Über das Störungsbild ADHS – Teil 1: Symptome bei Kindern und Erwachsenen im Vergleich

Über die Symptome von ADHS bei Kindern existieren bereits viele Fehlannahmen – die Erscheinungsform bei Erwachsenen ist hingegen weitgehend unbekannt.

Die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (kurz ADHS) gehört wohl zu den in der Öffentlichkeit am wenigsten ernst genommenen psychischen Störungen. Da ich mich seit meiner Bachelorarbeit vor 10 Jahren viel theoretisch mit dem Thema auseinandergesetzt habe und seit Jahren immer wieder erwachsene Patient:innen mit ADHS behandle, ist es mir nun ein besonderes Anliegen, über diese so oft missverstandene Störung zu berichten.

Symptome

Wie der Name bereits suggeriert, sind die Kennzeichen der ADHS zum einen eine Aufmerksamkeitsstörung und zum anderen ein Muster aus Hyperaktivität und Impulsivität. Nicht alle drei Bereiche müssen immer zusammen auftreten, weshalb im Volksmund in der Vergangenheit auch teils von „ADS“ (Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität und Impulsivität) die Rede war. Heutzutage nimmt man hier diagnostisch keine so klare Trennung mehr vor, sondern spricht nur noch von verschiedenen „Erscheinungsformen“ der ADHS.

Doch was kann man sich nun konkret unter diesen Begriffen vorstellen? „Aufmerksamkeitsstörung“ meint vor allem das vorzeitige Abbrechen von Aufgaben, die einem von anderen Personen gestellten wurden, hohe Ablenkbarkeit und das Nicht-Beenden von Aufgaben. „Impulsivität“ meint derweil eine Unkontrolliertheit im Bereich der Gedanken, der Gefühle und des eigentlichen Handelns. Die „Hyperaktivität“ hingegen bezieht sich ausschließlich auf die Motorik, die durch Ruhelosigkeit, überschießende Energie und übermäßige Aktivität gekennzeichnet ist.

Schwierig zu diagnostizieren

Wie wird ADHS nun diagnostiziert? In der Tat wird diese Diagnose tragischer Weise oft viel zu schnell und nur nach mangelnder Diagnostik gestellt. Um die Diagnose verlässlich zu stellen, bedarf es intensiver Verhaltensbeobachtung durch psychologisches oder psychiatrisches Fachpersonal sowie durch Eltern und Lehrer:innen. Außerdem erfordert sie ausgiebige psychologische Testdiagnostik (Tests zu allgemeinen kognitiven Fähigkeiten sowie zur Aufmerksamkeit und Konzentration). Darüber hinaus muss ausgeschlossen sein, dass das Verhalten des Kindes auf sonstige, z. B. schulische Probleme oder Probleme im sozialen Umfeld, zurückzuführen ist. Da die Diagnostik so aufwändig ist, wird die Diagnose „ADHS“ leider noch zu oft ungerechtfertigt und verfrüht gestellt, wodurch nicht selten der Eindruck entsteht, jedes Kind, das einmal “rumzappelt” und mit den Gedanken abschweift, leide unter ADHS.

Die meisten wissenschaftlichen Studien berichten eine Häufigkeit von 2-5 % unter Schulkindern. Das heißt, durchschnittlich ist ein Kind in jeder Grundschulklasse betroffen. Jungen sind den meisten Schätzungen zufolge neunmal häufiger betroffen als Mädchen.

ADHS im Erwachsenenalter

Was kaum jemand weiß, ist, dass ADHS in einer großen Zahl der Fälle auch im Erwachsenenalter fortbesteht (einigen Schätzungen zufolge betrifft dies ca. ein Drittel). Allerdings ist die „erwachsene“ ADHS weniger durch nach außen hin sichtbare Hyperaktivität gekennzeichnet, da diese sich im Erwachsenenalter typischerweise zu einer ausgeprägten inneren Unruhe wandelt, die für die Betroffenen jedoch in der Regel kaum weniger qualvoll ist. Viele Betroffene berichten auch von einem dauerhaften Gefühl des “Getriebenseins” und der Unfähigkeit, zu entspannen. Da die Erwachsenenform der ADHS sich in vielen Aspekten von der kindlichen Variante unterscheidet, wurden hierfür eigene Diagnosekriterien, die sogenannten Wender-Utah-Kriterien, formuliert. Diese umfassen neben weiterhin bestehenden Aufmerksamkeitsproblemen vor allem emotionale Auffälligkeiten, d. h. eine affektive Labilität (was bedeutet, dass die Stimmung durch kleinste Auslöser schnell ins Gegenteil umschlagen kann und die Stimmung im Stunden- bis Tagesrhythmus zwischen neutral und niedergeschlagen schwanken kann), ein leicht reizbares Temperament mit schnell hochkochenden Wutreaktionen und geringer Frustrationstoleranz („kurze Zündschnur“), eine geringe Stresstoleranz gepaart mit einer schnellen Überforderung durch viele Sinneseindrücke und Anforderungen („Reizüberflutung“) sowie Desorganisiertheit und Impulsivität im Verhalten. Letzteres bedeutet vor allem Probleme bei der zielgerichteten und geplanten Umsetzung von Handlungen, was bis hin zu delinquentem Verhalten oder Suchtmittelkonsum führen kann und die Betroffenen nicht selten in eine völlig chaotische Lebenssituation stürzt. 

Hinsichtlich der Symptome überlappt die erwachsene Form der ADHS tatsächlich ziemlich stark mit der emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung, sowohl dem Borderline-Typ als auch dem impulsiven Typ. Tatsächlich kann man die Störungsbilder jedoch anhand einiger trennscharfer Merkmale unterscheiden: Bei beiden Formen der emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung findet sich im Gegensatz zur erwachsenen Form der ADHS keine Aufmerksamkeitsproblematik, und zumindest beim Borderline-Typ besteht oft eine ausgeprägte Beziehungsstörung mit Ambivalenz und Angst vor dem Verlassenwerden („Ich hasse dich, verlass mich nicht“), die bei der ADHS eher untypisch ist.

Tatsächlich zeigt auch meine persönliche Erfahrung als Behandler, dass Erwachsene mit ADHS erstaunliche Parallelen in ihren Lebensläufen aufweisen. Das liegt daran, dass fast alle Betroffenen als Kind, insbesondere in der Schule, die gleichen Abwertungs- und Ausgrenzungserfahrungen gemacht haben, denn sie gelten aufgrund ihrer Schwierigkeiten natürlich schnell als entweder „dumm“ oder „faul“ sowie als aggressive „Störenfriede“, die mit der Zeit immer mehr soziale Ausgrenzung erfahren. Dies zementiert natürlich tiefgreifende negative Annahmen, die diese Personen über sich selbst hegen, wie z. B. „Ich bin wertlos“, „Ich bin abstoßend“ oder „Ich bin unfähig, etwas zu erreichen“ – was nicht selten die Weichen für das spätere Erkranken an Depressionen stellt. Aufgrund der Schwierigkeiten der Kinder sind Eltern meist überfordert, es kommt zu vielen Konflikten in der Familie, und zu häufig rutschen die Betroffenen, gerade wenn sie in einem wenig unterstützenden Elternhaus aufwachsen, entweder in eine Drogensucht (was weitere Gründe hat, siehe Teil 3), in die Kriminalität oder in beides. Wir haben es hier also mit einer schwerwiegenden Erkrankung zu tun, die unbehandelt schnell zu einer kaum aufzuhaltenden Abwärtsspirale führt. Daher werden die folgenden beiden Teile davon handeln, was die Ursachen der ADHS sind (Teil 2) und von welcher Behandlung die Betroffenen profitieren können (Teil 3).

© Dr. Christian Rupp 2022

ADHS – Trenddiagnose oder ernste Krankheit?

Zu diesem Artikel existiert eine aktualisierte Fassung aus dem Jahr 2022, die Sie hier finden.