Dass jene Gehirnareale aber tatsächlich bei Menschen mit ADHS gewisse Abweichungen im Vergleich zu gesunden Kontrollpersonen aufweisen, konnte in vielen Studien gezeigt werden. MRT-Studien zeigten beispielsweise eine geringere Masse in frontalen Gehirnarealen, und fMRT-, MEG- und solche Studien, die so genannte ereignisevozierte Potenziale untersuchten (dafür benutzt man ein EEG), erbrachten neurowissenschaftliche Befunde, die eine gestörte, d. h. ineffiziente Informationsverarbeitung belegen, z. B. anhand einer zu geringen Aktivierung in verschiedenen Gehirnarealen.

Doch was bedeutet all dies nun für die Behandlung der ADHS? Darum wird es in Teil 3 gehen.

© Dr. Christian Rupp 2022

Über das Störungsbild ADHS – Teil 1: Symptome bei Kindern und Erwachsenen im Vergleich

Über die Symptome von ADHS bei Kindern existieren bereits viele Fehlannahmen – die Erscheinungsform bei Erwachsenen ist hingegen weitgehend unbekannt.

Die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (kurz ADHS) gehört wohl zu den in der Öffentlichkeit am wenigsten ernst genommenen psychischen Störungen. Da ich mich seit meiner Bachelorarbeit vor 10 Jahren viel theoretisch mit dem Thema auseinandergesetzt habe und seit Jahren immer wieder erwachsene Patient:innen mit ADHS behandle, ist es mir nun ein besonderes Anliegen, über diese so oft missverstandene Störung zu berichten.

Symptome

Wie der Name bereits suggeriert, sind die Kennzeichen der ADHS zum einen eine Aufmerksamkeitsstörung und zum anderen ein Muster aus Hyperaktivität und Impulsivität. Nicht alle drei Bereiche müssen immer zusammen auftreten, weshalb im Volksmund in der Vergangenheit auch teils von „ADS“ (Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität und Impulsivität) die Rede war. Heutzutage nimmt man hier diagnostisch keine so klare Trennung mehr vor, sondern spricht nur noch von verschiedenen „Erscheinungsformen“ der ADHS.

Doch was kann man sich nun konkret unter diesen Begriffen vorstellen? „Aufmerksamkeitsstörung“ meint vor allem das vorzeitige Abbrechen von Aufgaben, die einem von anderen Personen gestellten wurden, hohe Ablenkbarkeit und das Nicht-Beenden von Aufgaben. „Impulsivität“ meint derweil eine Unkontrolliertheit im Bereich der Gedanken, der Gefühle und des eigentlichen Handelns. Die „Hyperaktivität“ hingegen bezieht sich ausschließlich auf die Motorik, die durch Ruhelosigkeit, überschießende Energie und übermäßige Aktivität gekennzeichnet ist.

Schwierig zu diagnostizieren

Wie wird ADHS nun diagnostiziert? In der Tat wird diese Diagnose tragischer Weise oft viel zu schnell und nur nach mangelnder Diagnostik gestellt. Um die Diagnose verlässlich zu stellen, bedarf es intensiver Verhaltensbeobachtung durch psychologisches oder psychiatrisches Fachpersonal sowie durch Eltern und Lehrer:innen. Außerdem erfordert sie ausgiebige psychologische Testdiagnostik (Tests zu allgemeinen kognitiven Fähigkeiten sowie zur Aufmerksamkeit und Konzentration). Darüber hinaus muss ausgeschlossen sein, dass das Verhalten des Kindes auf sonstige, z. B. schulische Probleme oder Probleme im sozialen Umfeld, zurückzuführen ist. Da die Diagnostik so aufwändig ist, wird die Diagnose „ADHS“ leider noch zu oft ungerechtfertigt und verfrüht gestellt, wodurch nicht selten der Eindruck entsteht, jedes Kind, das einmal “rumzappelt” und mit den Gedanken abschweift, leide unter ADHS.

Die meisten wissenschaftlichen Studien berichten eine Häufigkeit von 2-5 % unter Schulkindern. Das heißt, durchschnittlich ist ein Kind in jeder Grundschulklasse betroffen. Jungen sind den meisten Schätzungen zufolge neunmal häufiger betroffen als Mädchen.

ADHS im Erwachsenenalter

Was kaum jemand weiß, ist, dass ADHS in einer großen Zahl der Fälle auch im Erwachsenenalter fortbesteht (einigen Schätzungen zufolge betrifft dies ca. ein Drittel). Allerdings ist die „erwachsene“ ADHS weniger durch nach außen hin sichtbare Hyperaktivität gekennzeichnet, da diese sich im Erwachsenenalter typischerweise zu einer ausgeprägten inneren Unruhe wandelt, die für die Betroffenen jedoch in der Regel kaum weniger qualvoll ist. Viele Betroffene berichten auch von einem dauerhaften Gefühl des “Getriebenseins” und der Unfähigkeit, zu entspannen. Da die Erwachsenenform der ADHS sich in vielen Aspekten von der kindlichen Variante unterscheidet, wurden hierfür eigene Diagnosekriterien, die sogenannten Wender-Utah-Kriterien, formuliert. Diese umfassen neben weiterhin bestehenden Aufmerksamkeitsproblemen vor allem emotionale Auffälligkeiten, d. h. eine affektive Labilität (was bedeutet, dass die Stimmung durch kleinste Auslöser schnell ins Gegenteil umschlagen kann und die Stimmung im Stunden- bis Tagesrhythmus zwischen neutral und niedergeschlagen schwanken kann), ein leicht reizbares Temperament mit schnell hochkochenden Wutreaktionen und geringer Frustrationstoleranz („kurze Zündschnur“), eine geringe Stresstoleranz gepaart mit einer schnellen Überforderung durch viele Sinneseindrücke und Anforderungen („Reizüberflutung“) sowie Desorganisiertheit und Impulsivität im Verhalten. Letzteres bedeutet vor allem Probleme bei der zielgerichteten und geplanten Umsetzung von Handlungen, was bis hin zu delinquentem Verhalten oder Suchtmittelkonsum führen kann und die Betroffenen nicht selten in eine völlig chaotische Lebenssituation stürzt. 

Hinsichtlich der Symptome überlappt die erwachsene Form der ADHS tatsächlich ziemlich stark mit der emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung, sowohl dem Borderline-Typ als auch dem impulsiven Typ. Tatsächlich kann man die Störungsbilder jedoch anhand einiger trennscharfer Merkmale unterscheiden: Bei beiden Formen der emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung findet sich im Gegensatz zur erwachsenen Form der ADHS keine Aufmerksamkeitsproblematik, und zumindest beim Borderline-Typ besteht oft eine ausgeprägte Beziehungsstörung mit Ambivalenz und Angst vor dem Verlassenwerden („Ich hasse dich, verlass mich nicht“), die bei der ADHS eher untypisch ist.

Tatsächlich zeigt auch meine persönliche Erfahrung als Behandler, dass Erwachsene mit ADHS erstaunliche Parallelen in ihren Lebensläufen aufweisen. Das liegt daran, dass fast alle Betroffenen als Kind, insbesondere in der Schule, die gleichen Abwertungs- und Ausgrenzungserfahrungen gemacht haben, denn sie gelten aufgrund ihrer Schwierigkeiten natürlich schnell als entweder „dumm“ oder „faul“ sowie als aggressive „Störenfriede“, die mit der Zeit immer mehr soziale Ausgrenzung erfahren. Dies zementiert natürlich tiefgreifende negative Annahmen, die diese Personen über sich selbst hegen, wie z. B. „Ich bin wertlos“, „Ich bin abstoßend“ oder „Ich bin unfähig, etwas zu erreichen“ – was nicht selten die Weichen für das spätere Erkranken an Depressionen stellt. Aufgrund der Schwierigkeiten der Kinder sind Eltern meist überfordert, es kommt zu vielen Konflikten in der Familie, und zu häufig rutschen die Betroffenen, gerade wenn sie in einem wenig unterstützenden Elternhaus aufwachsen, entweder in eine Drogensucht (was weitere Gründe hat, siehe Teil 3), in die Kriminalität oder in beides. Wir haben es hier also mit einer schwerwiegenden Erkrankung zu tun, die unbehandelt schnell zu einer kaum aufzuhaltenden Abwärtsspirale führt. Daher werden die folgenden beiden Teile davon handeln, was die Ursachen der ADHS sind (Teil 2) und von welcher Behandlung die Betroffenen profitieren können (Teil 3).

© Dr. Christian Rupp 2022