Autismus & das Asperger-Syndrom – Teil 4: Welche Möglichkeiten der Behandlung gibt es?

Im Hinblick auf die Behandlungsmöglichkeiten bei tiefgreifenden Entwicklungsstörungen (Überbegriff für den frühkindlichen Autismus und das Aspergersyndrom) hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten jede Menge getan. Vorab muss aber dennoch ganz klar gesagt werden: Eine kausale Therapie, d.h. eine Heilung, die die Ursache der Störungen behebt, gibt es nicht. Was ich in diesem vierten und letzten Teil zu diesem Thema jedoch vorstellen werde, sind mehrere viel versprechende Therapieprogramme, mit denen insbesonders dann, wenn mit ihnen früh begonnen wird, erstaunliche Erfolge erreicht werden können. Damit konkret gemeint ist eine Abschwächung der oftmals sehr beeinträchenden Symptome sowie eine Verbesserung derjenigen Fertigkeiten und Fähigkeiten, die es den Betroffenen ermöglichen, ein eigenständiges Leben zu führen. Mit anderen Worten: Die zugrunde liegende Störung, deren Ursachen ich in Teil 3 vorgestellt habe, besteht weiterhin, aber die Betroffenen lernen, ihre vorhandenen Fähigkeiten so weit auszubauen und zu stärken, dass sie sich mit geringeren Einschränkungen und Schwierigkeiten in ihre Umwelt integrieren können.

Allgemeine Behandlungsziele: Was wird angestrebt?

Wichtige Voraussetzung für alle therapeutischen Angeboten ist, dass früh mit ihnen begonnen wird, d.h. möglichst in der frühen Kindheit, sobald die entsprechende Diagnose gesichert ist. Da jedes betroffene Kind eine individuelle Konstellation von Symptomen zeigt, ist auch eine individuelle Therapieplanung notwendig, was eine sehr präzise Untersuchung der vorhandenen Beeinträchtigungen und auch der Stärken des Kindes erfordert. Sehr wichtig ist auch eine eingehende und empathische Aufklärung und Beratung der Eltern, bei denen nicht selten sehr falsche Vorstellungen über die Ursache der Störungen vorliegen („Unsere Erziehung ist schuld“). Es ist daher von besonderer Wichtigkeit, die Eltern als Kooperationspartner in die Therapie mit einzubeziehen und dafür zu sorgen, dass diese den Sinn und Zweck der einzelnen Maßnahmen nachvollziehen können, weil der Erfolg dieser stark davon abhängt, ob die Eltern die in der Therapie erlernten Fähigkeiten mit dem Kind zu Hause weiter trainieren und somit festigen. Eine wichtige Inhalte, die die meisten Therapieprogramme beinhalten, seien hier nachfolgend genannt:

  • Förderung sozialer Kompetenzen (z.B. Interaktion mit Gleichaltrigen)
  • Förderung der Sprache und Kommunikationsfähigkeit (Hierunter fällt v.a. logopädische Therapie)
  • Förderung der emotionalen Kompetenz (z.B. Emotionen beim Gegenüber entdecken, deuten und darauf reagieren)
  • Förderung von allgemeinen Fertigkeiten zur praktischen Lebensführung (Training konkreter Abläufe wie z.B. Einkaufen, Termine vereinbaren, Behördengänge, etc.)
  • Förderung der motorischen Fähigkeiten (Physiotherapie)

Verhaltenstherapeutische Therapieprogramme

Im Rahmen von verhaltenstherapeutischen Therapieangeboten geht es im Wesentlichen darum, dass unerwünschtes und für das Kind schädliches Verhalten (z.B. aggressive Wutausbrüche und Selbstverletzung) dahingehend beeinflusst wird, dass das Kind es immer seltener zeigt und es zunehmend durch alternative, produktivere Verhaltensweisen ersetzt. Zusätzlich sollen in einem zweiten Schritt neue Verhaltensweisen aufgebaut, d.h. trainiert werden – hier findet sich die obige Auflistung der vier Punkte wieder. Das ganze klingt zugegebenermaßen etwas technisch und damit schnell abschreckend; deshalb möchte ich zwei sehr erfolgreiche Programme etwas plastischer darstellen.

1. Angewandte Verhaltensanalyse (ABA) bzw. Frühförderungsprogramm nach Lovaas

Hierbei handelt es sich um ein Frühförderungsprogramm, welches eine über mehrere Jahre ausgedehnte, sehr intensive Therapie mit dem betroffenen Kind vorsieht; ausgelegt ist es sowohl für den frühkindlichen Autismus als auch für das Asperger-Syndrom. Im ersten Jahr der Behandlung steht die Verringerung von selbstschädigendem und aggressivem Verhalten im Vordergrund, im zweiten Jahr liegt der Fokus auf der Sprachförderung und der Förderung sozialer Interaktion, insbesondere mit Gleichaltrigen. Das dritte Jahr dieses Programms fokussiert derweil auf den angemessenen Ausdruck von Emotionen und das Lernen durch Beobachtung.

Das aus behavioristischen Theorien abgeleitete Prinzip der angewandten Verhaltensanalyse wurde in Deutschland lange Zeit eher skeptisch und ablehnend behandelt, da der Behaviorismus als Richtung der Psychologie (der beobachtbares Verhalten als einzigen möglichen Forschungsgegenstand der Psychologie ansah und somit sämtliche kognitiven und emotionalen Komponenten auszuklammern versuchte) in Deutschland nie sehr populär war und Therapiemethoden, die auf wiederholtem Üben oder sogar „Drill“ beruhen, (zurecht) verpönt waren. Bei dem hier beschriebenen Verfahren handelt es sich jedoch um eine sehr moderne Form, die im Hinblick auf die Behandlung der typisch autistischen Defizite nicht zuletzt deshalb sehr erfolgreich ist, weil die stark strukturierte Vorgehensweise dem typischen Denksystem der betroffenen Kinder entgegen kommt. Das Programm setzt jedoch zweierlei voraus: zum einen, dass dem Kind sowohl durch den Therapeuten/die Therapeutin als auch durch die Eltern sehr viel Zeit gewidmet werden kann, um die erlernten Fähigkeiten konsequent auch jenseits der Therapiesitzungen zu fördern und zu festigen. Denn dies ist, wie bei allen Therapieprogrammen für tiefgreifende Entwicklungsstörungen, eine unerlässliche Voraussetzung für den Erfolg der Therapie, da autistische Kinder große Schwierigkeiten damit haben, das in der Therapie Erlernte in ihren Alltag zu transferieren und dort anzuwenden. Die zweite Voraussetzung ist finanzieller Natur: Das Programm sieht eine intensive Therapie bzw. Betreuung von 40 Stunden pro Woche vor. Dies ermöglicht ohne Frage eine bestmögliche Förderung des Kindes, ist jedoch für die meisten Eltern leider nicht bezahlbar. Eventuell werden gesetzliche und private Krankenversicherungen in Zukunft zumindest Teile der Kosten tragen, momentan ist dies meines Wissens leider noch nicht der Fall.

2. TEACCH

Diese inhaltlich schon viel verratende Abkürzung steht für „Treatment and Education of Autistic and related Communication Handicapped Children“. Es handelt sich um ein Förderungsprogramm, dessen Besonderheit darin besteht, dass es für das Trainieren der relevanten Fähigkeiten (Kommunikation, soziale Interaktion, emotionale Kompetenz) an den autismustypischen Sonderinteressen, vor allem für Regeln und Pläne, sowie den meist gut ausgebildeten visuell-räumlichen Fähigkeiten anknüpft. Das Prinzip, das sich durch das gesamte Programm zieht, heißt „Strukturiertheit“. Für alle Therapielemente werden visuelle Informationen verwendet, wie Pläne, farbige Kodierungen und hochgradig strukturierte Aufgabenstellungen. Das Prinzip der Strukturiertheit wird der veränderten Wahrnehmung gerecht, die Autisten typischerweise von ihrer Umwelt haben: Wie in Teil 3 beschrieben, fällt es den betroffenen Kindern extrem schwer, die in ihrer Umwelt auf sie einprasselnden Eindrücke sinnvoll zu strukturieren, was mit Hilfe von TEACHH intensiv trainiert wird, um das Erlernen von weiteren Fähigkeiten überhaupt erst zu ermöglichen, indem das Interesse des Kindes geweckt wird.

Es erfolgt z.B. eine Einteilung des Raums, beispielsweise des Kinderzimmers oder der gesamten Wohnung, in verschiedene Bereiche, die alle mit einer bestimmten Aktivität assoziiert sind, z.B. mit „Hausaufgaben machen“, „essen“ oder „verweilen/entspannen“. Zeitliche Abläufe, wie z.B. der Ablauf einer Therapiesitzung, werden ebenso strukturiert wie das Material oder der Arbeitsplatz. Unordnung sollte unbedingt vermieden werden, da dies autistische Kinder extrem unruhig machen oder gar zu Verzweiflungs- oder Wutanfällen führen kann. Für jede Therapiesitzung sollte es einen übersichtlichen Plan dafür geben, was wann in welcher Reihenfolge gemacht wird und was wann von dem Kind gefordert wird. Zu jedem Zeitpunkt muss dem Kind die Struktur anhand eines visuell leicht zu erfassenden Plans (z.B. mit Hilfe eindeutiger Abbildungen und Piktogramme) ersichtlich sein, und Belohnungen sollten ein fester Bestandteil des Trainings sein. Der Raum, in dem die Therapie stattfindet, sollte überdies möglichst wenige Reize enthalten, die Ablenkung provozieren könnten, und die verbalen Aufforderungen der Therapeutin/des Therapeuten sollten kurz und eindeutig sein.

Wie bei der angewandten Verhaltensanalyse auch basiert der Erfolg von TEACHH auf vielen Wiederholungen, um das Erlernte zu festigen, und es handelt sich ebenso um eine Langzeittherapie, mit der in einem möglichst frühen Alter begonnen werden sollte. Es sollte auch hier das gesamte Umfeld einbezogen werden, sodass Eltern, Geschwister, ggf. Erzieher_innen und Lehrer_innen „an einem Strang ziehen“. Denn auch hier muss der Transfer des Gelernten in den Alltag explizit gefördert werden, da die betroffenen Kinder, wie oben erwähnt, hiermit große Schwierigkeiten haben. Der Vorteil von TEACHH besteht darin, dass das Programm sowohl in der 1:1-Situation zwischen Kind und Therapeut_in angewendet werden kann als auch von Eltern zu Hause, im Kindergarten, in der Schule oder (bei Erwachsenen) auch am Arbeitsplatz. Es ist somit finanziell nicht notwendigerweise so belastend wie die angewandte Verhaltensanalyse, dennoch erfordert es von allen Beteiligten ein ebenso großes Maß an Zeit und Engagement im Umgang mit dem betroffenen Kind (oder Erwachsenen).

Medikamentöse Behandlung

Medikamente kommen bei der Behandlung autistischer Störungen nur am Rande zum Einsatz, und wenn, dann nur zur Behandlung der sekundären Beeinträchtigungen, die mit dem Autismus oder dem Asperger-Syndrom eingergehen. So werden z.B. teilweise atypische Neuroleptika, Lithium oder Antikonvulsiva (ursprünglich zur Epilepsie-Behandlung entwickelt) zur Reduktion des aggressiven und selbstverletzenden Verhaltens und mitunter selektive Serotoninwiederaufnahmehemmer (bekannt vor allem aus der Behandlung von Depressionen) im Hinblick auf die stereotypen, ritualisierten Verhaltensweisen und depressive Zustände verschrieben. Bei starker Hyperaktivität und impulsivem Verhalten werden zudem manchmal (analog zur Behandlung von ADHS) Stimulanzien wie Methylphenidat (bekanntester Handelssname: Ritalin ®) angewendet. Bei alldem ist jedoch bezüglich der oft nicht unerheblichen Nebenwirkungen immer genau das Kosten-Nutzen-Verhältnis zu beachten und zu überprüfen, ob ähnliche Erfolge nicht auch durch verhaltenstherapeutische Maßnahmen erreicht werden können.

Delphintherapie

Diesem Therapieangebot möchte ich aus zwei Gründen einen weiteren Absatz widmen. Zum einen ist es so, dass sehr viele Familien mit autistischen Kindern diese Möglichkeit ausprobieren oder zumindest in Betracht ziehen, weil sie keine andere Möglichkeit sehen. Zum anderen habe ich selbst im vergangenen Jahr ein Praktikum bei einer entsprechenden Institution in den USA gemacht, um einen Einblick in das Thema zu erhalten. Das große Problem des ganzen ist, dass bisher wissenschaftlich nicht nachgewiesen werden konnte, dass der Kontakt mit den Delphinen tatsächlich irgendeinen langfristigen Therapieeffekt bringt (ungeachtet der Störung bzw. Behinderung des Kindes), sodass auch keine Krankenversicherung der Welt die Kosten hierfür übernimmt.  Zusätzlich konnte nicht gefunden werden, dass eine Therapie mit Delphinen einer Therapie mit anderen Tieren, die in unseren Breiten leben (Pferde, Hunde…) überlegen wäre. Es liegen jedoch auch bisher nur wenige Untersuchungen hierzu vor. Insgesamt zeichnet sich also ein unklares Bild ab, das ich nun versuchen möchte mit meinen eigenen Eindrücken zu ergänzen.

Die Institution, bei der ich mein Praktikum gemacht habe, bietet eine Therapie von ein oder zwei Wochen Dauer an, die sich aus zwei Bausteinen zusammensetzt: jeweils pro Tag einer ca. 30 Minuten langen „water session“, während der das Kind auf verschiedene Weise mit einem Delphin im Wasser interagiert, und einer ca. 45 Minuten langen „classroom session“, wo, genau wie bei den beschriebenen verhaltenstherapeutischen Programmen, systematisch einzelne Fähigkeiten, z.B. verbale Kommunikation, motorische Fähigkeiten oder Sozialverhalten spielerisch trainiert werden. Allein diese Zweiteiligkeit (die natürlich sinnvoll ist) macht es sehr schwierig, zu untersuchen, auf welchen Baustein ein eventuell erreichter Erfolg zurückzuführen ist. Was ich auf Basis meiner Beobachtungen sagen kann, ist, dass die autistischen Kinder (die dort gegenüber den anderen Kindern, die größtenteils geistig und/oder körperlich behindert waren, nur einen kleinen Teil ausmachten) durchaus von beiden Bausteinen profitiert haben. Von den Elementen der classroom sessions war dies zu erwarten, da diese zumindest zu einem großen Teil irgendeine wissenschaftliche Basis haben. Aber auch in der Interaktion mit den Delphinen im Wasser waren einige der autistischen Kinder (nicht aber alle) oftmals wie ausgewechselt. Ein von mir betreuter neunjähriger Junge (wahrscheinlich mit dem Asperger-Syndrom) beispielsweise, der mit Menschen so gut wie gar nicht interagierte oder kommunizierte und „an Land“ auch keinerlei Emotionen zeigte, blühte im Wasser förmllich auf, lachte und strahlte über das gesamte Gesicht und interagierte geradezu liebevoll mit dem Delphin. Allerdings bildeten „Meerestiere“ auch das spezifische Sonderinteressengebiet dieses Jungen, was durchaus relevant sein kann. Ich möchte hierbei betonen, dass dies ein EInzelfallbericht ist, der nicht verallgemeinert werden sollte. Es gab auch Kinder, die meines Erachtens das Wasser am liebsten sofort wieder verlassen hätten und das ganze gar nicht so toll fanden.

Insgesamt habe ich mir auf Basis meiner Erfahrungen eine differenzierte Meinung zur Delphintherapie gebildet. Ich denke, dass die Tiere durchaus als „Eisbrecher“ fungieren und das Kind aufgrund der einzigartigen Erfahrung in ganz neue emotionale Zustände versetzen können, die möglicherweise die Tür für weitere Veränderungen im Rahmen strukturierter Trainings öffnen können, weil der Kontakt zu dem Delphin nicht zuletzt auch für die meisten Kinder eine großartige Belohnung darstellt und somit Motivation für die „classroom session“ erzeugen kann. Außerdem darf man nicht vergessen, dass die gesamte Familie für eine oder zwei Wochen aus ihrem oft bedrückenden Alltag herausgerissen wird und in traumhafter Umgebung unter Palmen außergewöhliche Erfahrungen macht, was natürlicherweise bei allen Beteiligten die Stimmung und möglicherweise auch den Umgang miteinander verbessert. Wie viel Prozent der eventuell erreichten Veränderungen jedoch nach 5 Tagen mit insgesamt nur rund 6 Stunden Therapie tatsächlich erhalten bleibt und in den Alltag des Kindes transferiert werden kann, bleibt unklar und für mich höchst fragwürdig. Zumal ist diese Form der Therapie weder bei der Institution, wo mein Praktikum stattgefunden hat, noch bei anderen Einrichtungen als preiswert zu bezeichnen. Für Familien aus der Umgebung, die täglich dorthin kommen können, fallen tatsächlich nur die Kosten für die Therapie an, die sich auf 2200$ für 5 Tage belaufen. Für Familien aus Europa hingegen kommen die Kosten für die Flüge, das Hotel und den Mietwagen noch hinzu, und schon liegen wir schnell bei 10000€. Dies ist nicht als Vorwurf gemeint – die Haltung der Delphine und das Personal müssen schließlich bezahlt werden, und die besagte Einrichtung ist auch durchaus sehr bemüht, Aufenthalte für ärmere Familien durch Spenden zu finanzieren.

Worauf ich damit hinweisen will, ist, dass man, gegeben die verhältnismäßig kurze tatsächliche Therapiezeit und die Unklarheit der tatsächlich wirksamen Faktoren, eventuell eher auf Therapieangebote mit in unseren Breiten lebenden Tierarten ausweichen sollte. Denn der Mythos um die heilende Kraft der Delphine ist einer, den ich nur sehr marginal unterstütze. Natürlich sind diese Tiere sehr, sehr intelligent, sonst wären sie nicht in der Lage, derart komplexe Bewegungsabläufe zu lernen. Aber eines muss einem klar sein: Diese Tiere sind hochgradig konditioniert – und das Kind ziehen sie nicht deshalb an der Rückenflosse durchs Wasser oder geben ihm einen „Kuss“, weil sie es mögen oder ihm helfen wollen, sondern weil sie dafür vom Delphintrainer einen Fisch zu fressen bekommen. Ethische Aspekte der Haltung von Tieren in Gefangenschaft mal ganz außen vor gelassen. Deshalb möchte ich, obgleich ich davon überzeugt bin, dass zumindest die Verantwortlichen der Einrichtung, wo ich mein Praktikum absolviert habe, ihrer Arbeit mit einer 100% altruistischen und nicht an Profit interessierten Einstellung nachgehen, alle betroffenen Eltern, die einen solchen Aufenthalt ins Auge gefasst haben, dazu anregen, ganz genau den möglichen Nutzen den nicht unwesentlichen Kosten gegenüber zu stellen.

Fazit

Dieser Teil bildete den letzten Teil der Themenreihe „Autismus und das Asperger-Syndrom“, und ich hoffe, dass ich wieder einmal einige Missverständnisse und Irrtümer aus dem Weg räumen und vielleicht der ein oder anderen betroffenen Familie einen hilfreichen Hinweis beisteuern konnte. Abschließend habe ich hier, hier und hier noch einige Links herausgesucht, die ich betroffenen Eltern, die nach weiteren Informationen, Behandlungsmöglichkeiten und gegenseitigem Austausch suchen, empfehlen kann.

© Christian Rupp 2013

Autismus & das Asperger-Syndrom – Teil 3: Was ist die Ursache? Von Genen, Kühlschrankmüttern und Veränderungen im Gehirn

Wird Autismus vererbt? Oder liegt es an der Erziehung?

Stellt man die Frage nach der Ursache einer Störung, kann man sich diese immer auf verschiedenen Ebenen anschauen. Man kann sich u.a. die Ebene der Gene anschauen, wenn man von einer genetischen Ursache ausgeht, oder man kann sich genau die Lebensumstände und die Biographie des Betroffenen anschauen, wenn man stark von einer durch äußere Einflüsse bedingten Störung ausgeht. Worin sich psychische Störungen grundsätzlich unterscheiden, ist der Anteil, den jeweils genetische und Umweltfaktoren ausmachen, wobei man generell davon ausgehen sollte, dass sich die beiden nicht unbedingt aufaddieren (eine bestimmte Menge genetische Einflüsse + ungünstige Umwelterfahrungen = Störung), sondern dass eine Interaktion besteht, was bedeutet, dass beide Faktoren ineinander greifen: So kann es beispielsweise sein, dass eine bestimmte genetische Veranlagung generell das Risiko für eine Störung erhöht, diese aber erst ausbricht, wenn gleichzeitig bestimmte Umwelteinflüsse wie einschneidende Lebensereignisse auftreten. Was ich hier nun in sehr vereinfachter Form dargestellt habe, ist ein Beispiel für ein so genanntes Vulnerabilitäts-Stress-Modell: Die Vulnerabilität (übersetzt „Verwundbarkeit“) ist in diesem Beispiel durch eine bestimmte Genausprägung gegeben, die durch das Zusammentreffen mit „Stress“ (hierunter fallen sämtliche Stress auslösenden und körperlich wie emotional belastenden Ereignisse) zum Ausbruch einer Störung führt.

Es gibt aber noch eine dritte Ebene, auf der man Ursachenforschung betreiben kann, und diese betrachtet im Wesentlichen veränderte Prozesse im Gehirn, die man entweder anhand direkter Messungen wie MRT, fMRT, EEG, etc. oder anhand der Leistung in psychologischen Testverfahren aufdecken kann und die die Folge sowohl von genetischen Veränderungen als auch von bestimmten Umwelteinflüsse bzw. Lernerfahrungen sein können. D.h., diese Ebene ist sozusagen neutral bezüglich der Frage, was die Veränderungen in den Gehirnprozessen hervorgerufen hat, und sie bietet interessante Erkenntnisse darüber, wie sich bestimmte Symptome auf der Ebene der Gehirnfunktionen erklären lassen. Auf diese drei verschiedenen Perspektiven werde ich nun im Hinblick auf den Autismus und das Asperger-Syndrom eingehen.

Genetik

In der Tat ist im Fall des frühkindlichen Autismus und des Asperger-Syndroms der Anteil, der auf die genetische Ausstattung des Betroffenen zurückzuführen ist, sehr viel höher als bei anderen psychischen Störungen und wahrscheinlich unter diesen sogar am höchsten. Hierfür spricht die Tatsache, dass, wenn ein Zwillingskind betroffen ist, sein eineiiges Geschwisterkind, welches die identische genetische Ausstattung besitzt, in 95% der Fälle ebenfalls betroffen ist, während diese Übereinstimmungsrate (auch Konkordanzrate genannt) bei zweieiigen Zwillingen, die nur ca. 50% der Gene teilen, mit 24% sehr viel geringer ausfällt. Dies lässt auf einen vergleichsweise hohen Erklärungsanteil der Genetik schließen, da diese Übereinstimmungsraten sehr viel unterschiedlicher wären, wenn eine vorwiegend umweltbedingte Verursachung der Störung vorläge. Ebenfalls für eine genetische (Mit)verursachung spricht, dass Jungen sehr viel häufiger betroffen sind als Mädchen (was eine Rolle der Geschlechtschromosomen nahelegt) und dass tiefgreifende Entwicklungsstörungen oft mit anderen neurologischen und psychologischen Auffälligkeiten wie Epilepsie und geistiger Behinderung einhergehen. Nun folgt aber leider die kleine Enttäuschung: Bisher hat man kein eindeutiges „Autismus“-Gen ausfindig machen können, sodass man derzeit davon ausgeht, dass es sich um einen „polygenen“ Erbgang handelt, d.h. um einen solchen, der von mehreren Genen bestimmt wird.

Der aufmerksame Leser wird an dieser anmerken: Moment, es kann aber ja nicht nur an genetischen Ursachen liegen, sonst wäre die Übereinstimmungsrate bei eineiigen Zwillingen doch 100%. Goldrichtiger Einwand! Es muss einen kleinen Anteil geben, der auf die Umwelt zurückzuführen ist. Dieser ist bisher aber noch unzureichend erforscht und auch mit einem gewissen Stigma belegt, da die ursprünglichen Theorien Autismus als reines Produkt emotional abweisender elterlicher Erziehung betrachteten („Kühlschrankmutter“), was heutzutage natürlich als widerlegt gilt. Dennoch ist nicht auszuschließen, dass sich in Zukunft bestimmte Erziehungsstile oder aber andere Faktoren wie Ernährung etc. als ursächliche Faktoren im Hinblick auf diese Störungsbilder erweisen werden.

Neurobiologische Ebene: Auffälligkeiten im Gehirn

Im Gehirn autistischer Menschen finden sich einige Auffälligkeiten, die sie von gesunden Menschen abheben. Diese betreffen eine mangelnde Vernetzung der Nervenzellen in verschiedenen essentiellen Teilen des Gehirns, z.B. im Frontalhirn (exekutive Funktionen, d.h. Dinge wie planerisches und vorausschauendes Denken, flexibles Denken und Selbstüberwachungsprozesse), in der gesamten linken Hirnhälfte (unabdingbar für unsere Sprachfähigkeit), sowie im limbischen System, im Hirnstamm und im Kleinhirn (Kontrolle über das eigene Verhalten und die eigenen Gefühlsäußerungen). Als Ursache für diese mangelnde Vernetzung der Nervenzellen ist u.a. in der Diskussion, dass diese durch ein zu schnelles Wachstums der weißen Gehirnsubstanz in den ersten zwei Lebensjahren bedingt ist. Diese weiße Substanz umfasst, im Gegensatz zu den Zellkörpern der Nervenzellen, die die graue Substanz bilden, die Axone der Nervenzellen, d.h. deren lange Fortsätze, die zur Weiterleitung der elektrischen Signale nötig sind. Ein solches Signal wird vom Ende des Axons der einen Nervenzelle auf eine andere Nervenzelle übertragen, und eine solche Verbindungsstelle nennt sich Synapse. Im „autistischen“ Gehirn, so die aktuell weit verbreitete Annahme, funktionieren diese Synapsen in Folge der abnormen Entwicklung in den ersten zwei Lebensjahre nicht so wie in einem gesunden Gehirn, wodurch sich die verschiedenen in Teil 1 beschriebenen Symptome ableiten.

Neuropsychologische Ebene: Theory of Mind

Unter der „Theory of Mind“ (kurz „ToM“) versteht man in der Entwicklungspsychologie keine wissenschaftliche Theorie, sondern eine Theorie, die das Kind von seinen Mitmenschen hat. Die ToM ist ein Aspekt sozialer und emotionaler Intelligenz und beschreibt im Kern die Fähigkeit, anderen Menschen mentale Zustände, d.h. Gefühle, Absichten und Gedanken zuzuschreiben. Es geht um die Frage, ob das Kind sich in sein Gegenüber hinein versetzen und dessen Perspektive übernehmen kann – sowohl hinsichtlich des Wissens als auch bezüglich der Gefühle der Person. Letztlich ist der Zweck all dessen, das Verhalten anderer Menschen zu verstehen und vorherzusagen. Erwachsene tun dies täglich: Wenn das Auto vor uns langsam fährt und an jeder Querstraße anhält, werden wir dem Fahrer wahrscheinlich entweder den mentalen Zustand zuschreiben, dass er fremd in der Stadt ist und eine Straße sucht oder aber, dass er ein mieses A****loch ist, das mich nur ärgern will (letzteres wäre die Zuschreibung einer Absicht). Ebenso lesen wir in den Gesichtern von Menschen deren Emotionen ab und reagieren entsprechend darauf, z.B. indem wir eine traurig wirkende Person fragen, ob alles in Ordnung ist oder ihr ein Taschentuch anbieten.

Diese Fähigkeit entwickelt sich bei Kindern normalerweise im Laufe der ersten fünf Lebensjahre, ohne sich diese bewusst anzueignen. Kinder mit Autismus sind hierzu nicht oder nur sehr eingeschränkt in der Lage bzw. müssen diese Fähigkeit mühsam erlernen. Die Defizite bezüglich der ToM werden z.B. in so genannten false-belief-Aufgaben deutlich, wo in abgestufter Schwierigkeit die Fähigkeit des Kindes überprüft wird, sich in den mentalen Zustand einer anderen Person hinein zu versetzen. Hierzu werden meist Bildergeschichten wie der „Sally-Anne Test“ (ein Beispiel für die leichteste Schwierigkeitsstufe) verwendet. Ein anschauliches Video von einer „Real-Life“-Durchführung des Tests mit einem Jungen, der den Test nicht besteht, finden Sie unter anderem hier. Die Frage hierbei ist: Kann sich das Kind in die Lage von Sally hineinversetzen, die nicht mitbekommen hat, dass Anne den Keks in den Karton gelegt hat, oder nicht?

Neuropsychologische Ebene: Zentrale Kohärenz

Dieser Aspekt beschreibt eine Besonderheit der Wahrnehmung bei Autisten, die dadurch gekennzeichnet ist, dass diese ihre Umwelt nicht als Gesamtheit (d.h. zentral kohärent) wahrnehmen, sondern vielmehr als eine große Menge von Einzelteilen. Dinge werden in der Regel nicht in Bezug zu anderen Objekten wahrgenommen, sondern lediglich als sie selbst, d.h. kontextfrei. Der Fokus auf isolierte Details erklärt dabei sowohl, dass sich autistische Kinder am liebsten nur mit einzelnen Teilen ihrer Spielsachen beschäftigen, als auch viele der typischen Inselbegabungen, die das Asperger-Syndrom und den high-functioning Autismus kennzeichnen. So lässt sich die Fähigkeit des in Teil 1 erwähntes Mannes, der nach nur einem Flug über New York die gesamte Skyline Manhattans detailgetreu nachzeichnen konnte, dadurch erklären, dass er jedes einzelne Gebäude isoliert wahrgenommen hatte, anstatt den Gesamteindruck als „Skyline von Manhattan“ ins Gedächtnis einzuspeichern. Diese veränderte Wahrnehmung spiegelt sich auch in psychologischen Tests wider, z.B. im Mosaik-Test des Hamburg Wechsler Intelligenztests für Kinder (HAWIK IV), in dem Kinder mit Autismus und dem Asperger-Syndrom stark überdurchschnittlich abschneiden.

Die Kehrseite der Medaille ist derweil, dass die betroffenen Kinder sich in Details verlieren und große Probleme mit dem Bilden von Oberbegriffen und Verallgemeinerungen haben, weil dies in ihrem Wahrnehmungssystem nicht „vorgesehen“ ist. Da diese Menschen nicht in der Lage sind, Informationen somit sinnvoll zu bündeln, haben sie enorme Schwierigkeiten damit, komplexe Informationen zu verarbeiten, was z.B. bei der Interpretation sozialer Situationen unabdingbar ist.

Wie man nun sehen kann, lassen sich also für die in Teil 1 dargestellten Probleme bereits teilweise auf neuropsychologischer und neurobiologischer Ebene Erklärungen finden. Diese wiederum sind sehr wahrscheinlich größtenteils auch bestimmte genetische Prozesse zurück zu führen, wobei genau diese Prozesse bisher jedoch noch nicht bekannt sind.

Im vierten und letzten Teil wird es um Therapiemöglichkeiten bei Autismus und dem Asperger-Syndrom gehen – ein Bereich, in dem sich, wenngleich keine vollständige Heilung möglich ist, viel getan hat.

© Christian Rupp 2013

Autismus & das Asperger-Syndrom – Teil 2: Über die rätselhafte Zunahme der Häufigkeit und Autismus im Erwachsenenalter

Häufigkeit & Verlauf: Das Rätsel der wachsenden Diagnosenzahl

Was würden Sie schätzen, wie häufig der Autismus und das Asperger-Syndrom vorkommen? Nun, die Antwort hierauf ist stark abhängig vom Zeitpunkt, den man heranzieht. Aktuelle wissenschaftliche Schätzungen aus dem Jahr 2001 (Chakrabarti & Fombonne) gehen davon aus, dass etwa 0,63% aller Kinder zwischen 2 und 6 von einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung (als Oberbegriff für frühkindlichen Autismus und Asperger-Syndrom) betroffen sind, das entspricht 63 von 10000 Kindern. Davon entfallen 0,17% der Diagnosen auf den frühkindlichen Autismus (17 von 10000 Kindern), 0,08% auf das Asperger-Syndrom (8 von 10000 Kindern), und mehr als die Hälfte der Diagnosen aus dem Bereich der tiefgreifenden Entwicklungsstörungen entfällt auf die Kategorie „nicht näher bezeichnet“, d.h. es liegt eine tiefgreifende Entwicklungsstörung vor, die aber nicht genau einer der zwei Kategorien „Autismus“ oder „Asperger-Syndrom“ zugeordnet werden kann. Jungen sind dabei drei- bis viermal häufiger von frühkindlichem Autismus betroffen als Mädchen, beim Asperger-Syndrom kommen auf ein betroffenes Mädchen sogar 9 betroffene Jungen. Bei Mädchen zeigt sich im Gegenzug allerdings meist eine deutlich schwerere Symptomatik.

Der interessante Fund in Bezug auf die Häufigkeit tiefgreifender Entwicklungs-störungen ist nun, dass die Zahl der gestellten Diagnosen seit 1975 exponentiell angestiegen ist. Besagten Häufigkeitsschätzungen damals noch, dass ca. 1 von 5000 Kindern (= 0,02%) betroffen wären, nehmen aktuelle Schätzungen, wie gerade dargestellt, ca. das Dreißigfache an.

Wie kann man sich diesen Zuwachs erklären? Weintraub (2011) gibt einen guten Überblick über die möglichen Ursachen für diesen Befund, basierend auf diversen Studien, die den Erklärungsanteil verschiedener Faktoren untersucht haben. Hiernach lassen sich ca. 15% des Zuwachses dadurch erklären, dass die Aufmerksamkeit für diese Störungsbilder durch die intensive wissenschaftliche Forschung sowohl bei (Kinder)ärzten als auch bei Eltern und in der Allgemeinbevölkerung enorm zugenommen hat und hierdurch heute weniger betroffene Kinder „unentdeckt“ bleiben als früher.

Umgang mit der Diagnose

25%, so Weintraub, sind darauf zurückzuführen, dass die Diagnosen von Ärzten immer häufiger und auch früher vergeben werden, z.B. zusätzlich oder anstelle der Diagnose einer geistigen Behinderung oder dann, wenn eigentlich nur eine Verdachtsdiagnose angemessen wäre, weil mit der Diagnose einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung oft auch der Anspruch auf Therapie- und Frühförderungsmaßnahmen verbunden ist, der den betroffenen Kindern sonst nicht zustünde. Auch fällt hierunter, dass sich in den letzten Jahrzehnten die Kriterien, die für die Diagnose einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung erfüllt sein müssen, mehrfach deutlich verändert haben, und dass mit der Zeit immer bessere Möglichkeiten zur Stellung der Diagnose entwickelt wurden, z.B. der „ADOS“ (Abkürzung für „Autism Diagnostic Observation Schedule), ein standardisiertes psychologisches Testverfahren, welches sehr gut die relevanten Symptombereiche erfassen kann.

Ältere Eltern

Weitere 10% gehen nach Weintraub darauf zurück, dass das durchschnittliche Alter der Eltern in den letzten 35 Jahren stetig gestiegen ist: Heutzutage sind sowohl Mütter als auch Väter bei der Geburt des ersten Kindes im Durchschnitt deutlich älter als noch in den 1970er Jahren, und wie viele Studien zeigen, steigt sowohl mit dem Alter der Mutter als auch mit dem des Vaters das Risiko, dass das Kind von einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung betroffen ist.

Geographische Ballung

4% des Zuwachses führt Weintraub auf die skurril anmutende Tatsache zurück, dass in bestimmten Gegenden (ein prominentes Beispiel sind die Hollywood Hills) die Zahl der Diagnosen viel höher ausfällt als in anderen Regionen. Frühere Hypothesen gingen von Giftstoffen im Trinkwasser und ähnlichen Umweltfaktoren aus, diese gelten heute aber als eindeutig widerlegt. Sehr wahrscheinlich ist dieses Phänomen darauf zurückzuführen, dass, wenn in einer bestimmten Gegend durch Zufall eine höhere Zahl autistischer Kinder wohnt, dies eine Dynamik in Gang setzt, die dazu führt, dass zunehmend spezialisierte Kinderärzte in diese Gebiete ziehen und folglich sehr viel mehr Fälle von Autismus und dem Asperger-Syndrom entdeckt werden als in anderen Gegenden – sodass die Region an sich gar keine ursächliche Wirkung auf die Diagnosenzahl ausübt.

Der Rest: ungeklärt

Wichtig ist an Weintraubs Überblick der Befund, dass somit ca. 46% der Zunahme der Diagnosenhäufigkeit nicht erklärt werden können. Ob und inwiefern tatsächlich die „reale“ Zahl der betroffenen Kindern zugenommen hat und heute eben nicht nur mehr betroffene Kinder entdeckt werden, ist noch völlig ungeklärt. So ist es z.B. durchaus denkbar, dass bestimmte Veränderungen in der Umwelt, z.B. Ernährung, Schadstoffe, Lebensweise, etc. eine Rolle spielen. So wurden vor einigen Monaten z.B. in der New York Times einige Wissenschaftler zitiert, die glauben, die Zunahme der Diagnosen zumindest teilweise darauf zurückführen zu können, dass wir Menschen in immer sterileren Umgebungen leben (Sagrotan & Co. lassen grüßen). Autismus habe eine enge Verbindung mit Entzündungsherden im Mutterleib, da durch solche das Autismus-Risiko beim Kind stark erhöht werde. Diese Entzündungsherde kämen durch Autoimmunerkrankungen bzw. ein schwaches Immunsystem zustande, was letztendlich auf eine zu sterile Umgebung zurückzuführen sei, die die Entstehung eines intakten Immunsystems behindere. Diese Idee klingt auf den ersten Blick plausibel und prangert wunderbar die oft kritisierte „Hygieniker-Mutter“ des 21. Jahrhunderts (oder fairerweise den „Hygieniker-Vater“) an, ist aber meiner Meinung nach nicht umsonst in der wissenschaftlichen Gemeinschaft weitgehend unbeachtet geblieben, klammert sie doch zentrale Befunde wie die sehr hohe Erblichkeit der Störungsbilder weitgehend aus. Insgesamt muss man also sagen, dass eindeutige Befunde zu der Frage nach dem Einfluss von Umweltfaktoren bisher noch nicht vorliegen, sodass dieser Bereich in Zukunft noch intensiv beforscht werden wird.

Autismus im Erwachsenenalter

Als Leser werden Sie sich jetzt vielleicht fragen, warum immer nur von Kindern und Jugendlichen die Rede ist – zurecht. Dadurch dass auch in den Medien Autismus und das Asperger-Syndrom meist mit dem jüngsten Teil unserer Gesellschaft in Verbindung gebracht wird, entsteht leicht der Eindruck, dass Erwachsene nicht betroffen sind, was natürlich unlogisch ist, es sei denn autistische Kinder würden alle vorher sterben oder die Symptomatik würde sich „auswachsen“. Da beides nicht oder nur in geringem Ausmaß der Fall ist, gibt es selbstverständlich auch Erwachsene mit Autismus und dem Asperger-Syndrom, die, abhängig vom Schweregrad der Störung, mehr oder weniger gut in der Lage sind, ein eigenständiges Leben zu führen. Dementsprechend ist es, insbesondere wenn schon früh in der Kindheit mit Fördermaßnahmen begonnen wurde, durchaus möglich, dass Menschen mit high-functioning Autismus oder dem Asperger-Syndrom ein annähernd „normales“ Leben führen können, weil sie Dinge, die für uns selbstverständlich sind (z.B. Emotionen in Gesichtern zu lesen und somit soziale Situationen zu verstehen) durch Training mühsam gelernt haben. Genau so gibt es aber auch die Fälle, wo eine solche frühe Förderung nicht möglich oder wenig erfolgreich war (low-functioning Autismus) und wo die Betroffenen in betreuten Wohngruppen leben, weil sie durch ihre Symptomatik zu stark in der Lebensführung eingeschränkt sind. Dass die erwachsene Form dieser Störungsbilder bisher kaum Teil des gesellschaftlichen Bewusstseins ist, liegt wahrscheinlich auch daran, dass das Störungsbild bis vor 35 Jahren in der Bevölkerung nahezu unbekannt war und selten diagnostiziert wurde, sodass es derzeit noch nicht viele Fälle von Menschen gibt, bei denen damals bereits die Diagnose korrekt gestellt wurde.

Im dritten Teil geht es schließlich um die Frage nach dem Warum: Was weiß man über die Ursache von tiefgreifenden Entwicklungsstörungen? Welchen Beitrag leisten die Gene, welchen die Umwelt? Und worin unterscheidet sich das „autistische“ Gehirn von einem „nicht-autistischen“?

© Christian Rupp

Autismus & das Asperger-Syndrom – Teil 1: Was verbirgt sich hinter den Begriffen?

Über Autismus und das Asperger-Syndrom kursiert, wie bei den meisten psychischen Störungen, eine große Menge an Gerüchten und falschen Annahmen, die die gesamte Bandbreite von „Autisten sind geistig behindert“ bis hin zu „Autisten sind hochbegabt“ abdecken. Insbesondere letztere Aussage wird immer wieder von Hollywood-Filmen aufgegriffen und blumig ausgeschmückt, z.B. indem Autisten übernatürliche Fähigkeiten wie diejenige zur Kontaktaufnahme mit dem Jenseits zugeschrieben werden. An dieser Stelle soll es nun also darum gehen, was sich hinter diesen Begriffen wirklich verbirgt. Was unterscheidet den Autismus vom Asperger-Syndrom? Was sind die kennzeichnenden Symptome? Sind wirklich nur Kinder betroffen? Und welche Therapiemöglichkeiten gibt es?

Oberbegriff: Tiefgreifende Entwicklungsstörungen

Wenn wir uns mit Autismus beschäftigen, bewegen wir uns innerhalb der diagnostischen Gruppe der „Tiefgreifenden Entwicklungsstörungen“ (ICD-10-Kodierung: F84), die vor allem von den „umschriebenen Entwicklungsstörungen“ durch ihre Schwere und die damit einhergehenden Einschränkungen im Leben der Betroffenen (womit hierbei meist Kinder gemeint sind) abzugrenzen sind. Die umschriebenen Entwicklungsstörungen sind hingegen dadurch gekennzeichnet, dass nur in einem bestimmten Bereich eine Störung bzw. ein Defizit besteht, z.B. bezüglich der sprachlichen Entwicklung, der Motorik oder hinsichtlich schulischer Funktionen, wobei vorrangig die Legasthenie (Lese-/Rechtschreibstörung), die Dyslexie (Lesestörung) und die Dyskalkulie (Rechenstörung) zu nennen sind. Die tiefgreifenden Entwicklungsstörungen hingegen betreffen keine isolierten Bereiche, sondern ihre Symptomatik ist allgegenwärtig und betrifft das gesamte Verhalten des betroffenen Kindes bzw. des Menschen.

Innerhalb der tiefgreifenden Entwicklungsstörungen sind die beiden mit Abstand häufigsten und wichtigsten Diagnosen einerseits der Autismus, der korrekterweise „frühkindlicher Autismus“ heißt, und andererseits das Asperger-Syndrom. Ich werde zunächst den frühkindlichen Autismus beschreiben und dann im Anschluss darauf eingehen, in wieweit sich das Asperger-Syndrom davon unterscheidet.

Frühkindlicher Autismus

Die Bezeichnung „frühkindlich“ deutet bereits auf das erste Diagnosekriterium hin: Um Autismus bei einem Kind zu diagnostizieren, muss die Störung bis spätestens zum dritten Lebensjahr aufgetreten sein. Tatsächlich ist das Verhalten der betroffenen Kinder meist bereits im Säuglingsalter auffällig (im Sinne von abweichend von der üblichen frühkindlichen Entwicklung), sodass diese Diagnose oft sehr früh gestellt wird. Dies ist in gewisser Weise auch von Vorteil für die betroffenen Kinder, da so auch früh mit Fördermaßnahmen begonnen werden und die größten Verbesserungen erzielt werden können (mehr zu Therapie im vierten Teil). Die Symptomatik des frühkindlichen Autismus lässt sich in drei Gruppen unterteilen:

  • soziale Interaktion
  • Kommunikation
  • stereotypes, repetitives Verhalten und eingeschränkte Interessen

 Soziale Interaktion

Autismus ist durch ein tiefgreifendes Muster von Defiziten im sozialen Verhalten und in der sozialen Wahrnehmung gekennzeichnet. In den ersten Lebensmonaten äußert sich dies dadurch, dass das Kind nicht versucht, Kontakt mit den wichtigsten Bezugspersonen (meist der Mutter) aufzunehmen. Das Kind schaut der Bezugsperson nicht in die Augen; stattdessen scheint es, als würde es durch einen hindurch schauen, und ein „soziales Lächeln“ (d.h. eines, welches durch die Interaktion mit anderen erzeugt wird, z.B. zwischen Mutter und Kind) ist bei diesen Kindern in der Regel nicht zu sehen. Allgemein ist bei autistischen Kindern zu beobachten, dass sie kaum nonverbale Verhaltensweisen in sozialen Situationen verwenden, d.h. selten Gesichtsausdruck, Körperhaltung und Gestik variieren. Ein autistisches Kind wird typischerweise auch nicht versuchen, die Aufmerksamkeit von Erwachsenen zu erwecken, indem es versucht, diese z.B. durch das Zeigen mit dem eigenen Finger auf etwas zu lenken („Guck mal da, Mama – das hab‘ ich gemacht“).

Das zentrale dahinter stehende Symptom des Autismus ist die Unfähigkeit der Betroffenen, bei anderen Menschen Emotionen zu deuten und somit soziale Situationen zu verstehen. Wie in wissenschaftlichen Studien gezeigt werden konnte, verfügen Autisten z.B. über eine stark reduzierte Fähigkeit, aus Gesichtern emotionale Zustände zu lesen, was u.a. mit dem so genannten „Reading the Mind In the Eyes – Test“ erfasst werden kann. Hieraus erklärt sich, dass Autisten auch nicht auf die Emotionsäußerungen (z.B. Weinen) anderer Menschen reagieren können und sich aus dem Blickwinkel nicht autistischer Menschen häufig sozial völlig unangemessen und oft aggressiv verhalten (z.B. laut rülpsen oder furzen, wenn alle anderen gerade in andächtiger Stille verharren). Daher gelten Autisten in Kindergarten und Grundschule leider oft als „Störenfried“ und werden von den anderen Kindern gemieden.

Autistische Kindern sind in der Regel nicht dazu in der Lage, Beziehungen zu gleichaltrigen Kindern aufzubauen – typischerweise verweigern sie die Kontaktaufnahme gänzlich oder beschränken soziale Interaktionen wie gemeinsames Spielen auf rein funktionale Aspekte, d.h. auf die Aspekte des Spiels selbst. Mit anderen Worten: Es steht nicht die Gesellschaft beim Spielen im Vordergrund, sondern meist lediglich die Tatsache, dass für ein bestimmtes Spiel (z.B. Baggern im Sandkasten) ein anderes Kind „hilfreich“ sein kann, um das Spiel interessanter zu gestalten. Neben der Tatsache, dass autistische Kinder selten interaktiv spielen, ist an ihrem Spielverhalten auffällig, dass das typisch-kindliche symbolische Spielen („So tun als ob“) fast völlig fehlt, dass autistische Kinder sich nicht auf Rollenspiele („Vater, Mutter, Kind“) einlassen, weil sie diese nicht verstehen, und dass sie Spielzeuge oft zweckentfremdet verwenden und sich vornehmlich für Einzelteile der Spielzeuge interessieren. So kann es z.B. vorkommen, dass ein Kind sich ausschließlich für die Räder eines Spielzeugbaggers interessiert, diesen in Folge dessen auseinander nimmt und beginnt, die Räder als Schaufeln zum Graben eines Lochs zu verwenden.

Kommunikation

Als erste Auffälligkeit ist zu nennen, dass das in der regulären kindlichen Entwicklung auftretende Brabbeln bzw. Lallen, welches die Melodie der Umgebungssprache imitiert, bei autistischen Kindern meistens nicht zu beobachten ist. Entscheidend für die Abgrenzung vom Asperger-Syndrom ist, dass sich bei Autisten die Sprache entweder stark verzögert oder überhaupt nicht entwickelt. Entwickelt das Kind sprachliche Fähigkeiten, haben diese oft keinen kommunikativen Charakter, d.h. die Sprache wird nicht dazu genutzt, mit anderen Menschen Kontakt aufzunehmen, wobei dieser Mangel an Kommunikation aber eben nicht durch Gestik und Mimik ausgeglichen wird.

Ferner verstehen autistische Kinder oft selbst einfache Anweisungen oder Fragen – und typischerweise auch Witze – nicht. Wenn Autisten sprechen, weist ihre Sprache außerdem gewisse Besonderheiten auf. Zum einen fällt darunter die Echolalie, d.h. das zwanghafte Wiederholen von Wörtern oder Satzteilen des Gegenübers, zum anderen die „pronominale Umkehr“, was bedeutet, dass die Personalpronomen beim Sprechen vertauscht werden („Du essen“ anstelle von „Ich essen“). Auch die Melodie der Sprache ist eine andere: Hört man einen Autisten sprechen, fällt auf, dass die Betonung oft unangemessen erfolgt, der Sprechrhythmus generell „abgehackt“ klingt und die Sprachmelodie insgesamt sehr gleichbleibend ist und nicht genutzt wird, um bestimmte Teile des Gesagten hervorzuheben. Auch kommt es häufig zu Wortneuschöpfungen (Neologismen), d.h. Autisten neigen dazu, sich ihren eigenen Wortschatz zuzulegen, der von der Umgebung selten verstanden wird.

Stereotypes, repetitives Verhalten und eingeschränkte Interessen

Die dritte Gruppe von Symptomen lässt sich grob unter dem Label „Mangel an Flexibilität im Verhalten“ zusammenfassen. Für Autisten ist es essenziell wichtig, dass sämtliche alltäglichen Handlungen und Abläufe stets in exakt derselben Weise ablaufen, sodass sie starr und beharrlich auf der Einhaltung bestimmter Rituale bestehen (z.B. jeden Tag exakt denselben Schulweg gehen, jeden Abend genau zur gleichen Zeit zu Abend essen). Ebenso besteht ein ängstlich-zwanghaftes Bedürfnis danach, dass sich an der Umwelt nichts verändert: Renovierungen in der Wohnung oder schon ein anderer Platz am Esstisch können bei autistischen Kindern zu Wutausbrüchen oder extremer Verzweiflung führen. Gleiches gilt z.B. für Werbepausen, die die Lieblingssendung des Kindes im Fernsehen unterbrechen, worauf das Kind gegebenenfalls nicht vorbereitet ist und was unter Umständen einen emotionalen Zusammenbruch bewirken kann.

Die Motorik von autistischen Kindern kann häufig als stereotyp und repetitiv beobachtet werden, was bedeutet, dass diese Kinder bestimmte Handlungen immer wieder und in identischer Weise wiederholen. Hierzu gehören Tic-artige Handlungen wie das Schlagen auf die eigenen Ohren, das Hin- und Herschaukeln des ganzen Körpers, aber auch das ausgedehnte Befühlen von oder Riechen an den Oberflächen von Objekten. Ebenso gehört zu diesen repetitiven Verhaltensweisen leider, dass die betroffenen Kinder sich selbst häufig beißen oder kratzen, weshalb Selbstverletzungen bei Autisten nicht selten sind – aber eben aufgrund anderer Ursachen als bei anderen psychischen Störungen (z.B. der Borderline-Persönlichkeitsstörung). Problematisch ist dies auch deshalb, weil Autisten diese Verletzungen oft nicht selbst bemerken und auch wenig Schmerz dabei empfinden, sodass sie nicht automatisch damit aufhören.

Zu diesen auffälligen Verhaltensweisen gesellt als weiterer Symptombereich noch die exzessive Beschäftigung mit und das sehr spezifische Interesse an bestimmten (meist technisch-naturwissenschaftlichen, d.h. gefühlsneutralen) Themen, sodass sich ein Kind z.B. über Stunden mit Fahrplänen oder den verschiedenen Spalten der Bundesliga-Tabelle beschäftigt und gedanklich völlig dort hinein versinkt. Wie bereits oben anhand des Spielverhaltens erwähnt, ist das Verhalten von autistischen Kindern zudem dadurch gekennzeichnet, dass sie sich vornehmlich für Einzelteile eines Objekts anstatt für das Objekt als Ganzes interessieren, z.B. für die Schrauben eines Schranks oder den Dichtungsring eines Wasserhahns.

Weitere Symptome

Autistische Kinder leiden häufig an weiteren psychischen Störungen oder Auffälligkeiten, wobei besonders Angstzustände, zwanghafte Symptome, depressive Verstimmung, Schlaf- und Essstörungen, Tic-Störungen und Hyperaktivität häufig auftreten. In vielerlei Hinsicht ist davon auszugehen, dass diese Auffälligkeiten daraus erwachsen, dass das autistische Kind nicht effektiv mit seiner Umwelt umgehen kann – was z.B. für depressive und Angstzustände sowie für Schlaf- und Essstörungen zutreffend ist. Anderseits werden Tic-Störungen, Hyperaktivität – und vor allem die Tatsache, dass ca. 20% der autistischen Kinder auch an Epilepsie leiden – als Hinweis auf eine gemeinsame biologische oder genetische Ursache gewertet (mehr dazu siehe Teil 3).

Interessanterweise ist es auch so, dass Autisten meist grundsätzlich nicht davon berichten, geträumt zu haben – ob sie tatsächlich nicht träumen oder dies nur nicht erinnern bzw. wiedergeben können, ist derweil weitgehend ungeklärt. Auch ist es so, dass Autisten oft sehr viel empfindlicher für sensorische Reize sind, d.h. z.B. sehr leise Töne hören, die andere Menschen nicht oder nur unter großer Anstrengung wahrnehmen können. Dies wird dadurch erklärt, dass die Wahrnehmung bzw. die Informationsverarbeitung bei Autisten gegenüber nicht autistischen Menschen maßgeblich verändert ist, worauf ich in Teil 3 noch weiter eingehen werde.

Ein letzter Punkt, der sehr viele autistische Kinder betrifft, ist die Intelligenzminderung (früher auch „mentale Retardierung“ genannt), von der man ab einem Intelligenzquotienten unter 70 spricht, was einem Abstand von mehr als zwei Standardabweichungen vom Mittelwert entspricht (der 100 beträgt). Kinder mit frühkindlichem Autismus verfügen also eher über eine eingeschränkte geistige Leistungsfähigkeit und sind in aller Regel nicht hochbegabt (definiert als IQ>130), was einen der wesentliche Unterschiede zum Asperger-Syndrom darstellt. Allerdings muss hierbei betont werden, dass insbesondere bei Kindern, die keine Sprache entwickeln, die Messung der Intelligenz größter Vorsicht bedarf und nur mittels spezialisierter Tests durch erfahrene Psychologen_Innen geschehen sollte.

Liegt eine sehr niedrige Intelligenz, d.h. eine mittelgradige (IQ<50) oder sogar schwere (IQ<20) Intelligenzminderung vor, ist es diagnostisch zudem sehr schwierig, den frühkindlichen Autismus noch von einer geistigen Behinderung zu unterscheiden – was jedoch dann im Hinblick auf das Wohl des Kindes auch nur noch eine akademische Diskussion wert ist, da sich hieraus kaum Unterschiede hinsichtlich möglicher Therapieoptionen ergeben werden.

Während man noch vor ca. 20 Jahren davon ausging, dass bei den meisten autistischen Kindern eine Intelligenzminderung besteht, zeigen neuere Untersuchungen jedoch den erfreulichen Befund, dass 30-60% der betroffenen Kinder tatsächlich über eine durchschnittliche (IQ zwischen 85 und 115) oder sogar überdurchschnittliche Intelligenz (IQ>115) verfügen, aber grundsätzlich nicht über eine generelle Hochbegabung (IQ>130).

Low-Functioning und High-Functioning

Beim frühkindlichen Autismus unterscheidet man auf Basis der sprachlichen Entwicklung und der kognitiven Leistungsfähigkeit (Intelligenz) grob zwischen zwei Formen, dem „Low-Functioning-Autismus“, der mit einer verringerten Intelligenz und nur sehr eingeschränkten sprachlichen Fähigkeiten einhergeht, und dem „High-Functioning-Autismus“, bei dem die betroffenen Kinder aufgrund einer durchschnittlichen Intelligenz und einer gut entwickelten Sprache ein höheres so genanntes „Funktionsniveau“ erreichen und somit weniger Probleme in der Interaktion mit ihrer Umwelt haben. Die High-Functioning-Form des frühkindlichen Autismus hat viele Gemeinsamkeiten mit dem als nächstes beschriebenen Asperger-Syndrom, welches allgemein als mildere Form des Autismus bezeichnet werden kann. Tatsächlich kann diese Unterscheidung oft nicht sicher getroffen werden, und einige Experten lehnen sie auch gänzlich ab. Als Ansatzpunkt für eine Unterscheidung kann aber gelten, dass die Symptomatik beim High-Functioning-Autismus früher beginnt als beim Asperger-Syndrom, welches manchmal erst in der Jugend diagnostiziert wird, und dass der High-Functioning-Autismus meist auf eine effektive und intensive Frühförderung von Kindern mit frühkindlichem Autismus zurückzuführen ist, ohne die ein so hohes Funktionsniveau wahrscheinlich nicht erreicht worden wäre.

Asperger-Syndrom

Diese eng mit dem Autismus verwandte Störung wurde nach ihrem Entdecker Hans Asperger, einem österreichischen Kinderarzt, benannt und steht, wie bereits angedeutet, für eine weniger tiefgreifende und daher weniger stark einschränkende Form des Autismus. Es ist durch dieselben Symptome definiert wie der frühkindliche Autismus, mit einigen wichtigen Unterschieden. Die Symptome der Kategorien „soziale Interaktion“ und „stereotypes, repetitives Verhalten“ treten in gleicher, wenn auch oft weniger gravierender Form auch beim Asperger-Syndrom auf. Bezüglich der sehr spezifischen Interessensgebiete finden sich beim Asperger-Syndrom allerdings vorwiegend Sonderinteressen auf sehr hohem, oft naturwissenschaftlichem Niveau (z.B. Astrophysik, Zellbiologie, Chemie…), denen die Betroffenen, wie beim frühkindlichen Autismus, oft in zwanghaft-pedantischer Weise nachgehen. Auffällig ist zudem auch die Motorik von Kindern und Jugendlichen mit Asperger-Syndrom: Insbesondere die feinmotorischen Fähigkeiten sind oftmals nicht gut entwickelt, was sich typischerweise in einer generellen Ungeschicklichkeit oder „Tollpatschigkeit“ niederschlägt, oder aber im Sportunterricht bei Sportarten, die eine gute Koordination erfordern.

Ein weiteres wichtiges Merkmal ist das Alter bei Beginn der Störung: Während der frühkindliche Autismus (wie der Name bereits verrät) sich schon vor dem dritten Lebensjahr äußert, werden Kinder mit dem Asperger-Syndrom erst später, mitunter erst in der Pubertät, auffällig.

Im Gegensatz zum frühkindlichen Autismus treten unter dem Asperger-Syndrom außerdem häufiger so genannte „Inselbegabungen“ auf , d.h. spezifische besondere Fähigkeiten wie beispielsweise ein fotografisches Gedächtnis (bekannt wurde z.B. ein Mann, der nach nur einem Flug über Manhattan eine nahezu 100% detailgetreue Zeichnung aller Gebäude anfertigte) oder die Fähigkeit, zu einem gehörten Musikstück sofort die entsprechenden Noten aufzuschreiben. Im Zusammenhang mit solchen Inselbegabungen spricht man auch häufig vom „Savant-Autismus“ („savant“ bedeutet auf französisch so viel wie „wissend“). Auf eine mögliche Erklärung für diese Inselbegabungen, die mit einer veränderten Art der Wahrnehmung zu tun hat, werde ich im drittenTeil eingehen.

Der wichtigste Unterscheidungspunkt zwischen frühkindlichem Autismus und dem Asperger-Syndrom ist jedoch die Kommunikation: Dieser Symptombereich fällt nämlich beim Asperger-Syndrom weg. Die betroffenen Kinder weisen gut bis sogar sehr gut entwickelte sprachliche Fähigkeiten auf, und auch die kognitive Leistungsfähigkeit ist gut, d.h. durchschnittlich bis überdurchschnittlich ausgeprägt, mit einer sehr guten Abstraktionsfähigkeit. Eine generelle Hochbegabung liegt derweil meistens nicht vor, allerdings ergeben Intelligenztests bei Menschen mit dem Asperger-Syndrom typischerweise eine sehr viel höhere verbale („kristalline“) als nicht-verbale („fluide“) Intelligenz. In der Tat heben sich Kinder mit dem Asperger-Syndrom von nicht betroffenen Kindern durch eine sehr frühe Sprachentwicklung ab, die schnell ein für das jeweilige Alter ungewöhnlich hohes Niveau erreicht. Wenn Kinder oder Jugendliche mit dem Asperger-Syndrom sprechen, verwenden sie oft eine sehr hochgestochene Sprache und drücken sich sehr eloquent aus, weshalb insbesondere Kinder oft von Erwachsenen als „altklug“ belächelt werden. Es sei aber davor gewarnt, nur aufgrund einer überdurchschnittlichen Sprachentwicklung von einem Asperger-Syndrom auszugehen – es handelt sich nur um eins von verschiedenen Symptomen, die alle für die Stellung dieser Diagnose erfüllt sein müssen (siehe oben).

Auffällig an der Sprache von Kindern und Jugendlichen mit dem Asperger-Syndrom ist zudem, dass sie wenige Bezüge zum Gesprächspartner enthält und kaum von non-verbalen Elementen (Gestik, Mimik) begleitet wird. Denn wie beim frühkindlichen Autismus auch, bestehen hier starke Beeinträchtigungen in der sozialen Interaktion, die es den Betroffenen ebenso schwer machen, soziale Situationen und die Emotionen ihrer Mitmenschen zu verstehen, zu deuten und auf sie adäquat zu reagieren, was genau wie beim frühkindlichen Autismus zu massiven Problemen im Umgang mit anderen Menschen und somit zu einer mangelhaften Integration in die eigene Umwelt führen kann.

An diesen Beeinträchtigungen setzen verschiedene Therapiemöglichkeiten an, die ich im vierten Teil darstellen werde. Zudem wird es im dritten Teil um den aktuellen Wissensstand bezüglich der Ursachen von Autismus und Asperger-Syndrom gehen, und im zweiten Teil werde ich auf die Frage eingehen, warum die Zahl der Autismus- Diagnosen in den vergangenen 35 Jahren nahezu exponentiell gestiegen ist.

© Christian Rupp 2013