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Das „Burnout-Syndrom”: Erfundene Diagnose oder echte Krankheit? (Update aus 2023)

Das „Burnout-Syndrom“ oder kurz „Burnout“ ist in aller Munde und aus dem alltäglichen Sprachgebrauch nicht wegzudenken. Doch worum handelt es sich dabei? Gerade wenn man bedenkt, wie oft Menschen berichten, sie seien wegen „Burnout“ krankgeschrieben, erscheint es mir wichtig, mit dem bedeutenden Hinweis einzusteigen, dass entgegen dem landläufigen Eindruck „Burnout“ nach wie vor kein offiziell diagnostizierbares Störungs- bzw. Krankheitsbild ist und somit auch nicht als Diagnose gestellt werden kann. In der 5. Auflage des Diagnostischen und Statistischen Manuals Psychischer Störungen (DSM-5) existiert die Diagnose ebenso wie in den vorherigen Auflagen nicht, und in der von der WHO herausgegebenen und für das deutsche Gesundheitssystem verbindlichen Internationalen Klassifikation von Krankheiten taucht „Burnout“ in der neusten Version (ICD-11) und in der Vorgängerversion (ICD-10, bis heute im Gebrauch) jeweils nicht als Diagnose auf, die eine Behandlung begründen kann, sondern wird in beiden Fällen weiterhin nur im Kapitel „Faktoren, die den Gesundheitszustand beeinflussen“ gelistet – quasi als „Nebenfaktor“ (ICD-10-Code: Z73), aber nicht als Diagnose, die eine Behandlung oder eine Krankschreibung begründen könnte. Auf letzterer findet sich als tatsächliche Diagnose, obwohl dem Patienten nicht selten mündlich „Burnout“ mitgeteilt wird, übrigens oft entweder die Diagnose einer depressiven Episode (ICD-10-Code: F32) oder aber die (Verlegenheits-)Diagnose der so genannten Neurasthenie (ICD-10-Code: F48.0), die letztlich auf ziemlich schwammige Weise einen umfassenden Erschöpfungszustand beschreibt, wobei ironischerweise in der ICD-10 beschrieben wird, dass Neurasthenie und das „Burnout-Syndrom“ (Z73) sich gegenseitig ausschließen. Oft habe ich übrigens auch schon gesehen, dass auf einer Krankschreibung Neurasthenie und eine depressive Episode standen. Das ist, wenn man dem Patienten gegenüber von „Burnout“ spricht, nicht nur Etikettenschwindel, sondern auch inhaltlich unsinnig, da die beiden Diagnosen sich gegenseitig ausschließen: Man kann nicht beides haben.

Und trotz dieser Faktenlage ist „Burnout“ inzwischen ein etablierter Begriff im Gesundheitssystem – Anlass genug, einmal zu schauen, wo die Wurzeln dieses Begriffs liegen und was er uns trotz der gegen ihn sprechenden Sachlage bringen könnte.

Die Geschichte des Begriffs

Während der Begriff „Burnout“ („Ausgebranntsein“) heute eher mit der profit- und leistungsorientierten Gesellschaft in Verbindung gebracht wird, bezeichnete er in den 70er Jahren ursprünglich vielmehr den Zustand der Erschöpfung, Ernüchterung und Resignation unter Angehörigen von Berufsgruppen, die sich als an ihren hohen ideellen (nicht materiellen) Zielen gescheitert sahen, z. B. Sozialarbeiter, Pflegekräfte oder Ärztinnen.
Heute hingegen werden Leute, die an „Burnout“ leiden, tendenziell eher als Opfer der Konsum- und Leistungsgesellschaft angesehen, und „Burnout“ selbst hat vielerorts in der Gesellschaft den Status eines „Verwundetenabzeichens“ erhalten: Die Symptomatik ist gesellschaftlich verzeihbar geworden, denn schließlich hat man der Leistungsgesellschaft gedient und sich „kaputt gearbeitet“.

Die vermeintliche Ursache: Stress am Arbeitsplatz

Zweifelsohne: Die Arbeitswelt hat sich verändert. Sie ist schnelllebiger geworden und setzt auf optimierte Kommunikation und permanente Erreichbarkeit. Vor allem E-Mails stellen einen permanenten Stressor dar, der den Arbeitsfluss erheblich behindert. Einer Studie zufolge kann eine deutsche Führungskraft nur durchschnittlich 11 Minuten ununterbrochen arbeiten, bevor eine neue E-Mail reinkommt, das Telefon klingelt, ein Messenger quakt oder es an der Tür klopft. Der Leistungsdruck ist in der Arbeitswelt allgegenwärtig: Der Anteil der Arbeitnehmer, die sich laut der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin in ihrem Job überfordert fühlen, stieg in den letzten zwei Jahrzehnten deutlich an, und die Folgen dessen sind ziemlich eindeutig.

Was Stress mit unserem Gehirn macht

Dauerhafter Stress führt zur übermäßigen Ausschüttung von Cortisol, einem so genannten Stresshormon. Dieses bewirkt, dass der Präfrontale Cortex (stark beteiligt an wichtigen kognitiven Funktionen wie Entscheiden und logischem Denken) und der Hippocampus (wichtige Funktion für das Gedächtnis und Geburtsstätte neuronaler Stammzellen) ihre Aktivität reduzieren und messbar an Volumen verlieren, während die Amygdala (das Angstzentrum) stärker aktiv wird. Das Ergebnis dieser Prozesse ist das, was man in der klinischen Psychologie und Psychiatrie schon lange kennt – allerdings nicht als „Burnout“, sondern schlichtweg als Depression.

„Burnout“ vs. Depression

Fakt ist: Symptomatisch ist das „Burnout-Syndrom“ so gut wie gar nicht von der Depression zu unterscheiden. In beiden Fällen sind die Leitsymptome gedrückte Stimmung, Freudlosigkeit, Erschöpfung, Konzentrationsschwäche und verminderte Leistungsfähigkeit (siehe auch mein Artikel zum Thema Depression). Wissenschaftlich ist eine Trennung der beiden Konzepte nicht haltbar.

Wenn man Depression und „Burnout“ nicht anhand der Symptome unterscheiden kann, dann vielleicht anhand der Ursache? Bei „Burnout“ hat es schließlich den Anschein, als wäre der übermäßige Stress die alleinige Ursache. Eigentlich ist es aber nicht der Stress selbst, sondern der Umgang der Person damit, der krank macht. Außerdem gilt wie bei Depression: Stress löst im Allgemeinen nur in Kombination mit bereits bestehender Vorbelastung eine psychische Störung aus. Auch hier möchte ich auf meinen Artikel zu Depression und das dort dargestellte “Vulnerabilitäts-Stress-Modell” verweisen. Dort findet sich eine Aufzählung sämtlicher Faktoren, die in diese Vorbelastung („Vulnerabilität“) eingehen. Insgesamt kann man sich aber merken: Dass von zwei Personen, die objektiv gesehen gleich viel Stress am Arbeitsplatz haben, nur eine eine Depression (oder einen vermeintlichen „Burnout“) entwickelt, erklärt sich dadurch, dass die beiden Personen unterschiedlich stark vorbelastet sind. Dies soll aber ganz ausdrücklich nicht bedeuten, dass der Stress am Arbeitsplatz keine Rolle spielt: Dass dieser in der Vergangenheit zugenommen hat, ist relativ unstrittig und zu großen Teilen in der Veränderung der Arbeitskultur zu sehen, in der wir jedoch ganz aktuell erfreuliche Entwicklungen einer Gegenbewegung sehen (mehr Flexibilität bei Teilzeitarbeit, Vier-Tage-Woche, weniger Pendeln dank Home Office, etc.).

Die Chance, die uns trotz allem der neue Begriff bietet

Depression ist eine schwerwiegende Erkrankung, die mit erheblichen Beeinträchtigungen im Leben einhergeht und leider auch viel zu häufig im Suizid endet. In jedem Augenblick leidet rund einer von 20 Menschen an einer Depression (die so genannte „Punktprävalenz“). Das Risiko, in seinem Leben jemals an Depression zu erkranken, kann mit ca. 10-15 % beziffert werden. Es ist also alles andere als ein seltenes Störungsbild.
Das Problem liegt darin, dass die wenigsten Patienten eine Behandlung erhalten, weil auf dieser Erkrankung ein so großes Stigma liegt. Die Menschen schämen sich, denken, sie seien selbst schuld an ihrer Erkrankung, und gehen nicht zum Arzt. Warum? Weil diese Gerüchte in der Gesellschaft fest verankert sind: Wer an Depression leidet, muss eine schwache Persönlichkeit haben, sollte sich einfach mal aufraffen und sich nicht so anstellen. Studien zufolge begeben sich aufgrund dessen nur rund 60 % der an Depression Erkrankten in Behandlung. Das ist viel zu wenig. Mal abgesehen davon, dass dann nur ein Bruchteil von ihnen angemessen behandelt wird, aber das ist ein anderes Thema.

Das Interessante ist nun, dass die Verbreitung des weniger stigmatisierenden Begriffs „Burnout“ dazu zu führen scheint, dass Menschen sich ihre Probleme eher eingestehen und Hilfe aufsuchen. Immer häufiger kommt es vor, dass jemand mit dem Anliegen namens „Burnout“ einen Psychotherapeuten aufsucht und nach den ersten 20 Minuten die tatsächliche Diagnose gestellt werden kann: Depression.

Sollte man nun vielleicht doch diese Diagnose offiziell machen, damit mehr Leuten geholfen werden kann? Für diese Idee spricht zusätzlich, dass durch diese „Legitimierung“ eventuell langfristig die Arbeitswelt dahingehend unter Druck geraten könnte, ihre Arbeitsbedingungen zu verbessern – ein erfreulicher Trend, der seit einigen Jahren, gerade im Zuge des Mangels an Arbeitskräften deutlich zu beobachten ist. Es sprechen allerdings auch eine ganze Reihe von Faktoren dagegen. Es ist genauso gut möglich, dass „Burnout“, wenn die Diagnose einmal „offiziell“ ist, seinen Reiz als Stigma-freie Erkrankung verliert, weil die Menschen beginnen, sich in genau gleichem Ausmaß dafür zu schämen, sodass wir nichts gewonnen hätten. Zudem sollten sich die offiziellen Diagnosesysteme am Stand der wissenschaftlichen Forschung orientieren und sich nicht dem Druck der Öffentlichkeit beugen (Nach dem Motto: „Wir machen zur Diagnose, was der Volksmund für eine Diagnose hält“). Letztlich wäre dies auch keine wahre Maßnahme gegen die Stigmatisierung von Depression, sondern man würde eine relativ beliebige Zweiteilung („Burnout“/Depression) bestätigen, die schlichtweg nicht zutrifft. Viel wichtiger wäre oder ist es, die Bevölkerung mehr über den Begriff der Depression und ihre Ursachen aufzuklären.

Mein Fazit

Meiner Einschätzung nach trägt der Begriff „Burnout“ eher zu einem Etikettenschwindel bei und erweist der Depression als tatsächlicher Erkrankung in Sachen Entstigmatisierung einen ziemlichen Bärendienst. Für viel wichtiger als die Diskussion über „Burnout“ als anerkannte Krankheit halte ich es, über Depression als schwerwiegende, aber gut behandelbare Erkrankung aufzuklären und gleichzeitig Arbeitgeber dazu zu bewegen, nachhaltiger mit ihren „Human Resources“ umzugehen – was gegenwärtig passiert und in eine erfreuliche Richtung geht.

© Dr. Christian Rupp 2023

Gut zuhören statt gut zureden: Über Pseudo-Empathie und das Prinzip Validierung.

Wie es dazu kommt, dass Menschen, die ihre negativen Gefühle äußern, so schnell vor den Kopf gestoßen werden, und was Validierung daran ändern kann.

Es ist ein Phänomen, das mir nicht nur beruflich ständig begegnet, wenn ich in Einzel- und Gruppentherapiesitzungen zwischenmenschliche Problemsituationen auseinandernehme, sondern auch im privaten Alltag: Gut gemeinte, aber oft wenig hilfreiche Reaktionen auf Äußerungen von Menschen, die sich trauen, auf die Frage „Wie geht’s dir“ ehrlich zu sagen, dass es ihnen nicht gut (oder gar: schlecht) geht. Was typischerweise passiert, ist, dass das Gegenüber auf eine der folgenden Arten reagiert. Variante 1 möchte ich einmal das „Kleinreden“ nennen. Damit meine ich das, was das Gegenüber tut, wenn es Dinge entgegnet wie „Ach, das wird schon wieder“, „Jeder hat mal einen schlechten Tag“ oder „Du schaffst das schon“. Ich bin mir sicher, dass die meisten Menschen, die solche Dinge entgegnen, dies mit bester Absicht tun. Was man jedoch bedenken sollte, ist, dass alle genannten Äußerungen die Gemeinsamkeit haben, dass sie demjenigen, dem es schlecht geht, nicht signalisieren, dass man ihn mit seinem Befinden ernst nimmt – oder mit anderen Worten: Man spricht seinen Gefühlen damit keine Gültigkeit, keine Daseinsberechtigung zu. Ähnlich verhält es sich mit Variante 2, die ich als „Ungefragte Ratschläge“ bezeichnen würde. Hiermit meine ich die ebenso häufig zu beobachtende Tendenz, der Person, die einem offenbart hat, dass es ihr schlecht geht, irgendwelche Ratschläge oder Tipps zu geben, ohne dass diese überhaupt um diese gebeten hat. Äußerungen wie „Versuch mal Y, dann geht es dir schon wieder besser“ – oder sogar Vorwürfe wie „Tja, musst du dich bei deinem Lebenswandel ja auch nicht wundern, hab ich dir ja immer gesagt“ gehören in diese Rubrik. Dass Letztere der betroffenen Person nicht helfen, sondern vor allem die Unzufriedenheit und Genervtheit des Gegenübers zum Ausdruck bringen, muss ich wohl nicht erklären. Aber auch die nicht-vorwurfsvollen „Ratschläge“ können schnell nach hinten losgehen, denn erstens hat die betroffene Person, der es schlecht geht, ja gar nicht darum gebeten, und zweitens signalisieren auch diese auf der Beziehungsebene letztlich eine Missachtung der Gefühlslage.

Variante 3 ist eine, für die ich gerne die Bezeichnung „Pseudo-Empathie“ verwende. Damit meine ich Äußerungen des Gegenübers, die auf den ersten Blick so wirken, als würde man die Gefühle des Betroffenen wirklich nachempfinden, wie z. B. „Ja, das hatte ich auch mal – das ist bei dir bestimmt auch, weil du nicht genug raus gehst“ oder „Meine Schwester hatte das auch, die hatte die Trauer um Papa nicht verarbeitet – du hast ja dieses Jahr auch deine Mutter verloren“. In diese Kategorie fallen auch Verhaltensweisen wie das Beenden der Sätze des Betroffenen (weil man sich einbildet, man wisse, was die Person meint) oder suggestive Fragen wie „Du hast bestimmt auch den Lebensmut verloren, ne?“. Ich spreche deshalb von Pseudo-Empathie, weil das jeweilige Gegenüber sich hierbei nicht selten für hochgradig empathisch hält und es vordergründig auch so wirken kann, dies jedoch meist überhaupt nicht der Fall ist. Was Menschen in diesem Fall eigentlich tun, ist in der Regel, ihre eigenen persönlichen Erfahrungen auf die betroffene Person zu projizieren – getreu dem Motto: „Wenn es bei mir oder jemand anderem so war, ist es bei ihr bestimmt genauso“. Im Grunde sind diese Menschen in dem Moment also sehr ich-zentriert und mitnichten empathisch. Denn das würde bedeuten, wirklich offen für die Gefühle der anderen Person zu sein, sich selbst zurückzunehmen und besser gut zuzuhören anstatt gut zuzureden.

Doch warum machen Menschen so etwas? Nun, als Psychotherapeut habe ich hierzu Antworten auf mehreren Ebenen. Zum einen könnte man sagen, dass es daran liegt, dass es in der Schule kein Schulfach namens „sozial-emotionale Kompetenz“ gibt. Weil das so ist und weil wir es auch an anderer Stelle nicht wirklich beigebracht bekommen (außer vielleicht in einer guten Psychotherapie), sind wir meistens nicht besonders geübt darin, negative Emotionen (bei uns ebenso wie bei anderen Menschen) auszuhalten. Unterschwellig wird uns in der Regel ab dem Kindesalter vermittelt, dass man negative Gefühle „weg machen“ muss, und die Folge davon ist, dass wir sie bei anderen Menschen auch gerne „weg reden“ möchten, und zwar so schnell wie möglich. Und wie schon oben beschrieben, haben die allermeisten Menschen sicherlich eine sehr gute Absicht dabei und wollen dem Betroffenen wahrscheinlich tatsächlich helfen.

Doch was ist die Alternative? Sie besteht darin, das zu tun, was wir Psychotherapeuten „Validieren“ nennen. Hiermit gemeint ist im Kern, den Gefühlen unserer Mitmenschen, seien sie angenehm oder unangenehm (alle Gefühle gehören zum Leben dazu) Gültigkeit zuzusprechen, d. h. sie ernst zu nehmen, anzuerkennen und auszuhalten, ohne ungefragte Versuche der Lösung, Aufmunterung oder des „Wegmachens“ zu unternehmen. Es bedeutet, zu signalisieren, dass es okay ist, sich schlecht zu fühlen. Sagt eine Person, dass es ihr schlecht geht, könnte eine validierende Aussage des Gegenübers z. B. darin bestehen, einfach nur zu sagen „Ich verstehe. Das ist okay. Danke, dass du mir das erzählst“ und dann zu fragen, ob die Person mehr davon erzählen möchte. Und bevor man mit irgendeinem Ratschlag um die Ecke kommt, sollte man die Person besser fragen, was sie sich von einem wünscht („Sag mir ruhig, wie ich dir helfen kann: Brauchst du einen Ratschlag oder hilft es dir, wenn ich einfach nur zuhöre?“).

Möglicherweise liegt Ihnen das jetzt erst einmal quer im Magen, weil Sie denken, dass Sie die Person doch aus ihrem „Loch rausholen“ müssen und sie die negativen Gefühle nur verstärken. Ich kann Ihnen allerdings aus Überzeugung und Erfahrung sagen: Das Gegenteil ist der Fall. Validierung öffnet nicht nur oft die Tür zu einer Person, sondern reicht mitunter sogar aus, um die unangenehmen Gefühle besser zu verarbeiten. Was enorm verletzen kann, sind hingegen die Varianten 1 bis 3, denn sie stoßen die betroffene Person schnell vor den Kopf und vermitteln ihr das Gefühl, nicht okay zu sein. Validierung hilft also und ist gleichzeitig so einfach – vielleicht ein gutes Vorhaben für die bevorstehende besinnliche Zeit?

© Christian Rupp 2022

Über das Störungsbild ADHS – Teil 3: Welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es?

Wie hängen das bei ADHS oft verordnete Methylphenidat und Cannabis zusammen? Was ist Neurobiofeedback und was kann man psychotherapeutisch erreichen? Um diese Fragen geht es in diesem dritten und letzten Teil der Reihe.

Die Behandlung der ADHS geschieht in aller Regel vorrangig durch die Gabe von so genannten Stimulanzien. Die bekannteste Substanz heißt Methylphenidat, die noch bekannteren Handelsnamen der Medikamente mit diesem Wirkstoff hören auf die Namen Ritalin und Medikinet. Jener Wirkstoff setzt am erwiesenen Dopaminmangel bei ADHS an (siehe Teil 2) und bewirkt eine verstärkte Ausschüttung dieses Neurotransmitters. Bei ca. 70% der Kinder verschwinden oder bessern sich die Symptome dadurch, bei Erwachsenen (für die nur Medikinet als Medikament zugelassen ist) liegt die Rate derer, die auf das Medikament ansprechen, ca. 10% niedriger. Die Nebenwirkungen sind über Patient:innen hinweg sehr unterschiedlich. Manch eine:r merkt fast gar keine, andere fühlen sich hierdurch sediert oder, um es mit den Worten eines Patienten zu sagen, “als wäre das innere Feuer erloschen”. Positiv zu werten ist der Befund, dass, obwohl Methlyphenidat als Stimulanziensubstanz dem deutschen Betäubungsmittelgesetz unterliegt, die dauerhafte Einnahme nicht mit einem erhöhten Abhängigkeitsrisiko einhergeht. Dennoch sollte mit diesem Medikament nicht leichtfertig umgegangen werden, da Langzeiteffekte bisher noch weitgehend unbekannt sind. Eine präzise Diagnostik und ein verantwortungsbewusster Einsatz dieses Medikaments sind deshalb unerlässlich.

Cannabis, Methylphenidat und der Schwarzmarkt

Ein Thema, das insbesondere bei Erwachsenen nicht zu vernachlässigen ist, ist der unter diesen Patient:innen sehr weit verbreitete Konsum von Cannabis. Das rührt daher, dass Cannabis (bzw. die relevante Substanz mit dem Namen THC) eine sedierende, also beruhigende Wirkung besitzt. Daher (und weil Cannabis von allen illegalen Drogen noch am leichtesten zu bekommen ist) greifen viele Erwachsene mit ADHS dazu, um selbst ihre oft als quälend erlebte innere Unruhe zu bekämpfen – nicht zuletzt auch, weil Cannabis im Gegensatz zu Methylphenidat keine unmittelbaren Nebenwirkungen hat.

Während Cannabis bei Menschen mit ADHS genauso wirkt wie bei gesunden Menschen, ist das bei Methylphenidat anders. Ganz im Gegensatz zu z. B. Antidepressiva, die bei Gesunden keinerlei Veränderung bewirken, wirkt Methylphenidat bei Menschen ohne ADHS in der Regel stimulierend und vor allem aufmerksamkeits- und konzentrationsfördernd. Wegen dieser aufputschenden Wirkung ist der Wirkstoff als “Gehirndoping” unter Studierenden beliebt.

Die Tatsachen, dass einerseits Methylphenidat bei Menschen ohne ADHS eine derart attraktive Wirkung entfaltet und andererseits aber unter das Betäubungsmittelgesetzt fällt und verschreibungspflichtig ist, hat dazu geführt, dass sich ein florierender Schwarzmarkt entwickelt hat. So berichtete mir einmal ein Patient, er habe einst Ritalin verschrieben bekommen, sei aber dann doch wieder auf sein altbewährtes Cannabis umgestiegen, weil das nicht die “nervigen Nebenwirkungen” gehabt und er zudem auf dem Schwarzmarkt durch den Verkauf der Pillen mehr Geld verdient habe, als das Cannabis ihn gekostet habe.

Bei Erwachsenen mit ADHS gibt es übrigens, falls mit Methylphenidat keine zufriedenstellende Wirkung erzielt werden kann, mit Atomoxetin (einem Nordadrenalin-Wiederaufnahmehemmer) und Bupropion (einem Noradrenalin- und Dopamin-Wiederaufnahmehemmer) noch zwei medikamentöse Alternativen.

Psychotherapie

Psychotherapeutische Behandlungsformen haben sich in Bezug auf die ADHS bei Kindern zusätzlich zu medikamentöser Behandlung als erfolgreich erwiesen. Hierbei scheinen besonders verhaltenstherapeutische Elterntrainings hilfreich zu sein, die darauf abzielen, das Verhalten unter den Familienmitgliedern dahin zu verbessern, dass für das betroffene Kind ein von Struktur und festen Regeln geprägter Alltag hergestellt wird. Denn auch, wenn das Verhalten der Eltern nicht als ursächlich im Hinblick auf die ADHS anzusehen ist, so kann es die Symptome dennoch verstärken, weshalb eine Verbesserung dessen auch positive Auswirkungen auf das Befinden des betroffenen Kindes haben kann. Zudem wird verhaltenstherapeutisch natürlich eine Verringerung des impulsiven und oft aggressiven Verhaltens angestrebt, wofür bei Kindern oftmals Belohnungssysteme eingesetzt werden. Weitere Inhalte sind außerdem Selbstmanagement- und Selbstinstruktionstrainings, um der starken Ablenkbarkeit entgegen zu wirken.

Bei erwachsenen Patient:innen sind typische Therapieinhalte neben Selbst- und Stressmanagementstrategien und Organisationstechniken auch ein Training der Emotionsregulation (im Hinblick auf die affektive Labilität, z. B. mittels so genannter „Skills“) sowie das Eindämmen von Substanzmissbrauch (meistens bezüglich Cannabis) und natürlich der Aufbau eines besseren Selbstwertgefühls (man erinnere sich an die in Teil 1 beschriebenen typischen Biographien der Betroffenen).

Neurobiofeedback

Unter diesem futuristisch anmutenden Begriff verbirgt sich eine weitere vielversprechende Behandlungsform bei ADHS. Das Prinzip ist das folgende: Der Patient wird über ein EEG an einen Computer angeschlossen, der die EEG-Wellen daraufhin untersucht, ob der Bewusstseinszustand des Patienten gerade eher konzentriert oder unkonzentriert ist. Dies wird dem Patienten am Bildschirm in Form einer Animation (z. B. eines hängenden Dreiecks) zurückgemeldet, die sich z. B. umso weiter nach oben bewegt, je konzentrierter der Patient ist. Dann erhält der Patient die Instruktion, das Dreieck nach oben zu bewegen und auszuprobieren, was er hierfür tun muss. In der Folge wird der Patient für einen konzentrierten Bewusstseinszustand durch die Veränderung der Animation belohnt, sodass eine unbewusste operante Konditionierung stattfindet und der Patient schlussendlich Wege erlernt, selbst einen aufmerksameren Bewusstseinszustand zu erreichen. Klingt nach science fiction, ist aber inzwischen Alltag in (guten) neurologischen Klinikabteilungen.

Fazit: Was man sich merken sollte

ADHS ist keine Erfindung der modernen Psychiatrie, sondern eine Störung, die mit starken Einschränkungen im Leben der Betroffenen einhergeht. Sie betrifft rund 3 % der Schulkinder und 1 % der Erwachsenen. Die Ursache liegt sehr wahrscheinlich in ungünstigen Genvarianten, die zu spezifischen strukturellen Veränderungen im Gehirn der Betroffenen führen. Kern dieser Störung ist dabei wahrscheinlich eine gestörte Inhibitionsfähigkeit, die vor allem mit dem Dopamin-System des Gehirns in Verbindung gebracht wird. Betroffene zeigen im Vergleich zu gesunden Personen mit neurowissenschaftlichen Methoden nachweisbare Auffälligkeiten in bestimmten Hirnarealen. ADHS ist durch medikamentöse Therapie und zusätzliche Psychotherapie ziemlich erfolgreich behandelbar, der Einfluss des Elternverhaltens spielt bei kindlicher ADHS allerdings eine bedeutsame Rolle für den weiteren Verlauf der Störung.

© Christian Rupp 2022

Über das Störungsbild ADHS – Teil 2: Wo liegen die Ursachen?

Liegen die Ursachen der ADHS tatsächlich im Verhalten der Eltern – oder hat es vielmehr etwas mit Genetik und Biologie zu tun, dass die Betroffenen mit bestimmten Dingen so schnell überfordert sind? In diesem Teil widme ich mich der Aufklärung genau dieser Fragen.

In diesem Teil soll es, nachdem ich in Teil 1 die Symptome und die Diagnostik von ADHS im Kindes- und Erwachsenenalter beschrieben habe, um die Ursachen der ADHS gehen.

Ursachen

Das Wichtigste vorweg: Bei der ADHS überwiegen, wie auch z. B. beim Autismus, genetische und biologische Ursachen – im Gegensatz zu der oft von leider nicht gut informierten oder ideologisch angetriebenen Menschen vertretenen These, das Verhalten „moderner Eltern“ sei daran schuld (wenn sie nicht gerade in Ermangelung jeglicher Fachkenntnis behaupten, ADHS sei kompletter Unsinn). Nun zurück zur Ernsthaftigkeit. Die Rolle der Genetik wurde schon in den 1990er Jahren anhand von Zwillings- und Adoptionsstudien deutlich, die zeigten, dass voneinander getrennt aufgewachsene eineiige Zwillingspaare in 55-92% bezüglich der Diagnose ADHS übereinstimmten. Das heißt: Hatte Zwilling A ADHS, so hatte Zwilling B in 55-92% der Fälle auch ADHS. Zum Vergleich: Spielte die Genetik keine Rolle, sollte diese Prozentzahl der Häufigkeit in der Bevölkerung entsprechen, also unter 5% liegen.

Es ist schwer, die vielen Studien, Überblicksartikel und Metaanalysen, die sich mit den Ursachen der ADHS befassen, prägnant zusammenzufassen, aber ich werde es dennoch versuchen. Die ADHS wird auf Basis wissenschaftlicher Befunde heutzutage weitestgehend als Inhibitionsdefizit in der Informationsverarbeitung angesehen. Inhibition („Hemmung“) ist unsere Fähigkeit, auf uns einströmende, aber nicht relevante Reize (= Informationen) aus der Umwelt zu unterdrücken. Dies bezeichnet konkret die Fähigkeit unseres Gehirns, die Aufmerksamkeit weiterhin auf einen relevanten Reiz (z. B. eine Matheaufgabe) fokussiert zu halten, auch wenn ein hervorstechender Reiz (z. B. quietschende Reifen) durch unsere Sinnesorgane Eingang in unser Gehirn finden. Bei intakter Inhibition gelingt es dem Gehirn meistens, die weitere Verarbeitung eines solchen Geräuschs so früh zu unterdrücken, dass dieses gar nicht oder nur teilweise unser Bewusstsein erreicht. Menschen mit ADHS haben genau damit Schwierigkeiten: Der Fokus der Aufmerksamkeit wird leicht woanders hingelenkt. Die Inhibitions-Perspektive bietet auch den Vorteil, dass damit das begriffliche Paradoxon umgangen wird, welches darin besteht, dass die Aufmerksamkeitsleistung an sich, die sich mit zahlreichen psychologischen Testverfahren überprüfen lässt, bei Menschen mit ADHS gar nicht oder nur wenig beeinträchtigt ist. Es ist in der Tat viel mehr die mangelnde Inhibition, die erst dann sichtbar wird, wenn die Betroffenen mit verschiedenen Reizen konfrontiert werden, von denen aber einige irrelevant sind.

Diejenigen Wissenschaftler:innen, die die Ansicht vertreten, dass die ADHS ein einheitliches Störungsbild darstellt und nicht eigentlich zwei unterschiedliche Störungen (nämlich die Aufmerksamkeitsstörung und die Hyperaktivität) fälschlicherweise zusammenfasst, erklären auch die Hyperaktivität durch ein Defizit bezüglich der Unterdrückung von impulsiven Handlungsweisen. Wie damit angedeutet, gibt es aber auch die Verfechter der Ansicht, dass diese beiden Symptomgruppen zwei unterschiedliche Störungen darstellen. Schlussendlich kann diese Frage auf dem derzeitigen Stand der Wissenschaft nicht beantwortet werden.

Neurobiologisch betrachtet

Die Ursachenforschung zur ADHS ist größtenteils neurobiologischer und genetischer Natur. Dabei geht man in der Regel so vor, dass man sich anschaut, welche Gene oder Genvarianten („Allele“) besonders häufig bei Personen mit ADHS vorkommen, und betrachtet dann, welche Auswirkungen genau diese Gene auf die Beschaffenheit unseres Gehirns haben. Diese Art der Forschung erbrachte diverse so genannte „Kandidatengene“, d. h. solche, die in Zusammenhang mit ADHS gebracht werden. Viele dieser Gene enthalten die Baupläne für Transmitterezeptoren, d. h. Moleküle, an die in unserem Nervensystem Neurotransmitter (auch genannt Botenstoffe) andocken und die somit maßgeblich an der Weiterleitung von Nervensignalen beteiligt sind. Besonders heiß diskutiert werden Rezeptoren für die Neurotransmitter Dopamin und Noradrenalin. Diese spielen besonders im vorderen Teil unseres Gehirns eine Rolle, wo der Sitz der „exekutiven Kontrolle“ vermutet wird, d. h. ein Aufmerksamkeitssystem, das kontrolliert, was wir tun und denken – und was nicht. Diesem System werden auch Inhibitionsfunktionen zugesprochen, sodass sich im Zusammenhang mit den beschriebenen Befunden ein recht rundes Bild ergibt: Eine bestimmte Genvariante erzeugt ungünstig beschaffene Dopaminrezeptoren in bestimmten für Inhibition relevanten Gehirnarealen, wodurch ein Dopaminmangel entsteht, der zu einer Unteraktivierung dieser Areale führt – und das Ergebnis heißt ADHS.

Leider ist dies nicht ganz so eindeutig, wie man es gern hätte, da viele wissenschaftliche Befunde im Widerspruch zueinander stehen und noch viele Zusammenhänge ungeklärt sind. Dass jene Gehirnareale aber tatsächlich bei Menschen mit ADHS gewisse Abweichungen im Vergleich zu gesunden Kontrollpersonen aufweisen, konnte in vielen Studien gezeigt werden. MRT-Studien zeigten beispielsweise eine geringere Masse in frontalen Gehirnarealen, und fMRT-, MEG- und solche Studien, die so genannte ereignisevozierte Potenziale untersuchten (dafür benutzt man ein EEG), erbrachten neurowissenschaftliche Befunde, die eine gestörte, d. h. ineffiziente Informationsverarbeitung belegen, z. B. anhand einer zu geringen Aktivierung in verschiedenen Gehirnarealen.

Doch was bedeutet all dies nun für die Behandlung der ADHS? Darum wird es in Teil 3 gehen.

© Dr. Christian Rupp 2022

Über das Störungsbild ADHS – Teil 1: Symptome bei Kindern und Erwachsenen im Vergleich

Über die Symptome von ADHS bei Kindern existieren bereits viele Fehlannahmen – die Erscheinungsform bei Erwachsenen ist hingegen weitgehend unbekannt.

Die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (kurz ADHS) gehört wohl zu den in der Öffentlichkeit am wenigsten ernst genommenen psychischen Störungen. Da ich mich seit meiner Bachelorarbeit vor 10 Jahren viel theoretisch mit dem Thema auseinandergesetzt habe und seit Jahren immer wieder erwachsene Patient:innen mit ADHS behandle, ist es mir nun ein besonderes Anliegen, über diese so oft missverstandene Störung zu berichten.

Symptome

Wie der Name bereits suggeriert, sind die Kennzeichen der ADHS zum einen eine Aufmerksamkeitsstörung und zum anderen ein Muster aus Hyperaktivität und Impulsivität. Nicht alle drei Bereiche müssen immer zusammen auftreten, weshalb im Volksmund in der Vergangenheit auch teils von „ADS“ (Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität und Impulsivität) die Rede war. Heutzutage nimmt man hier diagnostisch keine so klare Trennung mehr vor, sondern spricht nur noch von verschiedenen „Erscheinungsformen“ der ADHS.

Doch was kann man sich nun konkret unter diesen Begriffen vorstellen? „Aufmerksamkeitsstörung“ meint vor allem das vorzeitige Abbrechen von Aufgaben, die einem von anderen Personen gestellten wurden, hohe Ablenkbarkeit und das Nicht-Beenden von Aufgaben. „Impulsivität“ meint derweil eine Unkontrolliertheit im Bereich der Gedanken, der Gefühle und des eigentlichen Handelns. Die „Hyperaktivität“ hingegen bezieht sich ausschließlich auf die Motorik, die durch Ruhelosigkeit, überschießende Energie und übermäßige Aktivität gekennzeichnet ist.

Schwierig zu diagnostizieren

Wie wird ADHS nun diagnostiziert? In der Tat wird diese Diagnose tragischer Weise oft viel zu schnell und nur nach mangelnder Diagnostik gestellt. Um die Diagnose verlässlich zu stellen, bedarf es intensiver Verhaltensbeobachtung durch psychologisches oder psychiatrisches Fachpersonal sowie durch Eltern und Lehrer:innen. Außerdem erfordert sie ausgiebige psychologische Testdiagnostik (Tests zu allgemeinen kognitiven Fähigkeiten sowie zur Aufmerksamkeit und Konzentration). Darüber hinaus muss ausgeschlossen sein, dass das Verhalten des Kindes auf sonstige, z. B. schulische Probleme oder Probleme im sozialen Umfeld, zurückzuführen ist. Da die Diagnostik so aufwändig ist, wird die Diagnose „ADHS“ leider noch zu oft ungerechtfertigt und verfrüht gestellt, wodurch nicht selten der Eindruck entsteht, jedes Kind, das einmal “rumzappelt” und mit den Gedanken abschweift, leide unter ADHS.

Die meisten wissenschaftlichen Studien berichten eine Häufigkeit von 2-5 % unter Schulkindern. Das heißt, durchschnittlich ist ein Kind in jeder Grundschulklasse betroffen. Jungen sind den meisten Schätzungen zufolge neunmal häufiger betroffen als Mädchen.

ADHS im Erwachsenenalter

Was kaum jemand weiß, ist, dass ADHS in einer großen Zahl der Fälle auch im Erwachsenenalter fortbesteht (einigen Schätzungen zufolge betrifft dies ca. ein Drittel). Allerdings ist die „erwachsene“ ADHS weniger durch nach außen hin sichtbare Hyperaktivität gekennzeichnet, da diese sich im Erwachsenenalter typischerweise zu einer ausgeprägten inneren Unruhe wandelt, die für die Betroffenen jedoch in der Regel kaum weniger qualvoll ist. Viele Betroffene berichten auch von einem dauerhaften Gefühl des “Getriebenseins” und der Unfähigkeit, zu entspannen. Da die Erwachsenenform der ADHS sich in vielen Aspekten von der kindlichen Variante unterscheidet, wurden hierfür eigene Diagnosekriterien, die sogenannten Wender-Utah-Kriterien, formuliert. Diese umfassen neben weiterhin bestehenden Aufmerksamkeitsproblemen vor allem emotionale Auffälligkeiten, d. h. eine affektive Labilität (was bedeutet, dass die Stimmung durch kleinste Auslöser schnell ins Gegenteil umschlagen kann und die Stimmung im Stunden- bis Tagesrhythmus zwischen neutral und niedergeschlagen schwanken kann), ein leicht reizbares Temperament mit schnell hochkochenden Wutreaktionen und geringer Frustrationstoleranz („kurze Zündschnur“), eine geringe Stresstoleranz gepaart mit einer schnellen Überforderung durch viele Sinneseindrücke und Anforderungen („Reizüberflutung“) sowie Desorganisiertheit und Impulsivität im Verhalten. Letzteres bedeutet vor allem Probleme bei der zielgerichteten und geplanten Umsetzung von Handlungen, was bis hin zu delinquentem Verhalten oder Suchtmittelkonsum führen kann und die Betroffenen nicht selten in eine völlig chaotische Lebenssituation stürzt. 

Hinsichtlich der Symptome überlappt die erwachsene Form der ADHS tatsächlich ziemlich stark mit der emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung, sowohl dem Borderline-Typ als auch dem impulsiven Typ. Tatsächlich kann man die Störungsbilder jedoch anhand einiger trennscharfer Merkmale unterscheiden: Bei beiden Formen der emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung findet sich im Gegensatz zur erwachsenen Form der ADHS keine Aufmerksamkeitsproblematik, und zumindest beim Borderline-Typ besteht oft eine ausgeprägte Beziehungsstörung mit Ambivalenz und Angst vor dem Verlassenwerden („Ich hasse dich, verlass mich nicht“), die bei der ADHS eher untypisch ist.

Tatsächlich zeigt auch meine persönliche Erfahrung als Behandler, dass Erwachsene mit ADHS erstaunliche Parallelen in ihren Lebensläufen aufweisen. Das liegt daran, dass fast alle Betroffenen als Kind, insbesondere in der Schule, die gleichen Abwertungs- und Ausgrenzungserfahrungen gemacht haben, denn sie gelten aufgrund ihrer Schwierigkeiten natürlich schnell als entweder „dumm“ oder „faul“ sowie als aggressive „Störenfriede“, die mit der Zeit immer mehr soziale Ausgrenzung erfahren. Dies zementiert natürlich tiefgreifende negative Annahmen, die diese Personen über sich selbst hegen, wie z. B. „Ich bin wertlos“, „Ich bin abstoßend“ oder „Ich bin unfähig, etwas zu erreichen“ – was nicht selten die Weichen für das spätere Erkranken an Depressionen stellt. Aufgrund der Schwierigkeiten der Kinder sind Eltern meist überfordert, es kommt zu vielen Konflikten in der Familie, und zu häufig rutschen die Betroffenen, gerade wenn sie in einem wenig unterstützenden Elternhaus aufwachsen, entweder in eine Drogensucht (was weitere Gründe hat, siehe Teil 3), in die Kriminalität oder in beides. Wir haben es hier also mit einer schwerwiegenden Erkrankung zu tun, die unbehandelt schnell zu einer kaum aufzuhaltenden Abwärtsspirale führt. Daher werden die folgenden beiden Teile davon handeln, was die Ursachen der ADHS sind (Teil 2) und von welcher Behandlung die Betroffenen profitieren können (Teil 3).

© Dr. Christian Rupp 2022

Typische Missverständnisse rund um die Psychotherapie – Teil 4: „Wer zum Psychotherapeuten geht, ist bekloppt“

Über die Ursachen und Lösungsmöglichkeiten für die Stigmatisierung psychischer Störungen – und warum wir als Therapeuten oft die Falschen behandeln.

Vor Kurzem wurde ich damit konfrontiert, dass in der Bevölkerung, zumindest im Einzugsgebiet meiner Praxis, offenbar doch auch noch ab und zu die Annahme in den Köpfen der Leute anzutreffen ist, zum Psychotherapeuten gingen nur „Bekloppte“, was natürlich zur Stigmatisierung von Menschen führt, die mich oder meine Kolleg:innen aufsuchen. Und weil ich in Teil 3 viel Wert darauf gelegt habe, u. a. deutlich zu machen, dass die Diagnose einer psychischen Störung vorliegen muss, um in Deutschland Psychotherapie machen zu können, ist es mir ein Anliegen, auch zu erklären, warum die Menschen, die mich aufsuchen, durchaus nicht „bekloppt“ sind.

Hier bietet es sich an, mit einer Statistik zur Häufigkeit psychischer Störungen einzusteigen. Tatsächlich ist es so, dass nach einer repräsentativen, methodisch guten Untersuchung von 2004 (Jacobi et al.) in Deutschland 42 von 100 Menschen im Laufe ihres Lebens irgendeine psychische Störung entwickeln – man spricht hierbei von der so genannten „Lebenszeitprävalenz“. Mit am häufigsten vertreten sind dabei depressive Störungen, woran rund 17% der Deutschen zwischen dem 18. und 65. Lebensjahr irgendwann mindestens einmal erkranken. Zum Vergleich: Einen Herzinfarkt erleiden im Verlauf ihres Lebens durchschnittlich 4,7 % der Menschen (Gößwald et al., 2013), einen Schlaganfall 2,9 % (Busch et al., 2013). Wahrscheinlich gehen Sie beim Lesen jetzt auch im Kopf ihren Bekanntenkreis durch und kommen zu dem Ergebnis, dass das nicht sein kann, weil „die doch alle ganz normal sind“ bzw. man „keinem was anmerkt“. Und hiermit liegen Sie falsch, und zwar aus zwei Gründen, die miteinander verbundenen sind. Erstens, weil man psychische Störungen den meisten Menschen nicht anmerkt, und zweitens, weil im privaten Umfeld noch zu wenige Menschen hiervon (sowie davon, dass sie eine Behandlung beginnen) erzählen.

Diese beiden Gründe sind deshalb miteinander verbunden, weil der Grund für das Nicht-Anmerken und das Nicht-Erzählen in der Regel derselbe ist: Scham. Scham, die bedingt ist durch eben solche gesellschaftlichen Stigmata wie „Nur Bekloppte gehen zum Psychotherapeuten“ und die dazu führt, dass Menschen sich verstellen, eine „fröhliche Maske“ aufsetzen, all ihr Leid weglächeln und somit gar nicht erst den Verdacht aufkommen lassen, dass sie vielleicht unter Depressionen oder übermäßigen Ängsten leiden. Bei den meisten Betroffenen sind diese Gedanken verbunden mit der Fehlannahme, dass ihr Problem sehr selten ist und sie mit diesem somit allein sind, weil ja auch „alle anderen total normal“ wirken und scheinbar „mühelos“ mit dem Leben klarkommen (was, wie ich berufsbedingt weiß, definitiv nicht der Fall ist). In der Folge begeben sich diese Menschen dann nicht oder „nur heimlich“ in Behandlung, was wiederum verstärkt, dass Menschen mit psychischen Störungen nicht sichtbar werden – und der Teufelskreis (siehe Abbildung) sich schließt.

Dass man psychische Störungen den meisten Menschen in der ambulanten Psychotherapie nicht anmerkt, hat allerdings außerdem noch den Grund, dass in einer ambulanten psychotherapeutischen Praxis solche Störungsbilder klar überwiegen, die man den Betroffenen von Natur aus nicht anmerken kann (so, wie Sie ja auch nicht bei jemandem, den sie auf der Straße treffen, sagen können, ob er Nierensteine hat), weil die psychischen Funktionen, die es erfordert, sich „nach außen hin unter Kontrolle zu haben“, bei den meisten Betroffenen noch gut funktionieren. Übrigens – wir erinnern uns an Teil 3 – ist das Vorhandensein guter geistiger Fähigkeiten eine der Voraussetzungen für Psychotherapie. Störungsbilder, die bei mir wie auch in den meisten anderen psychotherapeutischen Praxen den größten Anteil ausmachen, sind leichte bis mittelgradige depressive Episoden, Angststörungen und somatoforme Störungen – allen ist gemeinsam, dass man sie von außen nicht einfach so sieht, sondern man die Betroffenen genau fragen muss.

Das, was meiner Wahrnehmung nach viele Menschen unter „bekloppt“ oder „verrückt“ (im Sinne von „nicht mehr Herr der eigenen Sinne“) verstehen, lässt sich am ehesten einem diffusen Verständnis von geistiger Behinderung, einer Demenz oder einer psychotischen Erkrankung (wie der Schizophrenie) zuordnen. Menschen mit solchen Problematiken wird man in der Regel nicht in einer psychotherapeutischen Praxis antreffen, weil Psychotherapie hierfür überwiegend nicht das geeignete Behandlungsverfahren ist. Die drei genannten Gruppen werden eher ambulant oder stationär von Psychiater:innen behandelt, da die Behandlungsansätze vorwiegend medikamentös sind, und leben häufig in betreuten Wohngruppen oder Einrichtungen, da sie mit einem eigenständigen Leben oft aufgrund ihrer Einschränkungen überfordert sind.

An dieser Stelle möchte ich jedoch noch einen weiteren Aspekt ergänzen und dabei den Titel des Buchs von Manfred Lütz aus dem Jahr 2009 aufgreifen, der bereits die Kernthese aufstellt, dass wir im Bereich der Psychiatrie und Psychotherapie eigentlich „die Falschen behandeln“ (d. h., salopp gesagt, die „Nicht-Bekloppten“). Ich gebe Herrn Lütz insofern Recht, als ich es tagtäglich erlebe, dass eben nicht die Person vor mir sitzt, die das eigentliche Problem hat, sondern die Person, die zum Opfer ersterer geworden ist. Dies gilt insbesondere für die Angehörigen von Menschen mit schweren (z. B. narzisstischen) Persönlichkeitsstörungen, die in der Regel nicht wahrnehmen, dass nicht das Umfeld, sondern sie selbst das Problem sind, und infolgedessen ihr Umfeld bewusst oder unbewusst tyrannisieren. Zu mir kommt in der Regel nicht der alkoholabhängige Ehemann, der betrunken zuschlägt, sondern die Ehefrau, die nicht mehr weiterweiß, und es kommt auch nicht der narzisstisch persönlichkeitsgestörte Chef, der seine Mitarbeiterinnen wie Vieh behandelt und sexuell belästigt, sondern es kommt die Mitarbeiterin zur Therapie. Natürlich haben die „Opfer“ in diesen Beispielen auch ihren Anteil (weil sie es zulassen, so behandelt zu werden), aber ich denke, es ist offensichtlich, wo jeweils das eigentliche Problem liegt. Genau wie Manfred Lütz sehe auch ich es so, dass unser Problem in der Gesellschaft nicht diejenigen sind, die sich psychotherapeutische oder psychiatrische Hilfe suchen. Im Gegenteil: Diese Menschen sind in der Regel sehr reflektiert, haben ein Problembewusstsein, sind (da sie entgegen einem Stigma handeln müssen) mutig und übernehmen dadurch Verantwortung für sich und andere. All diese Aspekte unterscheiden diese Menschen von jenen, die uns gesellschaftlich wirklich Sorgen bereiten sollten: Menschen mit teils gravierenden Persönlichkeitsstörungen, die in der Vorstellung leben, dass ihr Umfeld an allem schuld ist, und die deshalb zu tickenden Zeitbomben werden, weil sie sich eben keine Hilfe suchen. Die Menschen, die sich bei mir in Behandlung befinden, sind im Schnitt meinem Urteil nach auf jeden Fall um einiges „normaler“ und meinem Ermessen nach psychisch „intakter“ als so manche Person, die mir im letzten Jahr in einem Geschäft, im Zug, als Kollege, „Dienstleister“ oder am anderen Ende einer Telefonhotline begegnet ist.

Sollten Sie als Leserin oder Leser dieses Artikels also demnächst wieder einmal jemanden in meine Praxis gehen sehen, so sollten Sie sich bewusst machen, dass dieser Mensch nicht bekloppt ist, sondern Verantwortung übernimmt und mutiger als die meisten anderen ist. Übrigens hat es einen Grund, warum ich weder in Kropp noch in Groß Rheide darauf aus war, einen versteckten Praxiseingang in irgendeinem Hinterhof zu haben, wo die Menschen, die zu mir kommen, „nicht so gesehen werden“. Der Grund ist derselbe wie der, aus dem ich vor Kurzem einer Patientin widersprochen habe, die sich wünschte, dass ich ihr einen Brief ohne Absenderangaben schicke, und er ergibt sich aus der obenstehenden Abbildung. Wenn ich einen versteckten Hinterhofeingang hätte und den Absender auf Briefen weglassen würde, würde ich den beschriebenen Teufelskreis nur weiter befeuern, weil ich erstens dadurch vermitteln würde, dass man sich zu schämen hat, wenn man zum Psychotherapeuten geht, und zweitens dazu beitragen würde, dass Menschen mit psychotherapeutischem Anliegen weiter ungesehen bleiben und sich dadurch die Fehlannahme zementiert, psychische Störungen seien „selten“ (denken Sie an die 42 %!). Beides würde gewaltig dem entgegenstehen, was mein erklärtes Ziel ist, nämlich den Besuch bei mir genau so „normal“ zu machen wie den beim Zahnarzt, Gastroenterologen, der Fußpflege oder der Physiotherapie. Und deshalb liegt meine Praxis gut sichtbar an der Hauptstraße genau richtig.

© Dr. Christian Rupp 2022

Gruppenraum fertig eingerichtet

Rechtzeitig vor Jahresende konnte ich endlich ein wegen der Pandemie seit drei Jahren brachliegendes Projekt vollenden, nämlich die Einrichtung des neuen Gruppenraums. Wie auch der Rest der Praxis ist der Raum im bewährten Stilmix aus altem und modernem Design mit indirektem Lichtkonzept und Farbgebung aus dem bekanntem Blau-Gelb-Spektrum in Verbindung mit Eichenholz gestaltet. Die Stühle sind, wie überall in der Praxis, genau so verschieden, wie die Menschen, die auf ihnen Platz nehmen. Passend zum häufigsten Nachnamen in meiner Patientenkartei tauchen im neuen Gruppenraum nun neben den alten Bekannten auch die skandinavischen Designer Fritz Hansen und Carl Hansen auf.

Ich bedanke mich vor allem bei Peter Vogler und seiner Frau (Akzente, Flensburg) für die beiden aufbereiteten dänischen Kommoden aus den 1950er Jahren und bei Elisa und Torsten Behnke (Restaurant TreibGut, Eckernförde) für die die außergewöhnliche Bullaugen-Lampe.

Inspiriert durch die Lage der Praxis mitten zwischen der Nordsee im Westen und der Ostsee im Osten hängen an der Westwand des nach Norden ausgerichteten Raumes eigene Fotografien aus Husum und vom roten Kliff auf Sylt, während die Ostwand von Aufnahmen aus Eckernförde verschönert wird. Nord- und Südwand wiederum sind mit aufeinander Bezug nehmenden maritimen Motiven ausgestattet, wovon eines von meinem Mann gemalt wurde (Acryl auf Leinwand).

Der Gruppenraum bietet Platz für bis zu sieben Patient:innen und mich als Therapeut und markiert die Umsetzung des lange aufgeschobenen Vorhabens, meine seit drei Jahren bestehende Abrechnungsbefugnis für Gruppentherapie nun endlich zu nutzen. Geplant ist, dass im 1. Quartal 2022 die erste themenspezifische Gruppe zu zwischenmenschlichen Problemen (mit Elementen aus dem sozialen Kompetenztraining, dem CBASP und der Interpersonellen Therapie) beginnt. Anvisiert sind im Jahresverlauf zudem evtl. noch weitere themenspezifische Gruppen zu spezieller Schmerzpsychotherapie und Angstbewältigung. Die Gruppen richten sich an Patient:innen, die sich bereits bei mir in Einzeltherapie befinden, und werden durch mich nach Rücksprache mit den interessierten Patient:innen zusammengestellt, wobei ich auf eine gute Passung der Teilnehmenden achte.

Geplant ist aktuell, dass die Gruppentherapie unter 2G-Bedingungen mit Maskenpflicht stattfindet, unterstützt durch einen leistungsstarken Luftfilter und Lüften.

Artikel über Ghosting mit meinem Expertenbeitrag in der Süddeutschen Zeitung

Nach der kürzlichen Enttäuschung mit dem WELT-Artikel zum Thema „Orbiting“ habe ich mit der Süddeutschen Zeitung bzw. mit dem Journalisten Matthias Kreienbrink, dem ich erneut ein Interview zum Thema Ghosting gegeben habe, heute wieder eine positive Presseerfahrung gemacht. Der Link zum Online-Artikel findet sich hier, das Foto zeigt den Artikel in der Printausgabe vom 16.11.2021.

Süddeutsche Zeitung, 16.11.2021, S. 19

Gendersternchen, divers, trans, non-binary, inter & Co: Was bedeutet eigentlich was?

Ein kurzer Überblick über die Hintergründe des Genderns, des dritten Geschlechts und wichtiger psychologischer Forschung.

Vor einiger Zeit wurde ich als Psychologe und Psychotherapeut von einer lieben Bekannten gefragt, was es eigentlich mit dem neuen dritten Geschlecht namens “divers” auf sich hat, warum sich Transmenschen meist nicht als divers identifizieren und was genau eigentlich der Sinn des Genderns ist. Daher entschied ich, einen kurzen Beitrag zu verfassen, um ein wenig Klarheit in den diesbezüglich schwer zu überblickenden Begriffsdschungel zu bringen. Also – los geht’s.

Warum eigentlich gendern? Die psychologischen Hintergründe.

Hier muss man zwei Aspekte trennen: Erstens die Frage, warum es sinnvoll ist, z. B. bei der Nennung von Berufen (“Arzt/Ärztin”, “Polizist/Polizistin”, “Psychotherapeut/Psychotherapeutin”, etc.), nicht nur die männliche Form (das so genannte generische Maskulinum) zu verwenden, sondern die weibliche und die männliche Form – und zweitens, was der Grund dafür ist, männliche und weibliche Form in ein einzelnes Wort mit Sternchen, Unterstrich oder Doppelpunkt zu integrieren (“Ärzt*in”, “Polizist_in”, “Psychotherapeut:in”).

Zum ersten Punkt: Weibliche und männliche Formen nebeneinander zu nennen, hat tatsächlich gute Gründe, da psychologische Forschung klar zeigt, dass wir (und insbesondere Kinder) je nach Wortwahl (“Arzt”, “Krankenschwester”, “Ingenieur”, “Erzieherin”, etc.) entsprechende Repräsentationen von Männern oder Frauen im Kopf haben und das generische Maskulinum somit eben nicht wirklich “alle einschließt”. Mit anderen Worten: Die Wortwahl hat Einfluss auf unsere Vorstellung von dem zugrundeliegenden Begriff. Die besagten (methodisch guten) Studien zeigen, dass bei der genderstereotypen Verwendung der Berufsbegriffe (“Arzt”, “Erzieherin”…) Kinder mit einer höheren Wahrscheinlichkeit den zu ihrem Geschlecht passenden Beruf (Mädchen “Erzieherin”, Jungen “Arzt”) auswählen als den nicht zu ihrem Geschlecht passenden Beruf. Daher kann man sagen, dass es tatsächlich Sinn macht, beide Geschlechtsformen in der Kommunikation zu verwenden, damit man z. B. bei Stellenanzeigen alle Menschen anspricht. Wer sich hierfür noch weiter interessiert, dem kann ich diesen Beitrag von Leschs Kosmos sehr empfehlen: https://www.zdf.de/wissen/leschs-kosmos/gendern-wahn-oder-wissenschaft-100.html

Zum zweiten Punkt: Das mit dem Sternchen, Doppelpunkt oder Unterstrich (auch genannt “gender gap”) hat wiederum die Bewandtnis, dass man dadurch all diejenigen einschließen möchte, die sich weder dem einen noch dem anderen Geschlecht klar zuordnen können. Hier gibt es nun wiederum verschiedene Formen.

Die Bedeutung von divers, inter & non-binary

“Divers”, was als offizielles drittes Geschlecht eingeführt wurde, bezieht sich meinem Verständnis nach sowohl auf auf das biologische Geschlecht (englisch “sex”) als auch auf das soziale Geschlecht (englisch “gender”), also die selbst gewählte und gefühlte gesellschaftliche Geschlechterrolle. Zum einen gibt es Menschen, die biologisch nicht eindeutig einem Geschlecht zuzuordnen sind, also männliche und weibliche Geschlechtsmerkmale haben. Hier spricht man medizinisch von Intersexualität. In der Vergangenheit wurden diese Menschen meist als Säugling in die von den Eltern gewünschte Option “hin operiert”, was sich dann nicht selten in der Pubertät als falsche Entscheidung entpuppte, weshalb dies heute nicht mehr praktiziert wird. 

Zum anderen bezeichnet “divers” all jene Menschen, die zwar biologisch eindeutig einem Geschlecht zugeordnet werden können, sich aber vom subjektiven Gefühl her keiner der beiden Geschlechterrollen (gender) zuordnen können oder wollen. Diese Menschen bezeichnen sich oft auch als nicht-binär bzw. non-binary

Und was bedeutet nun “trans”?

Insgesamt handelt sich es sich beim dritten Geschlecht “divers” also um ein deutlich anderes Konzept als Transsexualität. Hierbei ist es so, dass das biologische Geschlecht nicht mit dem Gender übereinstimmt und die Menschen daher oft, aber nicht immer, eine Angleichung des biologischen Geschlechts an das subjektiv empfundene Gender anstreben. Dies bedeutet für die Betroffenen in der Regel einen beschwerlichen Weg, im Zuge dessen die Betroffenen sich auch psychotherapeutisch oder psychiatrisch begutachten lassen müssen, um sicherzustellen, das der Wunsch nach Angleichung nicht einer psychischen Störung entwächst und eine Operation sich nicht als folgenschwerer Fehler erweist. Anders als diverse Menschen ordnen sich transsexuelle Menschen aber nicht zwischen den Geschlechtern ein (wie diverse bzw. non-binäre Menschen), sondern eindeutig demjenigen, das nicht ihrem biologischen Geschlecht entspricht. Korrekter als “transsexuell” wäre übrigens der Begriff “transident”, weil die Geschlechtsidentität nichts mit der sexuellen Orientierung zu tun hat, sondern eben mit der Geschlechtsidentität (Gender).

Ich hoffe, hiermit, gang unabhängig davon, welche Meinung man zu dem Thema vertritt, zumindest zu einem besseren Verständnis dafür beigetragen zu haben, worum es geht und welche Sachverhalte sich hinter dem aktuell teils hitzig geführten Diskurs um Gendergerechtigkeit etc. verstecken.

Was meine eigenen Blogeinträge betrifft, habe ich mich übrigens überwiegend dazu entschieden, einfach abwechselnd die weibliche und männliche Form zu verwenden. Das ist für mich vom Lesefluss her eine angenehmere Variante als *, : oder _ , wenngleich ich in den meisten Praxisdokumenten und auf der Praxiswebsite das Gendersternchen verwende. Ich bin derweil froh, meine Bachelor-, Master- und Doktorarbeit alle auf Englisch verfasst zu haben, denn da ist die ganze Angelegenheit zum Glück viel einfacher zu lösen.

© Dr. Christian Rupp 2021

Über das Phänomen “Orbiting”: Das Ghosting 2.0?

Durch das Interview mit dem Journalisten Martin Busse vom Magazin “Mannschaft” (nachzulesen hier) kam es vor ca. einem Monat dazu, dass eine freie Journalistin bei mir wegen eines Interviews zum Thema Orbiting anfragte. Hierbei handelt es sich, kurz gesagt, um das Phänomen, dass Person A Person B ghostet, aber dann doch, z. B. über soziale Medien, indirekt im Dunstkreis von Person B bleibt, indem sie beispielsweise Twitter-Beiträge oder Instagram-Posts liked. Da meine ausführlichen Interviewantworten in dem endgültigen Zeitungsartikel leider nur sehr stichprobenartig vorkommen, veröffentliche ich sie hier in einem eigenen Blogbeitrag, der sich an den 6 Fragen der Journalistin an mich orientiert.

Warum betreiben Menschen Orbiting?

Auch wenn mir keine spezifische psychologische Forschung zu diesem Thema bekannt ist, so würde ich vermuten, dass es zwei wesentliche Motive hinter dem Verhalten gibt, sich zwar aus dem direkten zwischenmenschlichen Kontakt zurückzuziehen, jedoch „auf Umwegen“ immer noch am Leben der anderen Person teilzuhaben. Das erste Motiv scheint mir das Streben nach Kontrolle zu sein, also danach, die Person, die man eigentlich „geghostet“ hat, weiterhin „im Auge zu behalten“ und, z. B. getrieben von Eifersucht, daraufhin im Blick zu behalten, ob sie sozial positive Rückmeldungen erhält, gemocht wird, etc. Das andere naheliegende Motiv besteht vermutlich in einer ausgeprägten Ambivalenz derjenigen Person, die orbiting-Verhalten zeigt. D. h., das Orbiting stellt eine scheinbare Lösung für die Bindungsambivalenz der Person dar, die daraus besteht, dass sie, aus den unterschiedlichsten Gründen, von der anderen Person gerne Abstand möchte, aber es dann doch irgendetwas derart Anziehendes an der Person gibt, das sie dazu verleitet, immer wieder auf indirektem Wege an ihrem Leben teilzuhaben – vielleicht aus dem Gedanken heraus, dass man sich die Person ja doch noch „für später warmhalten“ kann.

Ist es immer ein bestimmter Typ Mensch, der Orbiting betreibt?

Auch hier kann ich nicht aufgrund von Forschungsergebnissen antworten, sondern nur aufgrund meiner psychologischen Grundkenntnis und meiner Berufserfahrung als Psychotherapeut. Das vorausgesetzt, würde ich nicht vermuten, dass nur ein bestimmter Typ Mensch Orbiting betreibt. Naheliegend ist es sicherlich, dass Menschen mit einem ambivalenten Bindungsstil und solche mit ausgeprägterer Selbstunsicherheit zu diesem Verhalten neigen (wegen der Angst vor der direkten Konfrontation) – ebenso wie Menschen mit Borderline-Persönlichkeitsstörung, bei denen derartiges Verhalten Teil der imponierenden Instabilität ist. Aber mit ziemlich großer Sicherheit hat meiner Einschätzung nach nur ein geringer Teil der Menschen, die Orbiting betreiben, eine psychische Störung.

Wie merke ich, dass jemand Orbiting mit mir betreibt?

Das haben Sie ja im Grunde schon selbst beschrieben. In der Regel fällt es im Bereich der sozialen Medien auf, da man dort nachverfolgen kann, wenn z. B. bei Instagram ein Foto geliked wurde oder die betreffende Person bei WhatsApp in meinen Status geschaut hat. Aber auch im realen Leben tritt dies auf, z. B. wenn eine Person, die eigentlich nicht mehr Teil meines Lebens ist, scheinbar „zufällig“ zur selben Zeit wie ich einkaufen geht oder unnötigerweise an meinem Haus vorbeifährt, um „mal unauffällig zu schauen, was los ist“. In extremen Fällen würde man hier von Stalking sprechen.

Wie komme ich aus einer Orbiting-Situation wieder raus?

Wenn es von der Ausprägung her in Richtung Stalking im realen Alltagsleben geht, würde ich aufgrund der dahingehend verbesserten Gesetzeslage immer dazu raten, sich an die Polizei zu wenden. Wenn das Orbiting lediglich im Bereich der sozialen Medien stattfindet, würde ich Betroffenen empfehlen, den betreffenden Menschen entweder mit dem Momentum der Überraschung zu konfrontieren (vielleicht einfach mal stumpf anschreiben und fragen, warum er/sie meine Bilder liked, aber mir seit Wochen nicht antwortet) oder aber einfach die Funktionen der sozialen Medien zu nutzen und die Person auf allen Kanälen zu blocken. Kommt es dann zu Stalking im realen Leben, sollte man sich wiederum an die Polizei wenden.

Wie kann ich verhindern, dass jemand Orbiting betreibt oder dass ich Orbiting mit einem Menschen betreibe?

Ich denke nicht, dass man Orbiting prophylaktisch verhindern kann. Das ginge höchstens dadurch, eine Person, die sich bei mir nicht mehr meldet, schon frühzeitig aktiv zu blockieren. Wichtiger scheint mir, wie in der vorherigen Frage beschrieben, die nötigen Grenzen zu setzen, sobald es passiert. Wenn es um einen selbst geht, so ist es sicherlich gut, die unter Frage 1 beschriebenen inneren Prozesse in sich selbst zu reflektieren und sich zu fragen, warum man von der Person nicht ablassen kann, sich aber auch nicht bei ihr meldet. Psychisch gesund ist es sicherlich eher, ambivalente Zustände nicht ewig aufrechtzuerhalten, sondern durch eine bewusste Entscheidung für oder gegen diese Person für Klarheit zu sorgen.

Wurde Orbiting durch Social Media erschaffen oder verstärkt? 

Erschaffen wurde es hierdurch sicherlich nicht, da es entsprechende Tendenzen (siehe Frage 3) schon früher gab und das Thema wahrscheinlich so alt wie die Menschheit ist. Allerdings haben soziale Medien orbiting natürlich viel einfacher und dadurch viel besser sichtbar gemacht. Neu ist im Gegensatz zu den alten orbiting-Methoden im realen Leben ist allerdings nach meiner Einschätzung, dass die Hemmschwelle niedriger ist – weil die Scham, die man vielleicht noch beim Ertappt Werden im realen Leben empfunden hätte, in den Weiten des Internets natürlich wegfällt.

Der Artikel in der WELT

Den am 5.11.21 online in der WELT veröffentlichten Artikel kann man hier nachlesen. Der Absatz, in dem ich in (kleinen) Auszügen wiedergegeben werde, ist dieser:

Leider ist dieser Fall ein solcher, bei dem ich es im Nachhinein ein Stück weit bereue, ein Interview gegeben zu haben. Zwar werde ich korrekt zitiert (auch wenn es ein wenig wo wirkt, als käme das mit den 99 % von mir, was es nicht tut), jedoch fühle ich mich nicht wirklich wohl damit, in einem Artikel aufzutauchen, der vom Stil her ein wenig an die Bravo erinnert und nicht meinen Geschmack in Sachen Seriosität trifft. Zumal es natürlich schade ist, dass aus meinen Interviewantworten nur so ein kleiner Bruchteil verwendet wurde, und dann nicht einmal das, was aus meiner Sicht interessant oder wissenswert gewesen wäre – wobei es journalistisch auch angemessen gewesen wäre, bei der Frage nach dem Typ Mensch, der Orbiting betreibt, nicht nur die Sichtweise des Kollegen Steffes-Holländer, der narzisstische Motive ins Feld führt, zu erwähnen, sondern daneben auch meine Sichtweise (s. o., zweite Frage). Daher missfällt mir auch die Überschrift ein gutes Stück weit. Und dann ist leider ausgerechnet in dem oben abgebildeten Abschnitt noch ein Tippfehler (bei “oder Person” fehlt ein “die”). Alles in allem ein bisschen sad.

An dieser Stelle möchte ich umso mehr noch einmal erwähnen, dass ich mit Presseanfragen zu psychologischen Themen bisher stets gute Erfahrungen gemacht habe und dieser Fall eine Ausnahme darstellt. Und da so ein Vorfall mir vor Augen führt, wie gut ich selbst schreiben kann, habe ich das diese Woche gleich zweimal wieder getan – nämlich mit eben diesem Artikel und hier zum Thema Gendern, drittem Geschlecht & Co.

© Dr. Christian Rupp 2021