Autismus & das Asperger-Syndrom – Teil 4: Welche Möglichkeiten der Behandlung gibt es?

Im Hinblick auf die Behandlungsmöglichkeiten bei tiefgreifenden Entwicklungsstörungen (Überbegriff für den frühkindlichen Autismus und das Aspergersyndrom) hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten jede Menge getan. Vorab muss aber dennoch ganz klar gesagt werden: Eine kausale Therapie, d.h. eine Heilung, die die Ursache der Störungen behebt, gibt es nicht. Was ich in diesem vierten und letzten Teil zu diesem Thema jedoch vorstellen werde, sind mehrere viel versprechende Therapieprogramme, mit denen insbesonders dann, wenn mit ihnen früh begonnen wird, erstaunliche Erfolge erreicht werden können. Damit konkret gemeint ist eine Abschwächung der oftmals sehr beeinträchenden Symptome sowie eine Verbesserung derjenigen Fertigkeiten und Fähigkeiten, die es den Betroffenen ermöglichen, ein eigenständiges Leben zu führen. Mit anderen Worten: Die zugrunde liegende Störung, deren Ursachen ich in Teil 3 vorgestellt habe, besteht weiterhin, aber die Betroffenen lernen, ihre vorhandenen Fähigkeiten so weit auszubauen und zu stärken, dass sie sich mit geringeren Einschränkungen und Schwierigkeiten in ihre Umwelt integrieren können.

Allgemeine Behandlungsziele: Was wird angestrebt?

Wichtige Voraussetzung für alle therapeutischen Angeboten ist, dass früh mit ihnen begonnen wird, d.h. möglichst in der frühen Kindheit, sobald die entsprechende Diagnose gesichert ist. Da jedes betroffene Kind eine individuelle Konstellation von Symptomen zeigt, ist auch eine individuelle Therapieplanung notwendig, was eine sehr präzise Untersuchung der vorhandenen Beeinträchtigungen und auch der Stärken des Kindes erfordert. Sehr wichtig ist auch eine eingehende und empathische Aufklärung und Beratung der Eltern, bei denen nicht selten sehr falsche Vorstellungen über die Ursache der Störungen vorliegen (“Unsere Erziehung ist schuld”). Es ist daher von besonderer Wichtigkeit, die Eltern als Kooperationspartner in die Therapie mit einzubeziehen und dafür zu sorgen, dass diese den Sinn und Zweck der einzelnen Maßnahmen nachvollziehen können, weil der Erfolg dieser stark davon abhängt, ob die Eltern die in der Therapie erlernten Fähigkeiten mit dem Kind zu Hause weiter trainieren und somit festigen. Eine wichtige Inhalte, die die meisten Therapieprogramme beinhalten, seien hier nachfolgend genannt:

  • Förderung sozialer Kompetenzen (z.B. Interaktion mit Gleichaltrigen)
  • Förderung der Sprache und Kommunikationsfähigkeit (Hierunter fällt v.a. logopädische Therapie)
  • Förderung der emotionalen Kompetenz (z.B. Emotionen beim Gegenüber entdecken, deuten und darauf reagieren)
  • Förderung von allgemeinen Fertigkeiten zur praktischen Lebensführung (Training konkreter Abläufe wie z.B. Einkaufen, Termine vereinbaren, Behördengänge, etc.)
  • Förderung der motorischen Fähigkeiten (Physiotherapie)

Verhaltenstherapeutische Therapieprogramme

Im Rahmen von verhaltenstherapeutischen Therapieangeboten geht es im Wesentlichen darum, dass unerwünschtes und für das Kind schädliches Verhalten (z.B. aggressive Wutausbrüche und Selbstverletzung) dahingehend beeinflusst wird, dass das Kind es immer seltener zeigt und es zunehmend durch alternative, produktivere Verhaltensweisen ersetzt. Zusätzlich sollen in einem zweiten Schritt neue Verhaltensweisen aufgebaut, d.h. trainiert werden – hier findet sich die obige Auflistung der vier Punkte wieder. Das ganze klingt zugegebenermaßen etwas technisch und damit schnell abschreckend; deshalb möchte ich zwei sehr erfolgreiche Programme etwas plastischer darstellen.

1. Angewandte Verhaltensanalyse (ABA) bzw. Frühförderungsprogramm nach Lovaas

Hierbei handelt es sich um ein Frühförderungsprogramm, welches eine über mehrere Jahre ausgedehnte, sehr intensive Therapie mit dem betroffenen Kind vorsieht; ausgelegt ist es sowohl für den frühkindlichen Autismus als auch für das Asperger-Syndrom. Im ersten Jahr der Behandlung steht die Verringerung von selbstschädigendem und aggressivem Verhalten im Vordergrund, im zweiten Jahr liegt der Fokus auf der Sprachförderung und der Förderung sozialer Interaktion, insbesondere mit Gleichaltrigen. Das dritte Jahr dieses Programms fokussiert derweil auf den angemessenen Ausdruck von Emotionen und das Lernen durch Beobachtung.

Das aus behavioristischen Theorien abgeleitete Prinzip der angewandten Verhaltensanalyse wurde in Deutschland lange Zeit eher skeptisch und ablehnend behandelt, da der Behaviorismus als Richtung der Psychologie (der beobachtbares Verhalten als einzigen möglichen Forschungsgegenstand der Psychologie ansah und somit sämtliche kognitiven und emotionalen Komponenten auszuklammern versuchte) in Deutschland nie sehr populär war und Therapiemethoden, die auf wiederholtem Üben oder sogar “Drill” beruhen, (zurecht) verpönt waren. Bei dem hier beschriebenen Verfahren handelt es sich jedoch um eine sehr moderne Form, die im Hinblick auf die Behandlung der typisch autistischen Defizite nicht zuletzt deshalb sehr erfolgreich ist, weil die stark strukturierte Vorgehensweise dem typischen Denksystem der betroffenen Kinder entgegen kommt. Das Programm setzt jedoch zweierlei voraus: zum einen, dass dem Kind sowohl durch den Therapeuten/die Therapeutin als auch durch die Eltern sehr viel Zeit gewidmet werden kann, um die erlernten Fähigkeiten konsequent auch jenseits der Therapiesitzungen zu fördern und zu festigen. Denn dies ist, wie bei allen Therapieprogrammen für tiefgreifende Entwicklungsstörungen, eine unerlässliche Voraussetzung für den Erfolg der Therapie, da autistische Kinder große Schwierigkeiten damit haben, das in der Therapie Erlernte in ihren Alltag zu transferieren und dort anzuwenden. Die zweite Voraussetzung ist finanzieller Natur: Das Programm sieht eine intensive Therapie bzw. Betreuung von 40 Stunden pro Woche vor. Dies ermöglicht ohne Frage eine bestmögliche Förderung des Kindes, ist jedoch für die meisten Eltern leider nicht bezahlbar. Eventuell werden gesetzliche und private Krankenversicherungen in Zukunft zumindest Teile der Kosten tragen, momentan ist dies meines Wissens leider noch nicht der Fall.

2. TEACCH

Diese inhaltlich schon viel verratende Abkürzung steht für “Treatment and Education of Autistic and related Communication Handicapped Children”. Es handelt sich um ein Förderungsprogramm, dessen Besonderheit darin besteht, dass es für das Trainieren der relevanten Fähigkeiten (Kommunikation, soziale Interaktion, emotionale Kompetenz) an den autismustypischen Sonderinteressen, vor allem für Regeln und Pläne, sowie den meist gut ausgebildeten visuell-räumlichen Fähigkeiten anknüpft. Das Prinzip, das sich durch das gesamte Programm zieht, heißt “Strukturiertheit”. Für alle Therapielemente werden visuelle Informationen verwendet, wie Pläne, farbige Kodierungen und hochgradig strukturierte Aufgabenstellungen. Das Prinzip der Strukturiertheit wird der veränderten Wahrnehmung gerecht, die Autisten typischerweise von ihrer Umwelt haben: Wie in Teil 3 beschrieben, fällt es den betroffenen Kindern extrem schwer, die in ihrer Umwelt auf sie einprasselnden Eindrücke sinnvoll zu strukturieren, was mit Hilfe von TEACHH intensiv trainiert wird, um das Erlernen von weiteren Fähigkeiten überhaupt erst zu ermöglichen, indem das Interesse des Kindes geweckt wird.

Es erfolgt z.B. eine Einteilung des Raums, beispielsweise des Kinderzimmers oder der gesamten Wohnung, in verschiedene Bereiche, die alle mit einer bestimmten Aktivität assoziiert sind, z.B. mit “Hausaufgaben machen”, “essen” oder “verweilen/entspannen”. Zeitliche Abläufe, wie z.B. der Ablauf einer Therapiesitzung, werden ebenso strukturiert wie das Material oder der Arbeitsplatz. Unordnung sollte unbedingt vermieden werden, da dies autistische Kinder extrem unruhig machen oder gar zu Verzweiflungs- oder Wutanfällen führen kann. Für jede Therapiesitzung sollte es einen übersichtlichen Plan dafür geben, was wann in welcher Reihenfolge gemacht wird und was wann von dem Kind gefordert wird. Zu jedem Zeitpunkt muss dem Kind die Struktur anhand eines visuell leicht zu erfassenden Plans (z.B. mit Hilfe eindeutiger Abbildungen und Piktogramme) ersichtlich sein, und Belohnungen sollten ein fester Bestandteil des Trainings sein. Der Raum, in dem die Therapie stattfindet, sollte überdies möglichst wenige Reize enthalten, die Ablenkung provozieren könnten, und die verbalen Aufforderungen der Therapeutin/des Therapeuten sollten kurz und eindeutig sein.

Wie bei der angewandten Verhaltensanalyse auch basiert der Erfolg von TEACHH auf vielen Wiederholungen, um das Erlernte zu festigen, und es handelt sich ebenso um eine Langzeittherapie, mit der in einem möglichst frühen Alter begonnen werden sollte. Es sollte auch hier das gesamte Umfeld einbezogen werden, sodass Eltern, Geschwister, ggf. Erzieher_innen und Lehrer_innen “an einem Strang ziehen”. Denn auch hier muss der Transfer des Gelernten in den Alltag explizit gefördert werden, da die betroffenen Kinder, wie oben erwähnt, hiermit große Schwierigkeiten haben. Der Vorteil von TEACHH besteht darin, dass das Programm sowohl in der 1:1-Situation zwischen Kind und Therapeut_in angewendet werden kann als auch von Eltern zu Hause, im Kindergarten, in der Schule oder (bei Erwachsenen) auch am Arbeitsplatz. Es ist somit finanziell nicht notwendigerweise so belastend wie die angewandte Verhaltensanalyse, dennoch erfordert es von allen Beteiligten ein ebenso großes Maß an Zeit und Engagement im Umgang mit dem betroffenen Kind (oder Erwachsenen).

Medikamentöse Behandlung

Medikamente kommen bei der Behandlung autistischer Störungen nur am Rande zum Einsatz, und wenn, dann nur zur Behandlung der sekundären Beeinträchtigungen, die mit dem Autismus oder dem Asperger-Syndrom eingergehen. So werden z.B. teilweise atypische Neuroleptika, Lithium oder Antikonvulsiva (ursprünglich zur Epilepsie-Behandlung entwickelt) zur Reduktion des aggressiven und selbstverletzenden Verhaltens und mitunter selektive Serotoninwiederaufnahmehemmer (bekannt vor allem aus der Behandlung von Depressionen) im Hinblick auf die stereotypen, ritualisierten Verhaltensweisen und depressive Zustände verschrieben. Bei starker Hyperaktivität und impulsivem Verhalten werden zudem manchmal (analog zur Behandlung von ADHS) Stimulanzien wie Methylphenidat (bekanntester Handelssname: Ritalin ®) angewendet. Bei alldem ist jedoch bezüglich der oft nicht unerheblichen Nebenwirkungen immer genau das Kosten-Nutzen-Verhältnis zu beachten und zu überprüfen, ob ähnliche Erfolge nicht auch durch verhaltenstherapeutische Maßnahmen erreicht werden können.

Delphintherapie

Diesem Therapieangebot möchte ich aus zwei Gründen einen weiteren Absatz widmen. Zum einen ist es so, dass sehr viele Familien mit autistischen Kindern diese Möglichkeit ausprobieren oder zumindest in Betracht ziehen, weil sie keine andere Möglichkeit sehen. Zum anderen habe ich selbst im vergangenen Jahr ein Praktikum bei einer entsprechenden Institution in den USA gemacht, um einen Einblick in das Thema zu erhalten. Das große Problem des ganzen ist, dass bisher wissenschaftlich nicht nachgewiesen werden konnte, dass der Kontakt mit den Delphinen tatsächlich irgendeinen langfristigen Therapieeffekt bringt (ungeachtet der Störung bzw. Behinderung des Kindes), sodass auch keine Krankenversicherung der Welt die Kosten hierfür übernimmt.  Zusätzlich konnte nicht gefunden werden, dass eine Therapie mit Delphinen einer Therapie mit anderen Tieren, die in unseren Breiten leben (Pferde, Hunde…) überlegen wäre. Es liegen jedoch auch bisher nur wenige Untersuchungen hierzu vor. Insgesamt zeichnet sich also ein unklares Bild ab, das ich nun versuchen möchte mit meinen eigenen Eindrücken zu ergänzen.

Die Institution, bei der ich mein Praktikum gemacht habe, bietet eine Therapie von ein oder zwei Wochen Dauer an, die sich aus zwei Bausteinen zusammensetzt: jeweils pro Tag einer ca. 30 Minuten langen “water session”, während der das Kind auf verschiedene Weise mit einem Delphin im Wasser interagiert, und einer ca. 45 Minuten langen “classroom session”, wo, genau wie bei den beschriebenen verhaltenstherapeutischen Programmen, systematisch einzelne Fähigkeiten, z.B. verbale Kommunikation, motorische Fähigkeiten oder Sozialverhalten spielerisch trainiert werden. Allein diese Zweiteiligkeit (die natürlich sinnvoll ist) macht es sehr schwierig, zu untersuchen, auf welchen Baustein ein eventuell erreichter Erfolg zurückzuführen ist. Was ich auf Basis meiner Beobachtungen sagen kann, ist, dass die autistischen Kinder (die dort gegenüber den anderen Kindern, die größtenteils geistig und/oder körperlich behindert waren, nur einen kleinen Teil ausmachten) durchaus von beiden Bausteinen profitiert haben. Von den Elementen der classroom sessions war dies zu erwarten, da diese zumindest zu einem großen Teil irgendeine wissenschaftliche Basis haben. Aber auch in der Interaktion mit den Delphinen im Wasser waren einige der autistischen Kinder (nicht aber alle) oftmals wie ausgewechselt. Ein von mir betreuter neunjähriger Junge (wahrscheinlich mit dem Asperger-Syndrom) beispielsweise, der mit Menschen so gut wie gar nicht interagierte oder kommunizierte und “an Land” auch keinerlei Emotionen zeigte, blühte im Wasser förmllich auf, lachte und strahlte über das gesamte Gesicht und interagierte geradezu liebevoll mit dem Delphin. Allerdings bildeten “Meerestiere” auch das spezifische Sonderinteressengebiet dieses Jungen, was durchaus relevant sein kann. Ich möchte hierbei betonen, dass dies ein EInzelfallbericht ist, der nicht verallgemeinert werden sollte. Es gab auch Kinder, die meines Erachtens das Wasser am liebsten sofort wieder verlassen hätten und das ganze gar nicht so toll fanden.

Insgesamt habe ich mir auf Basis meiner Erfahrungen eine differenzierte Meinung zur Delphintherapie gebildet. Ich denke, dass die Tiere durchaus als “Eisbrecher” fungieren und das Kind aufgrund der einzigartigen Erfahrung in ganz neue emotionale Zustände versetzen können, die möglicherweise die Tür für weitere Veränderungen im Rahmen strukturierter Trainings öffnen können, weil der Kontakt zu dem Delphin nicht zuletzt auch für die meisten Kinder eine großartige Belohnung darstellt und somit Motivation für die “classroom session” erzeugen kann. Außerdem darf man nicht vergessen, dass die gesamte Familie für eine oder zwei Wochen aus ihrem oft bedrückenden Alltag herausgerissen wird und in traumhafter Umgebung unter Palmen außergewöhliche Erfahrungen macht, was natürlicherweise bei allen Beteiligten die Stimmung und möglicherweise auch den Umgang miteinander verbessert. Wie viel Prozent der eventuell erreichten Veränderungen jedoch nach 5 Tagen mit insgesamt nur rund 6 Stunden Therapie tatsächlich erhalten bleibt und in den Alltag des Kindes transferiert werden kann, bleibt unklar und für mich höchst fragwürdig. Zumal ist diese Form der Therapie weder bei der Institution, wo mein Praktikum stattgefunden hat, noch bei anderen Einrichtungen als preiswert zu bezeichnen. Für Familien aus der Umgebung, die täglich dorthin kommen können, fallen tatsächlich nur die Kosten für die Therapie an, die sich auf 2200$ für 5 Tage belaufen. Für Familien aus Europa hingegen kommen die Kosten für die Flüge, das Hotel und den Mietwagen noch hinzu, und schon liegen wir schnell bei 10000€. Dies ist nicht als Vorwurf gemeint – die Haltung der Delphine und das Personal müssen schließlich bezahlt werden, und die besagte Einrichtung ist auch durchaus sehr bemüht, Aufenthalte für ärmere Familien durch Spenden zu finanzieren.

Worauf ich damit hinweisen will, ist, dass man, gegeben die verhältnismäßig kurze tatsächliche Therapiezeit und die Unklarheit der tatsächlich wirksamen Faktoren, eventuell eher auf Therapieangebote mit in unseren Breiten lebenden Tierarten ausweichen sollte. Denn der Mythos um die heilende Kraft der Delphine ist einer, den ich nur sehr marginal unterstütze. Natürlich sind diese Tiere sehr, sehr intelligent, sonst wären sie nicht in der Lage, derart komplexe Bewegungsabläufe zu lernen. Aber eines muss einem klar sein: Diese Tiere sind hochgradig konditioniert – und das Kind ziehen sie nicht deshalb an der Rückenflosse durchs Wasser oder geben ihm einen “Kuss”, weil sie es mögen oder ihm helfen wollen, sondern weil sie dafür vom Delphintrainer einen Fisch zu fressen bekommen. Ethische Aspekte der Haltung von Tieren in Gefangenschaft mal ganz außen vor gelassen. Deshalb möchte ich, obgleich ich davon überzeugt bin, dass zumindest die Verantwortlichen der Einrichtung, wo ich mein Praktikum absolviert habe, ihrer Arbeit mit einer 100% altruistischen und nicht an Profit interessierten Einstellung nachgehen, alle betroffenen Eltern, die einen solchen Aufenthalt ins Auge gefasst haben, dazu anregen, ganz genau den möglichen Nutzen den nicht unwesentlichen Kosten gegenüber zu stellen.

Fazit

Dieser Teil bildete den letzten Teil der Themenreihe “Autismus und das Asperger-Syndrom”, und ich hoffe, dass ich wieder einmal einige Missverständnisse und Irrtümer aus dem Weg räumen und vielleicht der ein oder anderen betroffenen Familie einen hilfreichen Hinweis beisteuern konnte. Abschließend habe ich hier, hier und hier noch einige Links herausgesucht, die ich betroffenen Eltern, die nach weiteren Informationen, Behandlungsmöglichkeiten und gegenseitigem Austausch suchen, empfehlen kann.

© Christian Rupp 2013

ADHS – Trenddiagnose oder ernste Krankheit?

Zu diesem Artikel existiert eine aktualisierte Fassung aus dem Jahr 2022, die Sie hier finden.

Erhöhen Antidepressiva bei Kindern & Jugendlichen das Suizidrisiko?

Im Jahre 2006 wurde eine Studie von Hammad und Kollegen veröffentlicht, die in der Fachwelt einschlug wie eine Bombe. Die Studie hatte sogar die explizite Warnung der US-amerikanischen Gesundheitsbehörde FDA zur Folge, die dringend davon abriet, in der Behandlung von Depression bei Kindern und Jugendlichen (ja, das gibt es leider auch schon in diesen Altersklassen) unbedingt auf Antidepressiva (also die Form von Psychopharmaka, die sich als wirksam bei Depression erwiesen hat) zu verzichten.

Was hatten Hammad und Kollegen in ihrer Studie herausgefunden?

Nun, der Aufbau der Studie war praktisch sehr aufwändig, ist aber leicht nachzuvollziehen. Es wurde, vereinfacht gesagt, verglichen, wie sich das Risiko für Suizid („Selbstmord“) in Abhängigkeit von einer Behandlung mit verschiedenen Antidepressiva verändert. Betrachtet wurden unter anderem SSRIs (Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer), die modernere Form der Antidepressiva, sowie die älteren, mit mehr Nebenwirkungen behafteten tryzyklischen Antidepressiva (insgesamt wurden 9 verschiedene verglichen).
So, nun könnte man denken, die Wissenschaftler hätten einfach zwei randomisierte (d.h. zufällig zusammen gewürfelte) Gruppen von depressiven  Jugendlichen genommen, der einen Gruppe Medikamente verabreicht, der anderen nicht, und am Ende geguckt, in welcher Gruppe sich mehr Patienten suizidieren. Auch wenn dieses Studiendesign eine eindeutige Antwort geliefert hätte, ist es natürlich so nicht abgelaufen. Aus ethischer Sicht wäre dies völlig unvertretbar gewesen, zumal Medikamentenstudien mit Minderjährigen nicht durchgeführt werden. Außerdem ist es gesetzlich festgeschrieben, dass die vorrangige abhängige Variable (also das, was in der Studie hauptsächlich ermittelt/gemessen wird) niemals die Anzahl von Suiziden sein darf.

Was wurde also stattdessen gemacht?

Hammad und Kollegen entschieden sich, bereits aus früheren kontrollierten Studien vorliegende Patientenakten zu untersuchen. D.h., es wurde auf Datenbanken nach Krankheitsverläufen gesucht, in denen in irgendeiner Form von Suizid die Rede war. Dann wurde, vereinfacht gesagt, geschaut, wie viele von diesen Patienten mit Antidepressiva behandelt worden waren.
Die abhängige Variable war aber nun nicht die Zahl der Suizide, sondern die (anhand der Dokumentation in den Patientenakten ermittelte) Anzahl von laut geäußerten Suizidgedanken, d.h. Gedanken daran, sich das Leben zu nehmen. Betrachtet worden waren in den von Hammad und Kollegen zusammengefassten Studien außerdem folgende antidepressive Wirkstoffe: Fluoxetin, Paroxetin, Citalopram, Sertralin und Fluvoxamin (selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, kurz SSRIs) sowie Bupropion und Venlafaxin als selektive Serotonin- und Noradrenalinwiederaufnahmehemmer und Mirtazapin als neuartiges Antidepressivum, das noch spezifischer auf das Serotonin-System wirkt.

Das Ergebnis der Studie von Hammad sah wie folgt aus: unabhängig von der genauen Sorte des Medikaments hatten die Jugendlichen mit Medikation ein ca. doppelt so hohes (um den Faktor 1,95 erhöhtes) Risiko für suizidale Gedanken wie jene ohne Medikation. Das Ergebnis war statistisch signifikant, d.h. nicht durch Zufall erklärbar. In anderen Worten: Die Einnahme von Antidepressiva war offenkundig begleitet von mehr Gedanken daran, sich das Leben zu nehmen, als der Verzicht auf sie. Betrachtete man nur die Studien zu SSRIs, ergab sich übrigens ein um den Faktor 1,66 erhöhtes Risiko. Dieses Ergebnis hatte den oben beschriebenen Aufschrei und die damit verbundene Warnung als Folge. Nach 2006 brach die Anzahl der an depressive Kinder und Jugendliche verschriebenen Medikamente massiv ein.

Aber…

Nach 2006 nahm die Zahl der Befunde, die die Ergebnisse von Hammad und Kollegen in Frage stellten, enorm zu. Die im Folgenden genannten Ergebnisse beziehen sich allerdings ausschließlich auf SSRIs, nicht auf die anderen Medikamentengruppen. So zeigten Mann und Kollegen 2006 anhand einer Autopsie-Studie, dass nur wenige jugendliche Suizidopfer Antidepressiva (SSRIs) eingenommen hatten.

Korrelative (=Zusammenhangs-) Studien wie die von Gibbons und Kollegen aus den Jahren 2005 und 2007 zeigten, dass die Suizidraten von jugendlichen Patienten anstiegen, während die Zahl der Verschreibungen von SSRIs abnahm. Aber Achtung: Das lässt keine eindeutigen Rückschlüsse darauf zu, was Ursache und was Wirkung ist. Es ist theoretisch auch möglich, dass Ärzte angesichts steigender Suizidraten noch vorsichtiger bezüglich der Verordnung von Medikamenten waren. Allerdings ergab sich in diesen Studien ein Anstieg der Suizidrate unter Jugendlichen um 14% bis 49% (verschiedene Länder wurden betrachtet), was als beträchtlich eingestuft werden kann. Zudem konnten Simon und Kollegen 2006 sogar zeigen, dass die höchste Suizidrate kurz vor Beginn der Behandlung mit SSRIs beobachtet werden konnte. Valuck und Kollegen wiesen 2004 nach, dass eine sechsmonatige Behandlung mit Antidepressiva gegenüber einer zweimonatigen Behandlung das Suizidrisiko senkt.

Alarmierend ist auch der Befund, dass nach 2006 ein Rückgang der Diagnose „Depression“ bei Jugendlichen um 30% zu verzeichnen war. Sehr wahrscheinlich schreckte man allgemein vor der Diagnose zurück, weil man nicht wusste, wie die Behandlung danach aussehen sollte: Medikamente galten ja als gefährlich, und bezüglich Psychotherapie herrschte (und herrscht) im Kinder- und Jugendbereich massive Unterversorgung.

Und erinnern wir uns doch kurz an die Studie von Hammad: Dort wurden lediglich Suizidgedanken(!) ermittelt, nicht tatsächliche Suizidfälle mit einbezogen. Es wird z.B. die plausible Möglichkeit diskutiert, ob Antidepressiva eventuell die durchaus positive Wirkung haben, dass suizidale Gedanken überhaupt erst geäußerst werden. Dies ist immerhin die Voraussetzung dafür, dass therapeutisch auf diese Gedanken eingegangen werden kann. Mehr zu der Frage, wie Antidepressiva sich (indirekt) auf tatsächliche Suizidversuche auswirken können, finden hier.

Insgesamt lässt sich also auf Basis des heutigen Kenntnisstands das Fazit ziehen, dass Antidepressiva (vor allem SSRIs) bei Kindern und Jugendlichen eher das Suizidrisiko senken als es zu erhöhen. 2007 wurden daher die Warnung der Gesundheitsbehörden revidiert und die Warnhinweise auf den Medikamentenpackungen entfernt. Anzumerken ist dennoch, dass aus ethischen Gründen keine Psychopharmaka (genau wie irgendwelche anderen Medikamente) an Kindern oder Jugendlichen getestet werden, sondern immer nur an erwachsenen Probanden. Da somit die Folgen der Einnahme bei dieser jungen Patientengruppe relativ unbekannt sind, ist bei der Verschreibung immer Vorsicht geboten.

© Christian Rupp 2013

Depression – Teil 1: Modeerscheinung oder ernst zu nehmende Störung?

“Depression – wenn ich das schon höre! Die Leute müssen sich einfach mal mehr zusammenreißen, dann tut sich das von alleine!”

“Das sind doch die, die sich dann irgendwann vor die Schienen werfen!”

“Als ob das ne Krankheit wäre – mir geht‘s auch manchmal beschissen, und ich jammere nicht so rum.”

All das sind Vorurteile über die zweithäufigste aller psychischen Störungen – die Depression. Ich möchte gerne mit diesem Artikel dazu beitragen, über diese schwerwiegende Krankheit aufzuklären und so dazu beitragen, das Stigma ein wenig zu lösen, das auf ihr lastet. Gleichzeitig ist es mir ein Anliegen, deutlich zu machen, dass „Depression“ eine sehr spezifische Störung beschreibt, deren Diagnose ein genaues Nachfragen und weitere Diagnostik erfordert – und es sich nicht um eine diffuse Sammelkategorie für psychische Probleme handelt.

Die Depression ist die häufigste der so genannten Affektiven Störungen, d.h. Störungen, die die Stimmung und die Gefühlswelt betreffen. In diesem Artikel beschränke ich mich auf die so genannte Unipolare Depression (auch genannt: Major Depression) und klammere die weitaus selteneren Bipolaren Störungen aus, die sich durch eine Mischung aus depressiver und übersteigert guter Stimmung (Manie/Hypomanie) auszeichnen. Auch auf die Dysthyme Störung (grob gesagt: leichtere Form der Depression, die dafür aber über Jahre hinweg andauert) werde ich in diesem Beitrag nicht weiter eingehen, weil dies den Rahmen sprengen würde.

Häufigkeit & typischer Verlauf

Fakt ist: Das Risiko eines Menschen, in seinem gesamten Leben an einer Depression zu erkranken, liegt bei ca. 10-15 %. Das bedeutet: Von zehn Menschen in einem Raum wird durchschnittlich mindestens einer in seinem Leben eine depressive Episode durchlaufen. Von der Weltgesundheitsorganisation WHO wurde 1996 eine Studie durchgeführt, in der der das Ausmaß an Beeinträchtigung ermittelt wurde, das die verschiedenen „Volkskrankheiten“ bei den Betroffenen verursachen. Die Unipolare Depression rangierte mit großem Abstand auf Platz 1, gefolgt von Alkoholmissbrauch. Erst auf Platz 3 findet sich mit der Osteoarthritis eine organische Krankheit. Darüber hinaus ist Depression auch eine der tödlichsten Krankheiten. 10-15% der Betroffenen sterben durch Suizid; ca. 50% aller Suizide kann man auf Depression zurückführen. Der Grund, warum das alles so tragisch ist, ist, dass Depression eine so gut behandelbare Störung ist. Im Durchschnitt werden zwei Drittel der Erkrankten wieder völlig gesund, ein Drittel immerhin teilweise. 50% der Patienten erleben allerdings irgendwann in ihrem Leben eine erneute depressive Episode. Daran erkennt man schon: Depression ist eine phasenhaft verlaufende Störung, d.h., die depressive Symptomatik tritt in Form von Episoden auf, zwischen denen es den Betroffenen oft über viele Jahre, manchmal aber auch nur wenige Monate wieder gut und manchmal leider nur ein wenig besser geht (man spricht entsprechend von „Teil- oder Vollremission im Intervall“). Wenn jemand mindestens schon die zweite depressive Episode erlebt, lautet die Diagnose dann „Rezidivierende (= wiederkehrende) depressive Störung“.

Woran man eine Depression erkennt und warum man diese Diagnose niemals leichtfertig stellen sollte

Es ist sehr wichtig zu wissen, dass Depression mehr als nur Niedergeschlagenheit oder Traurigkeit ist. Es ist mehr als lediglich „schlechte Stimmung“. Und es gibt offizielle Diagnosekriterien, von denen eine bestimmte Anzahl (gemäß dem Diagnosesystem ICD-10 z. B. zwei Haupt- und zwei Nebensymptome) erfüllt sein müssen, damit man die Diagnose stellen kann. Und je nach Anzahl und Schwere der Symptomatik unterscheidet man dann eine leichte, mittelschwere oder schwere depressive Episode. Diesen Punkt betone ich deshalb so sehr, weil es leider im Gesundheitssystem zu häufig vorkommt, dass die Diagnose „Depressive Episode“ voreilig und mitunter leichtfertig gestellt wird, ohne dass man überhaupt ausreichend viele Fragen zu den Symptomen und deren Schwere und Dauer gestellt hat. Teilweise liegt das zumindest in der Ärzteschaft meiner Erfahrung nach daran, dass psychische Störungen im Medizinstudium sehr stiefmütterlich behandelt werden, was oft zum Ergebnis hat, dass bei den jungen Ärztinnen und Ärzten hängen bleibt: „Wenn der Patient was Psychisches berichtet, dann…‘Depression‘ aufschreiben“.

Jeder, der bei mir schon einmal ein Erstgespräch wegen einer depressiv anmutenden Symptomatik hatte, weiß, dass ich hier grundsätzlich sehr genau nachfrage. Und das hat gute Gründe: Erstens macht es einen Unterschied für die Behandlung, die sich nämlich an offiziellen Behandlungsleitlinien orientieren sollte. Bei Anpassungsstörungen (hiervon spricht man, wenn eine depressiv oder ängstlich anmutende Symptomatik besteht, die jedoch die Kriterien für eine Depression eben nicht erfüllt und in Reaktion auf ein besonders belastendes Ereignis entstand) oder leichten depressiven Episoden sollte man z. B. auf ein Antidepressivum (also ein Medikament) verzichten, während man bei einer schweren depressiven Episode unbedingt eines geben sollte. Zweitens hat diese Inflation der mitunter gar nicht gerechtfertigten Depressionsdiagnosen gravierende Folgen auf gesellschaftlicher Ebene. Zum einen ergibt sich, wenn bei psychischen Problemen zu wenig differenziert wird und voreilig eine gar nicht pathologische Problematik das Label „Depression“ erhält, fälschlicherweise in der Gesellschaft das Bild, quasi alles Psychische sei Depression. Das wiederum hat fatale Folgen für die Einstellung der Gesellschaft zu diesem Thema und nährt Vorurteile, wie ich sie am Anfang dieses Artikels aufgelistet habe – mit dem Ergebnis, dass die Menschen, die wirklich an einer Depression leiden, wiederum erst recht nicht ernst genommen werden. Zum anderen hat diese Entwicklung direkte Folgen für unseren Sozialstaat. Ja, eine mittelgradige depressive Episode ist eine super Diagnose für eine längere Krankschreibung, und ja, es ist „hilfreich“ für einen Antrag auf Schwerbehinderung oder Erwerbsminderungsrente, wenn man noch eine Depressionsdiagnose „oben drauf“ stellt. Aber man bedenke bitte auch, dass die Gesellschaft als Gesamtheit die Kosten dafür zahlt, wenn Behandler*innen ihren Patient*innen einen gut gemeinten Gefallen tun wollen. Und umgekehrt kommt es immer wieder bei gerade jungen Patient*innen vor, dass sie auf sehr unangenehme Weise die direkten negativen Folgen einer vorschnell gestellten Depressionsdiagnose zu spüren bekommen. Nämlich dann, wenn sie eine Berufsunfähigkeits- oder private Krankenversicherung abschließen oder verbeamtet werden wollen. Wenn dann der Hausarzt, als man mal vor fünf Jahren wegen Erschöpfung und ein paar diffusen Nebenbeschwerden bei ihm war, mal eben so in die Patientenakte eine mittelgradige depressive Episode eingetragen hat (und das habe ich leider viel zu oft erlebt), wird es bei vielen Versicherungen oder der Verbeamtung (die wollen nämlich oft alle Befunde der letzten 10 Jahre kennen) nämlich heißen: „Computer sagt Nein“. Ich vertrete den Standpunkt, dass all dies triftige Gründe sind, warum man lieber ein mal zu viel als einmal zu wenig nachfragen und zudem gut überlegen sollte, bevor man diese Diagnose stellt – denn es ist keine leichte, sondern eine schwerwiegende.

Was sind nun die Symptome einer Depression?

Die folgende Darstellung der Symptome einer Depression orientiert sich an der aktuellen Klassifikation psychischer Störungen der WHO, der so genannten ICD-10. In Deutschland sind alle Psychotherapeuten und Ärzte verpflichtet, ihre Diagnosen nach diesem System zu stellen.

Die drei Hauptsymptome der Depression:

  • Depressive (also dauerhaft niedergeschlagene) Verstimmung, bei schweren depressiven Episoden auch Gefühllosigkeit/Gefühl der inneren Leere
  • Verlust des Interesses an sonst als angenehm bewerteten Aktivitäten (z.B. Hobbies) und Verlust der Fähigkeit, Freude (oder auch andere Gefühle wie Trauer) zu empfinden
  • Antriebsmangel und Ermüdbarkeit bis hin zur Antriebshemmung, bei der es den Betroffenen kaum mehr gelingt, alltäglichen Routinen wie der Körperpflege nachzukommen

Zusatzsymptome der Depression:

  • Gesteigerter oder verminderter Appetit (typisch: vermindert, gleiches gilt für Veränderungen des Gewichts)
  • Vermehrter („Insomnie“) oder verminderter („Hypersomnie“) Schlaf, sowohl in Form von Ein- als auch Durchschlafstörungen
  • Psychomotorische Verlangsamung oder Agitiertheit (bedeutet: entweder ist der Patient stark verlangsamt und träge in allen seinen Handlungen oder er ist zappelig-unruhig und kann auch innerlich nicht zur Ruhe kommen)
  • Konzentrations- und Entscheidungsschwierigkeiten
  • Müdigkeits- und Erschöpfungsempfinden
  • Minderwertigkeitsgefühle und/oder (unangemessene) Schuldgefühle
  • Ins Negative verzerrtes Denken, z. B. eine pessimistische Sicht der Zukunft mit Hilf- und Hoffnungslosigkeitserleben, eine negativ-misstrauische Sicht auf andere Menschen und die Tendenz, immer vom Schlimmsten auszugehen
  • Suizidgedanken oder Suizidversuche

Um eine leichte depressive Episode diagnostizieren, müssen zwei Haupt- und zwei Zusatzsymptome erfüllt sein – und das bedeutet, dass sie über zwei Wochen am Stück (!) bestanden haben müssen. Allein an diesem Zeitkriterium würden viele der ungerechtfertigterweise gestellten Depressionsdiagnosen wahrscheinlich scheitern. Bei einer mittelgradigen Episode müssen zwei Haupt- und drei bis vier Zusatzsymptome vorliegen, bei einer schweren Episode drei Haupt- und fünf Zusatzsymptome. Ich glaube, es wird deutlich, wie aufwendig die Diagnosestellung wirklich ist, und dabei haben wir noch gar nicht darüber gesprochen, was vor der Diagnosestellung eigentlich alles ausgeschlossen werden sollte (die so genannte „Ausschluss- oder Differenzialdiagnostik“, siehe unten).

Es gibt noch weitere Symptome, die im Zuge einer Depression auftreten können, jedoch bewusst nicht bei den Symptomen gelistet werden, die die Depression definieren. Es gibt welche, die noch relativ spezifisch für Depression sind, und andere, die genau so gut im Rahmen einer anderen Störung auftreten können.

Spezifische weitere Symptome:

  • Grübeln, definiert als eine Art des gedanklichen Sich-im-Kreis-Drehens und zu verstehen als ein erfolgloser Versuch, ein Problem zu lösen
  • Frühmorgendliches Erwachen, d. h. deutlich früheres Erwachen als üblich
  • Morgentief: Die depressiven Symptome sind vormittags deutlich ausgeprägter als während des restlichen Tages

Eher unspezifische weitere Symptome:

  • Angstzustände bis hin zu Panikattacken
  • Schmerzen jeglicher Art
  • Körperliche Symptome wie Übelkeit, Zittern, Schwindel, etc. pp.

Das Problem mit diesen drei Symptomen ist folgendes: Sie werden oft, obwohl gar nicht genug Haupt- und Zusatzsymptome vorhanden sind, als Zeichen für eine versteckte (man sprach in der veralteten psychiatrischen Lehre von der „larvierten“) Depression gesehen. Es gibt Ärzte und teilweise auch Psychotherapeuten, die das bis heute so sehen und im Grunde meinen, das letztlich alles (außer Psychosen) Depression sei, die sich nur sehr unterschiedlich äußere. Der Meinung kann man sein, jedoch ist sie nicht mit dem aktuellen Stand der Wissenschaft zu vereinbaren. Eine gute Orientierung bietet folgende einfache Regel: Wenn eine ausreichende Anzahl depressiver Haupt- und Nebensymptome erfüllt ist und obendrein (und nur im Zuge der depressiven Phase, nicht außerhalb derer!) Ängste, Schmerzen oder andere Körpersymptome auftreten, so kann man davon ausgehen, dass diese wahrscheinlich mit durch die Depression bedingt sind. Panikattacken können Symptom einer Depression sein, und Depressionen können Körpersymptome oder Schmerzen verstärken und manchmal sogar verursachen. Wenn aber gar keine richtigen Depressionssymptome vorliegen, sondern nur Ängste, Schmerzen oder Körpersymptome, dann sollte man die Depressionsdiagnose verwerfen (ich weiß, es wäre anders so schön einfach) und über eine Angststörung oder somatoforme Störung nachdenken, denn die gibt es auch und man würde sie zumindest psychotherapeutisch anders behandeln als eine Depression.

Die Ausschlussdiagnostik: Das sollte vor der Diagnosestellung (eigentlich) alles überprüft werden

Bevor man eine Depression diagnostiziert, ist es wichtig, einige körperliche Ursachen für die vorliegenden Beschwerden auszuschließen. Das Problem: Es gibt diesbezüglich sehr viele Dinge. Das „eigentlich“ verweist deshalb auf den Umstand, dass es in unserem Gesundheitssystem kaum umsetzbar ist, wirklich alle Aspekte zu überprüfen. Wohlwissend, dass die Welt kein Ponyhof ist, wird meiner Meinung nach dennoch manchmal zu wenig an Ausschlussdiagnostik betrieben, und der Pat. wird vorschnell zum Psychotherapeuten geschickt. Im Folgenden findet sich eine sicherlich nicht vollständige Liste der Dinge, die man besser einmal untersuchen könnte, bevor im schlimmsten Fall ein Patient ungerechtfertigterweise das „Psycho“-Label und die entsprechende Überweisung bekommt:

  • Ist die depressive Symptomatik Folge des Konsums eines Rauschmittels (Alkohol, Drogen) oder die Nebenwirkung eines anderen Medikaments, z. B. eines blutdrucksenkenden Mittels (gerade bei älteren Menschen nicht selten)?
  • Ist die Depressivität Teil einer anderen übergeordneten Diagnose wie z.B. Demenz, Parkinson, etc., oder Folge einer Infektion, einer Herz-Kreislauf-Erkrankung, einer Immunerkrankung (z. B. Krebs, Allergien) oder einer hormonellen Störung (Diabetes, Wechseljahre bei Frauen)?
  • Im Blut sollte man folgende Parameter anschauen, die immer wieder sehr heiße Kandidaten für depressiv anmutende Symptome sind:
    • TSH, das Schilddrüsenhormon
    • Eisenwerte (durchaus auch inkl. des Ferritinwerts oder der Transferrinsättigung)
    • B-Vitamine, v. a. Vitamin B12 (oft leider eine IGEL, die selbst gezahlt werden muss)
    • Vitamin D3 (auch meist eine IGEL)
  • Liegt eine versteckte Fructoseintoleranz vor?

Ich verstehe, dass diese Ausschlussdiagnostik aufwendig ist, keine Frage. Aber der Nutzen wiegt hier meiner Meinung und Erfahrung nach die Kosten auf, denn allzu oft stellt sich heraus, dass Psychotherapie oder ein Antidepressivum eigentlich unnötig waren, und dann hat die Krankenkasse nicht nur unnötig Geld ausgegeben (und wir erinnern uns: das trifft alle, zumindest alle gesetzlich Versicherten), sondern ein Patient hat auch unnötigerweise gewaltige Strapazen auf sich genommen – dabei war z. B. einfach nur der Vitamin D-Wert im Keller.

Hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen Depressivität und Fructoseintoleranz bzw. allgemein zwischen psychischen und psychosomatischen Problematiken wie Depression oder auch dem Reizdarmsyndrom, dem Erleben von Stress und unserem Darm (d. h. dessen Nervensystem und dessen Darmflora, also der Gesamtheit der in ihm lebenden Bakterien) möchte ich darauf verweisen, dass die Forschung in diesem Bereich sehr spannend und vielversprechend, jedoch noch zu jung und zu wenig eindeutig ist, um schon konkrete Behandlungsmöglichkeiten daraus abzuleiten. Dinge wie Stuhltransplantationen oder die gezielte Einnahme förderlicher Bifido- und Milchsäurebakterien werden durchaus in verschiedenen Bereichen schon durchgeführt, jedoch sind sie noch unausgereift und wissen wir noch zu wenig darüber, welche Bakterien genau im Darm z. B. dabei helfen könnten, Depressivität oder die Symptome eines Reizdarmsyndroms zu lindern. So rasant, wie die Forschung dort voranschreitet, kann ich mir aber gut vorstellen, dass in 10-20 Jahren die Behandlung mit bestimmten „guten“ Bakterien eine etablierte Alternative oder Ergänzung zu Antidepressiva sein wird. Wer hier mehr wissen will, sollte unbedingt die überarbeitete und aktualisierte Ausgabe des Buchs “Darm mit Charme” der Gastroenterologin Giulia Enders lesen (v. a. das letzte Kapitel).

Und was ist nun „Burnout?“

Spätestens seitdem die No Angels sich getrennt haben, ist diese scheinbare Diagnose in aller Munde. „Ausgebrannt sein“, sich “ innerlich leer fühlen“, „total erschöpft und ausgelaugt“ sind dann typische Attribute, die im medialen Alltag gerne fallen. Von fachlicher Seite ist hierbei aber große Vorsicht geboten. „Burnout“ ist, anders als Depression, tatsächlich mehr ein Modebegriff als eine offizielle Diagnose. In keinem der aktuellen Diagnosesysteme taucht sie, wenn man einmal inhaltlich verwandte Begriffe wie die “Erschöpfungsdepression” außer Acht lässt, auf, und das aus gutem Grund: „Burnout“ ist von der Symptomatik her nicht eindeutig von einer (leichten) depressiven Episode zu trennen – denn wir erinnern uns: Müdigkeit und Erschöpfungserleben sind depressive Symptome (siehe oben). Anders gesagt: „Burnout“ ist im Grunde ein anderer Begriff für Depression und klingt etwas salonfähiger, was aber das Stigma auf Depression eher verstärkt als abmildert. Daher muss auch explizit davor gewarnt werden, einen scheinbaren „Burnout“ auf die leichte Schulter zu nehmen. Um es auf den Punkt zu bringen: Die „Erfindung“ dieses Syndroms ist deshalb kritisch zu bewerten, weil so die Gefahr wächst, dass eine manifeste Depression übersehen – und folglich falsch oder gar nicht behandelt wird. Einen ausführlichen Artikel zum Thema „Burnout“ finden Sie außerdem  hier.

Im zweiten Teil dieses Artikels wird es darum gehen, was die Ursachen einer Depression sind – und wie eine Depression behandelt werden kann.

© Dr. Christian Rupp 2020