Intelligenz – Teil 4: Was messen IQ-Tests und worin besteht ihre Berechtigung?

Nachdem es in Teil 3 darum ging, wie sich der so genannte „IQ“ berechnet und wie er zu interpretieren ist, widmet dieser Artikel sich der Frage: Wie lässt sich Intelligenz messen? Und messen Intelligenztests tatsächlich Intelligenz?

Die verschiedenen Arten von Intelligenztests lassen sich ganz grob in zwei Gruppen einteilen. Anhand ihrer Verbreitung und Etabliertheit habe ich diese zwei Kategorien einmal „untypisch“ und „typisch“ getauft.

„Untypische“ Vertreter

In diese Kategorie fallen zu allererst einmal die so genannten elementaren kognitiven Aufgaben (kurz EKAs). Hierbei handelt es sich um eine Reihe relativ einfacher Aufgaben, z.B. die Identifikation von präsentierten Reizen (Kreis oder Quadrat?), die Unterscheidung von Reizen (Welcher der zwei Töne ist höher?) oder die Erinnerungsleistung in Kurzzeitgedächtnisaufgaben (z.B. maximale Zahl von Zahlen, die jemand, unmittelbar nachdem er sie gehört hat, in derselben Reihenfolge wiedergeben kann). Die Variablen, die hier als Maß für Intelligenz herangezogen werden, sind unter anderem die Reaktionszeit, die so genannte inspection time (Zeit, die jemand benötigt, um z.B. zu sagen, welche von zwei Linien länger ist) oder aber auch mit dem EEG gemessene ereigniskorrelierte Potenziale, wobei die Dauer bis zum Auftreten des Pozentials im EEG (die so genannte Latenz) als Maß für die Verarbeitungsgeschwindigkeit herangezogen wird, die wiederum Intelligenz widerspiegeln soll. Zur Validität der EKAs (also der Frage, in wiefern diese tatsächlich Intelligenz messen), liegen divergierende Befunde vor. Untersucht wurde diese Fragestellung, indem der lineare Zusammenhang (die Korrelation) zwischen der Leistung in EKAs und der Leistung in „typischen“ Intelligenztests berechnet wurde. Diese Korrelation allerdings schwankt in den verschiedenen Studien zwischen 0,35 und 0,70 – mit anderen Worten: Der Zusammenhang ist nicht bombig, und es ist wenig naheliegend, die Leistung in EKAs als alleinigen Indikator für Intelligenz zu betrachten. Ähnliches gilt für die Gehirngröße (gemessen z.B. per MRT bei lebenden oder aber direkt am Objekt  bei toten Menschen), die laut einer Metaanalyse von McDaniel (2005) eine Korrelation von 0,33 mit der Leistung in typischen Intelligenztests aufweist. Dass hier kein so besonders großer Zusammenhang besteht, ist wenig verwunderlich, wenn man bedenkt, dass die Art der synaptischen Vernetzung in unserem Gehirn sehr viel wichtiger für die reibungslose Verarbeitung von Informationen ist als dessen einfaches Volumen.

Zweitens wären da eine Reihe von Tests, die offenkundig „typischen“ Vertretern ähneln, sich aber dadurch von diesen unterscheiden, dass sie den Generalfaktor g ablehnen, d.h. nicht von einem, allen Facetten übergeordneten allgemeinen Intelligenzfaktor ausgehen, sondern von mehreren voneinander unabhängigen Faktoren. In der Tat stellen die von diesen Tests postulierten Faktoren meist elementare kognitive Funktionen (ähnlich den EKAs) dar – und keine Intelligenzkomponenten, wie in den in Teil 2 beschriebenen Modellen aufgeführt. In diese Kategorie fallen z.B. das Cognitive Assessment System (CAS) und die Kaufman-Tests (z.B. das „K-ABC“). Während das CAS u.a. die Faktoren Planung (Strategien zur Problemlösung entwickeln) und Simultanität (getrennte Objekte zu etwas Ganzem integrieren) erfasst, unterscheidet das K-ABC zwischen erworbenen Fertigkeiten (Rechnen und Schreiben), simultaner Verarbeitung (Matrizen-Aufgaben der Sorte „Welches Bild ergänzt das Muster?“) und sequenzieller Verarbeitung (z.B. Zahlen nachsprechen). Wichtig beim K-ABC: Nur diese letzten zwei Faktoren sollen die kognitive Leistungsfähigkeit widerspiegeln; erworbene Fähigkeiten werden isoliert hiervon betrachtet.

„Typische“ Vertreter

Zu den typischen Vertretern gehören alle psychometrischen Tests, d.h. solche, die in der Regel auf einem bestimmten Intelligenzmodell (siehe Teil 2) basieren, eine Reihe verschiedener Aufgabentypen beinhalten, die normiert sind (damit die Leistung der getesten Person mit der von hinsichtlich Alter und Geschlecht ähnlichen Personen verglichen werden kann) und (das ist zentral) deren Gütekriterien (Objektivität, Reliabilität, Validität) überprüft wurden und als gesichert gelten.

Die meisten dieser Tests basieren auf Modellen, die einen g-Faktor annehmen, und ermöglichen daher auch die Berechnung eines allgemeinen Intelligenzquotienten. Ein Beispiel hierfür sind die Wechsler-Intelligenztests, z.B. der WIE (Wechsler-Intelligenztest für Erwachsene) oder der HAWIK-IV (Hamburg-Wechsler-Intelligenztest für Kinder, 4. Auflage). In den Wechsler-Tests gibt es u.a. die typischen Aufgabenbereiche Allgemeines Wissen, Finden von Gemeinsamkeiten, Matrizen ergänzen, Mosaike legen, Zahlen nachsprechen (vorwärts und rückwärts) und Kopfrechnen. Während die Wechsler-Tests sowohl die Berechnung der allgemeinen Intelligenz als auch verschiedener Unterfacetten ermöglichen, erlauben die so genannten Raven-Tests, die ausschließlich aus Matrizenaufgaben bestehen, nur die Berechnung eines allgemeinen IQs. Der Intelligenzstruktur-Tests (IST-2000-R), der auf dem Modell von Thurstone basiert, ermöglicht hingegen nur die Berechnung von IQ-Werten für die Bereiche schlussfolgerndes Denken (verbal, figural und numerisch) und Merkfähigkeit (verbal und figural). Zusätzlich gibt es einen Wissenstest, der aber nicht obligatorisch ist und am ehesten kristalline Intelligenz widerspiegelt.

Wozu das ganze? Der Sinn der Intelligenzmessung.

Nun kann man sich fragen, was es einem bringt, die Intelligenz einen Menschen (bzw. das, was diese ganzen Tests vorgeben, zu messen) zu erfassen. Die selbstwertregulierende Funktion liegt auf der Hand (es ist natürlich schön, von sich sagen zu können, dass man intelligenter als 99% der restlichen Menschheit ist), aber das ist zum Glück nicht alles.

Diagnostik von Intelligenzminderung & Hochbegabung

In der Tat sind Intelligenztests ein extrem wichtiges diagnostisches Instrument, das in vielen Bereichen zum Einsatz kommt. Im Bereich der pädagogischen Psychologie sind da z.B. die Diagnostik von Teilleistungsstörungen wie Lesestörungen, Rechtschreibstörungen und Dyskalkulie (Rechenstörung) zu nennen, zu deren Diagnose nämlich die Leistung im jeweils beeinträchtigten Bereich mindestens zwei Standardabweichungen (also deutlich) unterhalb der allgemeinen Intelligenz liegen müssen (um auszuschließen, dass es sich um eine generelle Intelligenzminderung oder gar eine geistige Behinderung handelt). Aber auch am anderen Ende der Skala ergibt sich ein wichtiges Anwendungsfeld: die Hochbegabtendiagnostik. Die ist deshalb so wichtig, weil es bei solchen Kindern von großer Bedeutung ist, diese hohe Intelligenz zu fördern, um Unterforderungserleben zu verhindern, das sonst leicht zu Problemen führen kann (z.B. weil das Kind den Unterricht stört oder sich zurückzieht). Vielleicht denken Sie hierbei auch gleichzeitig an die Diagnose einer ADHS. Das ist völlig richtig, denn auch zu dieser Diagnose muss eine Hochbegabung (genauso wie eine geistige Behinderung) als Ursache des unangepassten Verhaltens des Kindes ausgeschlossen werden.

Bewerberauswahl und Vorhersage des Schulerfolgs

Die weiteren Anwendungsgebiete von Intelligenztests ergeben sich aus der breitgefächerten prädiktiven Validität von Intelligenztests, d.h. aus der Tatsache, dass sich durch die Intelligenzleistung zu einem bestimmten Zeitpunkt bestimmte andere Variablen ziemlich gut vorhersagen lassen. So zeigte z.B. eine Metaanalyse von Schmidt und Hunter aus dem Jahr 1998, dass die allgemeine Intelligenz zu 0,54 mit dem späteren Arbeitserfolg bzw. der beruflichen Leistung korrelierte – damit sind Intelligenztests diejenige Methode mit der besten Vorhersagekraft für Berufserfolg. Trotz dieser Erkenntnis bevorzugen die meisten Unternehmen bei der Bewerberauswahl jedoch die sehr viel teureren Assessment-Center, wobei die Argumente hierfür denkbar schwach sind: Die Leistung in diesen korreliert nämlich im Mittel nur zu 0,37 mit späterem Berufserfolg. Ähnliche Korrelationen ergeben sich für die Beziehung von Intelligenz und Schulerfolg, gemessen z.B. durch die Schulnote. Diese schwanken nach Deary und Kollegen (2007) zwischen 0,43 im Fach Kunst und 0,77 im Fach Mathematik (und das ist in der Psychologie eine wirklich verdammt hohe Korrelation). Als Anwendungsfeld ergibt sich hierbei z.B. die Verteilung von Kindern auf verschiedene Schulformen, um eine jeweils optimale Förderung zu ermöglichen.

Von Haftstrafen bis Krebs

Die Vorhersagekraft der allgemeinen Intelligenz ist jedoch noch sehr viel größer. Eine große Zahl von Längsschnittstudien (d.h. solchen, die z.B. in der Kindheit den IQ messen und dann über die folgenden 20 Jahre weitere Variablen erfassen) wurde zu diesem Thema durchgeführt und führte zu verblüffenden Ergebnissen. So zeigte sich, dass mit steigendem IQ das Risiko für Arbeitslosigkeit und Armut abnimmt, ebenso wie für Scheidungen und Haftstrafen. Zudem ergab sich, dass sogar Krebsdiagnosen umso unwahrscheinlicher sind, je intelligenter der Mensch ist. Bei vielen dieser Zusammenhänge gibt es sehr wahrscheinlich so genannte vermittelnde Variablen, d.h. solche, die den Zusammenhang zwischen IQ und der jeweils anderen Variable erklären. So ist der Zusammenhang mit Arbeitslosigkeit und Armut sicherlich darauf zurückzuführen, dass ein höherer IQ höhere Bildungsabschlüsse ermöglicht, die dann wiederum das Risiko für Arbeitslosigkeit und Verarmung reduzieren. Ähnliches gilt für den Fall der Krebsdiagnosen: Menschen mit höherem IQ haben in der Regel einen gesünderen Lebensstil (trinken z.B. weniger Alkohol und rauchen nicht), was dann wiederum das Krebsrisiko niedrig hält.

Messen Intelligenztests wirklich Intelligenz?

Hier bewegen wir uns auf die Frage nach der Validität dieser Tests zu. Um die Frage aus der Überschrift zu beantworten, müssen wir jedoch verschiedene Aspekte des Konstrukts „Validität“ auseinander halten. Zunächst kann man davon ausgehen, dass bei Intelligenztests im Allgemeinen die Augenscheinvalidität (auch Inhaltsvalidität genannt) gegeben ist. Diese bezieht sich allerdings nur auf die einzelnen Untertests und meint nicht mehr, als dass die Aufgaben offenbar das erfassen, was sie vorgeben zu erfassen – z.B. dass man bei Rechenaufgaben rechnen muss, dass Wortschatzaufgaben die Größe des Wortschatzes erfassen, etc. Allerdings muss man zugeben, dass diese Inhaltsvalidität bei komplexeren Aufgaben wie Matrizenergänzungen durchaus nicht so einfach zu beurteilen ist, weil die Frage nach den Prozessen, die zur Lösung der Aufgaben bewältigt werden müssen, so groß ist, dass sie ein eigenes Forschungsfeld darstellt.

Wenn man jedoch den gesamten Test heranzieht und sich fragt, ob dieser das Konstrukt „Intelligenz“ misst, ist die Antwort schon weniger eindeutig. Dafür, dass zumindest die meisten Intelligenztests annähernd dasselbe messen, sprechen die ziemlich hohen Korrelationen zwischen den Ergebnissen derselben Person in verschiedenen Intelligenztests. Dies bezeichnet man auch als diagnostische Validität. Und dafür, dass mit diesen Tests offenbar etwas gemessen wird, das Auswirkungen auf extrem viele andere Lebensbereiche (Berufserfolg, Gesundheit, etc.) hat, liegen ebenfalls zahlreiche Belege vor (prädiktive Validität). Mit anderen Worten: Irgendetwas muss ganz offensichtlich dran sein an diesem Konstrukt.

Es gibt aber natürlich auch jede Menge Kritik an der gesamten Intelligenzmessung. An dieser Stelle sei noch einmal deutlich betont, dass es sich, wie in Teil 1 beschrieben, bei Intelligenz lediglich um ein Konstrukt handelt – und nicht um eine vom Himmel gefallene und unumstößlich definierte Begebenheit. So wird von Kritikern z.B. eingeworfen, dass klassische Intelligenztests viele Aspekte gar nicht berücksichtigen, z.B. sozio-emotionale Kompetenzen. Zudem wird häufig angemerkt, dass Intelligenz auch die Aneignung von Fertigkeiten und Wissen im kulturellen Kontext bedeutet – was die Tests allesamt nicht erfassen.

Letztendlich handelt es sich bei der Frage, was Intelligenztests messen, also um eine, die die Wissenschaft nie endgültig wird beantworten können, weil dies unmöglich ist. Man kann als Fazit allerdings zweierlei festhalten: Dass Intelligenztests das messen, was sie vorgeben zu messen, scheint auf Basis der Befunde zur Inhalts-, diagnostischen und prädiktiven Validität sehr wahrscheinlich – ebenso wie dass dieses Konstrukt, wie auch immer man es nennen mag, offenbar große Auswirkungen auf unser Leben hat. Ob diese Tests aber tatsächlich Intelligenz messen, lässt sich nicht beantworten, da es sich hierbei um ein höchst unterschiedlich definiertes Konstrukt handelt.

Bleibt der IQ immer gleich? Die Frage nach der Stabilität.

Auch diese Frage hat wiederum zwei Facetten. Die erste ist die Frage, ob Intelligenztests zuverlässig messen, d.h. reliabel sind. Im Wesentlichen ist hiermit die Frage verknüpft, wie genau Intelligenztests messen. Nun, ein psychometrischer Test misst nicht so genau wie eine Waage, das ist klar. Aber die meisten Intelligenztests haben Reliabilitäten von über 0,90, was ziemlich gut ist. Am geläufigsten ist hierbei die so genannte Retest-Reliabilität, d.h. die Frage nach der Übereinstimmung der Testergebnisse, wenn Personen denselben Test zweimal hintereinander bearbeiten. Hierbei muss das Zeitintervall natürlich groß genug sein, um auszuschließen, dass die Person die richtigen Lösungen bei der Bearbeitung lediglich erinnert. Der zeitliche Abstand darf aber auch nicht zu lang sein, da es sonst möglich ist, dass eine große Abweichung der Testwerte darauf zurückgeht, dass die tatsächliche Intelligenzleistung der Person sich verändert hat (was besonders bei Kindern der Fall ist, die einen schnellen Zuwachs verzeichnen).

Die zweite Frage ist die, ob die Intelligenzleistung selbst stabil ist. Hier bietet die Forschungslage erfreulicherweise einen relativ eindeutigen Befund: Obwohl IQ-Werte auch tagesformabhängig sind (logisch, da man sich nicht immer gleich gut konzentrieren kann), sind die Fluktuationen ziemlich gering, und Intelligenz erweist sich insgesamt als ziemlich stabile Eigenschaft. Stabil meint hierbei allerdings nicht, dass immer gleich viele Punkte im selben Test erreicht werden, sondern dass eine Person im Vergleich zur alters- und geschlechtsspezifischen Normstichprobe gleich gut bleibt. Als Beispiel: Natürlich wird ein zehnjähriges Kind im HAWIK mehr Punkte erzielen als mit sechs Jahren, aber es behält trotzdem denselben IQ, weil es bei den beiden Messungen mit unterschiedlichen Normstichproben verglichen wird. Verschiedene Untersuchungen zeigen sogar eine erstaunliche Stabilität des IQ über sehr lange Zeitspannen: So ergab sich in einer Studie von Deary und Kollegen (2000) eine beachtliche Korrelation von 0,77 zwischen den IQ-Werten einer Stichprobe, die zum ersten Mal 1932 und zum zweiten Mal 1995 an demselben Test teilgenommen hatte.

Interessant ist diesbezüglich übrigens der sehr unterschiedliche Verlauf von fluider und kristalliner Intelligenz über die Lebensspanne. Studien aus diesem Bereich zeigen, dass, während die kristalline Intelligenz (im Wesentliches also erworbenes Wissen) im Laufe des Lebens zunimmt bzw. stagniert, die fluide Intelligenz (logisches Denken etc.) abnimmt. Neuere Untersuchungen zeigen jedoch, dass der Rückgang der fluiden Intelligenz auf etwas anderes zurückzuführen ist – nämlich auf die mit dem Alter geringer werdende Erfahrung mit den Aufgabenformaten typischer Intelligenztests, die stark an die von Schulaufgaben angelehnt sind. Insgesamt kann man also sagen: Intelligenz ist ziemlich stabil, aber eben nicht perfekt stabil. Und das liegt maßgeblich daran, dass wir entgegen der weitläufigen Meinung nicht mit einem festgelegten IQ geboren werden – was Thema des fünften Teils der Intelligenz-Reihe sein wird.

 © Christian Rupp 2014

Warum Kinder es in einer Homo-Ehe eben nicht schlechter haben

Wieder einmal ein Tag, an dem man merkt, dass es sich lohnt, Psychologie zu studieren. Wie Sie vielleicht in den Nachrichten mitbekommen haben, sind gestern rund 150.000 französische Wutbürger (um einmal den seit Stuttgart 21 geprägten Begriff zu verwenden) auf die Straße gegangen, um gegen das von Hollande mutig durchgeboxte Gesetz zur Gleichstellung der gleichgeschlechtlichen mit der „herkömmlichen“ Ehe zu „demonstrieren“. Vor gut 200 Jahren gingen die Franzosen auf die Straße, um für „egalité“ (Gleichheit) zu kämpfen, heute ist zumindest eine kleine Gruppe plötzlich energisch dagegen. Man sagt landläufig, die Franzosen hätten die Demokratie quasi „erfunden“. Dann frage ich mich, warum 150.000 wildgewordene Menschen wütend durch die Straßen ziehen und herumbrüllen wie Kleinkinder, die gerade ihren Willen nicht bekommen haben – obwohl das Gesetz ganz klar sowohl von einer Mehrheit der Bevölkerung als auch des Parlaments getragen wird. Aber die Menschen, die das Gesetz befürworten, gelangen natürlich nicht in den Fokus der Aufmerksamkeit – das schaffen nur die, die (buchstäblich) am lautesten schreien. Daher mein Appell an jene beleidigten Kleinkinder: Findet euch damit ab, dass Demokratie auch impliziert, dass auch mal etwas so läuft, wie es euch nicht passt. Das nicht zu akzeptieren, ist absurd – aber ganz bestimmt nicht die Homoehe. Doch im Grunde geht es ja gar nicht um die Schwulen und Lesben. Diese dienen nur als willkommener Sündenbock für den „Verfall“ konservativer Werte in der „Normgesellschaft“ selbst. Oder wussten Sie vielleicht noch nicht, dass gleichgeschlechtliche Ehen eine wesentlich geringere Scheidungsrate aufweisen im Vergleich zu gemischtgeschlechtlichen? Nun, in jedem Fall ist es offenbar eine angenehme Lösung, den ganzen Frust wieder auf den althergebrachten Sündenbock zu projizieren.

Heute Morgen beim Frühstück scrollte ich also auf meinem iPhone ganz postmodern durch die Tagesschau-Nachrichten bei Facebook und stieß auf die besagte Meldung. Was ich dann normalerweise tue, wenn ich auf eine Meldung stoße, die in mir starke Wut auslöst, ist, das Ding wegzulegen, um zu verhindern, dass ich mich eventuell nach dem Hinterlassen eines Kommentars den ganzen Tag über die ganzen dämlichen, unfundierten Kommentare aufrege, die üblicherweise dann hinterkommen (Sie glauben gar nicht, wie es unter den Tagesschau-Meldungen manchmal hergeht: Selbst das Dschungelcamp hat mehr Stil). Heute konnte ich dann aber irgendwie doch nicht an mich halten und hinterließ einen für mich typischen Kommentar. Die Abfolge können Sie im unten stehenden Screenshot nachvollziehen (indem ich leider den peinlichen Flüchtigkeitsfehler bei „Seriosität“ einräumen muss :-)).

Fortsetzung vom 28.05.2013

Die Gleichstellung und die Erlaubnis, dass gleichgeschlechtliche Paare Kinder adoptieren können, ist sowohl eine logische Konsequenz von auf sinnvollem Menschenverstand beruhendem Denken, welches nicht von irgendwelchen religiösen Dogmen kontaminiert ist, als auch von zahlreichen wissenschaftlichen (psychologischen) Studien, die allesamt belegen, dass Kinder, die bei gleichgeschlechtlichen Paaren aufwachsen (egal ob schwul oder lesbisch), „herkömmlich“ aufgewachsenen Kindern gegenüber in keinster Weise im Nachteil sind. Dabei wurden zahlreiche Variablen betrachtet, u.a. das emotionale Wohlbefinden der Kinder, Abweichungen im Verhalten, der Erziehungsstil der Eltern – und interessanterweise auch die Geschlechtsidentität und die sexuelle Orientierung der Kinder. Wie Metanalysen (die viele Studien zu demselben Thema zusammenfassen und daher eine hohe Aussagekraft besitzen) wie die von Allen & Burrell (1997) und Überblicksartikel (die dasselbe tun wie eine Metaanalyse, aber auf narrative Art) wie der von Anderssen et al. (2002) einstimmig belegen, unterscheiden sich Kinder gleichgeschlechtlicher Eltern hinsichtlich all dieser Variablen nicht von Kindern, die bei gemischtgeschlechtliche Eltern aufgewachsen sind.

Das entkräftet vor allem die beiden am häufigsten gehörten Einwände, die gerne angebracht werden: erstens, dass Kinder homosexueller Eltern auch automatisch diese sexuelle Orientierung übernehmen (was, selbst wenn es zuträfe, ja wohl kaum als schlimm zu bewerten wäre), und zweitens, dass diese Kinder eine „gestörte“ Geschlechtsidentität entwickeln. D.h., auch wenn die Erklärung, ein Kind würde am besten „gedeihen“, wenn es Mutter und Vater hat, auf den ersten Blick vielleicht plausibel erscheint, so kann man diesen theoretischen Gedanken auch gleich wieder verwerfen, weil sämtliche wissenschaftliche Evidenz (und das ist, wie hier erklärt, die beste, die man haben kann) dagegen spricht. Zudem möchte ich einmal dezent darauf hinweisen, dass zwei Väter oder Mütter ja wohl kaum schlimmer sein können als ein/e alleinerziehende/r Vater oder Mutter (was das reale Schicksal sehr vieler Kinder überall auf der Welt ist). Falls Sie mir bezüglich der oben dargestellten Forschungsergebnisse nicht glauben möchten, überzeugen Sie sich doch einfach selbst und geben Sie in die Suchmaschine google scholar z.B. die Suchbegriffe „psychology children homosexual parents“ ein, und schon haben Sie Zugriff auf zumindest hunderte von Abstracts (d.h. Zusammenfassungen) wissenschaftlicher Studien. Englische Sprachkenntnisse rate ich hierzu allerdings an.

Sie wundern sich, wie solche Forschung durchgeführt werden konnte, wenn es doch solche Regenbogenfamilien noch gar nicht lange gibt? Ich würde sagen, dass liegt daran, dass Sie es vielleicht nicht wahrgenommen haben und andere Länder schon seit Langem sehr viel toleranter (d.h. mit mehr Vernunft und weniger Ideologie) mit dem Thema umgehen. Es gibt hierzu tatsächlich Studien, die aus den 1970er Jahren stammen und über 30 Jahre alt sind. Nicht umsonst hat sich bereits eine solche Fülle von Studien angehäuft, die alle dasselbe besagen: Macht endlich Schluss mit der Ideologie und nutzt euren Verstand. Ergo: Beendet bitte endlich die Diskriminierung.

© Christian Rupp 2013

Autismus & das Asperger-Syndrom – Teil 3: Was ist die Ursache? Von Genen, Kühlschrankmüttern und Veränderungen im Gehirn

Wird Autismus vererbt? Oder liegt es an der Erziehung?

Stellt man die Frage nach der Ursache einer Störung, kann man sich diese immer auf verschiedenen Ebenen anschauen. Man kann sich u.a. die Ebene der Gene anschauen, wenn man von einer genetischen Ursache ausgeht, oder man kann sich genau die Lebensumstände und die Biographie des Betroffenen anschauen, wenn man stark von einer durch äußere Einflüsse bedingten Störung ausgeht. Worin sich psychische Störungen grundsätzlich unterscheiden, ist der Anteil, den jeweils genetische und Umweltfaktoren ausmachen, wobei man generell davon ausgehen sollte, dass sich die beiden nicht unbedingt aufaddieren (eine bestimmte Menge genetische Einflüsse + ungünstige Umwelterfahrungen = Störung), sondern dass eine Interaktion besteht, was bedeutet, dass beide Faktoren ineinander greifen: So kann es beispielsweise sein, dass eine bestimmte genetische Veranlagung generell das Risiko für eine Störung erhöht, diese aber erst ausbricht, wenn gleichzeitig bestimmte Umwelteinflüsse wie einschneidende Lebensereignisse auftreten. Was ich hier nun in sehr vereinfachter Form dargestellt habe, ist ein Beispiel für ein so genanntes Vulnerabilitäts-Stress-Modell: Die Vulnerabilität (übersetzt „Verwundbarkeit“) ist in diesem Beispiel durch eine bestimmte Genausprägung gegeben, die durch das Zusammentreffen mit „Stress“ (hierunter fallen sämtliche Stress auslösenden und körperlich wie emotional belastenden Ereignisse) zum Ausbruch einer Störung führt.

Es gibt aber noch eine dritte Ebene, auf der man Ursachenforschung betreiben kann, und diese betrachtet im Wesentlichen veränderte Prozesse im Gehirn, die man entweder anhand direkter Messungen wie MRT, fMRT, EEG, etc. oder anhand der Leistung in psychologischen Testverfahren aufdecken kann und die die Folge sowohl von genetischen Veränderungen als auch von bestimmten Umwelteinflüsse bzw. Lernerfahrungen sein können. D.h., diese Ebene ist sozusagen neutral bezüglich der Frage, was die Veränderungen in den Gehirnprozessen hervorgerufen hat, und sie bietet interessante Erkenntnisse darüber, wie sich bestimmte Symptome auf der Ebene der Gehirnfunktionen erklären lassen. Auf diese drei verschiedenen Perspektiven werde ich nun im Hinblick auf den Autismus und das Asperger-Syndrom eingehen.

Genetik

In der Tat ist im Fall des frühkindlichen Autismus und des Asperger-Syndroms der Anteil, der auf die genetische Ausstattung des Betroffenen zurückzuführen ist, sehr viel höher als bei anderen psychischen Störungen und wahrscheinlich unter diesen sogar am höchsten. Hierfür spricht die Tatsache, dass, wenn ein Zwillingskind betroffen ist, sein eineiiges Geschwisterkind, welches die identische genetische Ausstattung besitzt, in 95% der Fälle ebenfalls betroffen ist, während diese Übereinstimmungsrate (auch Konkordanzrate genannt) bei zweieiigen Zwillingen, die nur ca. 50% der Gene teilen, mit 24% sehr viel geringer ausfällt. Dies lässt auf einen vergleichsweise hohen Erklärungsanteil der Genetik schließen, da diese Übereinstimmungsraten sehr viel unterschiedlicher wären, wenn eine vorwiegend umweltbedingte Verursachung der Störung vorläge. Ebenfalls für eine genetische (Mit)verursachung spricht, dass Jungen sehr viel häufiger betroffen sind als Mädchen (was eine Rolle der Geschlechtschromosomen nahelegt) und dass tiefgreifende Entwicklungsstörungen oft mit anderen neurologischen und psychologischen Auffälligkeiten wie Epilepsie und geistiger Behinderung einhergehen. Nun folgt aber leider die kleine Enttäuschung: Bisher hat man kein eindeutiges „Autismus“-Gen ausfindig machen können, sodass man derzeit davon ausgeht, dass es sich um einen „polygenen“ Erbgang handelt, d.h. um einen solchen, der von mehreren Genen bestimmt wird.

Der aufmerksame Leser wird an dieser anmerken: Moment, es kann aber ja nicht nur an genetischen Ursachen liegen, sonst wäre die Übereinstimmungsrate bei eineiigen Zwillingen doch 100%. Goldrichtiger Einwand! Es muss einen kleinen Anteil geben, der auf die Umwelt zurückzuführen ist. Dieser ist bisher aber noch unzureichend erforscht und auch mit einem gewissen Stigma belegt, da die ursprünglichen Theorien Autismus als reines Produkt emotional abweisender elterlicher Erziehung betrachteten („Kühlschrankmutter“), was heutzutage natürlich als widerlegt gilt. Dennoch ist nicht auszuschließen, dass sich in Zukunft bestimmte Erziehungsstile oder aber andere Faktoren wie Ernährung etc. als ursächliche Faktoren im Hinblick auf diese Störungsbilder erweisen werden.

Neurobiologische Ebene: Auffälligkeiten im Gehirn

Im Gehirn autistischer Menschen finden sich einige Auffälligkeiten, die sie von gesunden Menschen abheben. Diese betreffen eine mangelnde Vernetzung der Nervenzellen in verschiedenen essentiellen Teilen des Gehirns, z.B. im Frontalhirn (exekutive Funktionen, d.h. Dinge wie planerisches und vorausschauendes Denken, flexibles Denken und Selbstüberwachungsprozesse), in der gesamten linken Hirnhälfte (unabdingbar für unsere Sprachfähigkeit), sowie im limbischen System, im Hirnstamm und im Kleinhirn (Kontrolle über das eigene Verhalten und die eigenen Gefühlsäußerungen). Als Ursache für diese mangelnde Vernetzung der Nervenzellen ist u.a. in der Diskussion, dass diese durch ein zu schnelles Wachstums der weißen Gehirnsubstanz in den ersten zwei Lebensjahren bedingt ist. Diese weiße Substanz umfasst, im Gegensatz zu den Zellkörpern der Nervenzellen, die die graue Substanz bilden, die Axone der Nervenzellen, d.h. deren lange Fortsätze, die zur Weiterleitung der elektrischen Signale nötig sind. Ein solches Signal wird vom Ende des Axons der einen Nervenzelle auf eine andere Nervenzelle übertragen, und eine solche Verbindungsstelle nennt sich Synapse. Im „autistischen“ Gehirn, so die aktuell weit verbreitete Annahme, funktionieren diese Synapsen in Folge der abnormen Entwicklung in den ersten zwei Lebensjahre nicht so wie in einem gesunden Gehirn, wodurch sich die verschiedenen in Teil 1 beschriebenen Symptome ableiten.

Neuropsychologische Ebene: Theory of Mind

Unter der „Theory of Mind“ (kurz „ToM“) versteht man in der Entwicklungspsychologie keine wissenschaftliche Theorie, sondern eine Theorie, die das Kind von seinen Mitmenschen hat. Die ToM ist ein Aspekt sozialer und emotionaler Intelligenz und beschreibt im Kern die Fähigkeit, anderen Menschen mentale Zustände, d.h. Gefühle, Absichten und Gedanken zuzuschreiben. Es geht um die Frage, ob das Kind sich in sein Gegenüber hinein versetzen und dessen Perspektive übernehmen kann – sowohl hinsichtlich des Wissens als auch bezüglich der Gefühle der Person. Letztlich ist der Zweck all dessen, das Verhalten anderer Menschen zu verstehen und vorherzusagen. Erwachsene tun dies täglich: Wenn das Auto vor uns langsam fährt und an jeder Querstraße anhält, werden wir dem Fahrer wahrscheinlich entweder den mentalen Zustand zuschreiben, dass er fremd in der Stadt ist und eine Straße sucht oder aber, dass er ein mieses A****loch ist, das mich nur ärgern will (letzteres wäre die Zuschreibung einer Absicht). Ebenso lesen wir in den Gesichtern von Menschen deren Emotionen ab und reagieren entsprechend darauf, z.B. indem wir eine traurig wirkende Person fragen, ob alles in Ordnung ist oder ihr ein Taschentuch anbieten.

Diese Fähigkeit entwickelt sich bei Kindern normalerweise im Laufe der ersten fünf Lebensjahre, ohne sich diese bewusst anzueignen. Kinder mit Autismus sind hierzu nicht oder nur sehr eingeschränkt in der Lage bzw. müssen diese Fähigkeit mühsam erlernen. Die Defizite bezüglich der ToM werden z.B. in so genannten false-belief-Aufgaben deutlich, wo in abgestufter Schwierigkeit die Fähigkeit des Kindes überprüft wird, sich in den mentalen Zustand einer anderen Person hinein zu versetzen. Hierzu werden meist Bildergeschichten wie der „Sally-Anne Test“ (ein Beispiel für die leichteste Schwierigkeitsstufe) verwendet. Ein anschauliches Video von einer „Real-Life“-Durchführung des Tests mit einem Jungen, der den Test nicht besteht, finden Sie unter anderem hier. Die Frage hierbei ist: Kann sich das Kind in die Lage von Sally hineinversetzen, die nicht mitbekommen hat, dass Anne den Keks in den Karton gelegt hat, oder nicht?

Neuropsychologische Ebene: Zentrale Kohärenz

Dieser Aspekt beschreibt eine Besonderheit der Wahrnehmung bei Autisten, die dadurch gekennzeichnet ist, dass diese ihre Umwelt nicht als Gesamtheit (d.h. zentral kohärent) wahrnehmen, sondern vielmehr als eine große Menge von Einzelteilen. Dinge werden in der Regel nicht in Bezug zu anderen Objekten wahrgenommen, sondern lediglich als sie selbst, d.h. kontextfrei. Der Fokus auf isolierte Details erklärt dabei sowohl, dass sich autistische Kinder am liebsten nur mit einzelnen Teilen ihrer Spielsachen beschäftigen, als auch viele der typischen Inselbegabungen, die das Asperger-Syndrom und den high-functioning Autismus kennzeichnen. So lässt sich die Fähigkeit des in Teil 1 erwähntes Mannes, der nach nur einem Flug über New York die gesamte Skyline Manhattans detailgetreu nachzeichnen konnte, dadurch erklären, dass er jedes einzelne Gebäude isoliert wahrgenommen hatte, anstatt den Gesamteindruck als „Skyline von Manhattan“ ins Gedächtnis einzuspeichern. Diese veränderte Wahrnehmung spiegelt sich auch in psychologischen Tests wider, z.B. im Mosaik-Test des Hamburg Wechsler Intelligenztests für Kinder (HAWIK IV), in dem Kinder mit Autismus und dem Asperger-Syndrom stark überdurchschnittlich abschneiden.

Die Kehrseite der Medaille ist derweil, dass die betroffenen Kinder sich in Details verlieren und große Probleme mit dem Bilden von Oberbegriffen und Verallgemeinerungen haben, weil dies in ihrem Wahrnehmungssystem nicht „vorgesehen“ ist. Da diese Menschen nicht in der Lage sind, Informationen somit sinnvoll zu bündeln, haben sie enorme Schwierigkeiten damit, komplexe Informationen zu verarbeiten, was z.B. bei der Interpretation sozialer Situationen unabdingbar ist.

Wie man nun sehen kann, lassen sich also für die in Teil 1 dargestellten Probleme bereits teilweise auf neuropsychologischer und neurobiologischer Ebene Erklärungen finden. Diese wiederum sind sehr wahrscheinlich größtenteils auch bestimmte genetische Prozesse zurück zu führen, wobei genau diese Prozesse bisher jedoch noch nicht bekannt sind.

Im vierten und letzten Teil wird es um Therapiemöglichkeiten bei Autismus und dem Asperger-Syndrom gehen – ein Bereich, in dem sich, wenngleich keine vollständige Heilung möglich ist, viel getan hat.

© Christian Rupp 2013

Autismus & das Asperger-Syndrom – Teil 1: Was verbirgt sich hinter den Begriffen?

Über Autismus und das Asperger-Syndrom kursiert, wie bei den meisten psychischen Störungen, eine große Menge an Gerüchten und falschen Annahmen, die die gesamte Bandbreite von „Autisten sind geistig behindert“ bis hin zu „Autisten sind hochbegabt“ abdecken. Insbesondere letztere Aussage wird immer wieder von Hollywood-Filmen aufgegriffen und blumig ausgeschmückt, z.B. indem Autisten übernatürliche Fähigkeiten wie diejenige zur Kontaktaufnahme mit dem Jenseits zugeschrieben werden. An dieser Stelle soll es nun also darum gehen, was sich hinter diesen Begriffen wirklich verbirgt. Was unterscheidet den Autismus vom Asperger-Syndrom? Was sind die kennzeichnenden Symptome? Sind wirklich nur Kinder betroffen? Und welche Therapiemöglichkeiten gibt es?

Oberbegriff: Tiefgreifende Entwicklungsstörungen

Wenn wir uns mit Autismus beschäftigen, bewegen wir uns innerhalb der diagnostischen Gruppe der „Tiefgreifenden Entwicklungsstörungen“ (ICD-10-Kodierung: F84), die vor allem von den „umschriebenen Entwicklungsstörungen“ durch ihre Schwere und die damit einhergehenden Einschränkungen im Leben der Betroffenen (womit hierbei meist Kinder gemeint sind) abzugrenzen sind. Die umschriebenen Entwicklungsstörungen sind hingegen dadurch gekennzeichnet, dass nur in einem bestimmten Bereich eine Störung bzw. ein Defizit besteht, z.B. bezüglich der sprachlichen Entwicklung, der Motorik oder hinsichtlich schulischer Funktionen, wobei vorrangig die Legasthenie (Lese-/Rechtschreibstörung), die Dyslexie (Lesestörung) und die Dyskalkulie (Rechenstörung) zu nennen sind. Die tiefgreifenden Entwicklungsstörungen hingegen betreffen keine isolierten Bereiche, sondern ihre Symptomatik ist allgegenwärtig und betrifft das gesamte Verhalten des betroffenen Kindes bzw. des Menschen.

Innerhalb der tiefgreifenden Entwicklungsstörungen sind die beiden mit Abstand häufigsten und wichtigsten Diagnosen einerseits der Autismus, der korrekterweise „frühkindlicher Autismus“ heißt, und andererseits das Asperger-Syndrom. Ich werde zunächst den frühkindlichen Autismus beschreiben und dann im Anschluss darauf eingehen, in wieweit sich das Asperger-Syndrom davon unterscheidet.

Frühkindlicher Autismus

Die Bezeichnung „frühkindlich“ deutet bereits auf das erste Diagnosekriterium hin: Um Autismus bei einem Kind zu diagnostizieren, muss die Störung bis spätestens zum dritten Lebensjahr aufgetreten sein. Tatsächlich ist das Verhalten der betroffenen Kinder meist bereits im Säuglingsalter auffällig (im Sinne von abweichend von der üblichen frühkindlichen Entwicklung), sodass diese Diagnose oft sehr früh gestellt wird. Dies ist in gewisser Weise auch von Vorteil für die betroffenen Kinder, da so auch früh mit Fördermaßnahmen begonnen werden und die größten Verbesserungen erzielt werden können (mehr zu Therapie im vierten Teil). Die Symptomatik des frühkindlichen Autismus lässt sich in drei Gruppen unterteilen:

  • soziale Interaktion
  • Kommunikation
  • stereotypes, repetitives Verhalten und eingeschränkte Interessen

 Soziale Interaktion

Autismus ist durch ein tiefgreifendes Muster von Defiziten im sozialen Verhalten und in der sozialen Wahrnehmung gekennzeichnet. In den ersten Lebensmonaten äußert sich dies dadurch, dass das Kind nicht versucht, Kontakt mit den wichtigsten Bezugspersonen (meist der Mutter) aufzunehmen. Das Kind schaut der Bezugsperson nicht in die Augen; stattdessen scheint es, als würde es durch einen hindurch schauen, und ein „soziales Lächeln“ (d.h. eines, welches durch die Interaktion mit anderen erzeugt wird, z.B. zwischen Mutter und Kind) ist bei diesen Kindern in der Regel nicht zu sehen. Allgemein ist bei autistischen Kindern zu beobachten, dass sie kaum nonverbale Verhaltensweisen in sozialen Situationen verwenden, d.h. selten Gesichtsausdruck, Körperhaltung und Gestik variieren. Ein autistisches Kind wird typischerweise auch nicht versuchen, die Aufmerksamkeit von Erwachsenen zu erwecken, indem es versucht, diese z.B. durch das Zeigen mit dem eigenen Finger auf etwas zu lenken („Guck mal da, Mama – das hab‘ ich gemacht“).

Das zentrale dahinter stehende Symptom des Autismus ist die Unfähigkeit der Betroffenen, bei anderen Menschen Emotionen zu deuten und somit soziale Situationen zu verstehen. Wie in wissenschaftlichen Studien gezeigt werden konnte, verfügen Autisten z.B. über eine stark reduzierte Fähigkeit, aus Gesichtern emotionale Zustände zu lesen, was u.a. mit dem so genannten „Reading the Mind In the Eyes – Test“ erfasst werden kann. Hieraus erklärt sich, dass Autisten auch nicht auf die Emotionsäußerungen (z.B. Weinen) anderer Menschen reagieren können und sich aus dem Blickwinkel nicht autistischer Menschen häufig sozial völlig unangemessen und oft aggressiv verhalten (z.B. laut rülpsen oder furzen, wenn alle anderen gerade in andächtiger Stille verharren). Daher gelten Autisten in Kindergarten und Grundschule leider oft als „Störenfried“ und werden von den anderen Kindern gemieden.

Autistische Kindern sind in der Regel nicht dazu in der Lage, Beziehungen zu gleichaltrigen Kindern aufzubauen – typischerweise verweigern sie die Kontaktaufnahme gänzlich oder beschränken soziale Interaktionen wie gemeinsames Spielen auf rein funktionale Aspekte, d.h. auf die Aspekte des Spiels selbst. Mit anderen Worten: Es steht nicht die Gesellschaft beim Spielen im Vordergrund, sondern meist lediglich die Tatsache, dass für ein bestimmtes Spiel (z.B. Baggern im Sandkasten) ein anderes Kind „hilfreich“ sein kann, um das Spiel interessanter zu gestalten. Neben der Tatsache, dass autistische Kinder selten interaktiv spielen, ist an ihrem Spielverhalten auffällig, dass das typisch-kindliche symbolische Spielen („So tun als ob“) fast völlig fehlt, dass autistische Kinder sich nicht auf Rollenspiele („Vater, Mutter, Kind“) einlassen, weil sie diese nicht verstehen, und dass sie Spielzeuge oft zweckentfremdet verwenden und sich vornehmlich für Einzelteile der Spielzeuge interessieren. So kann es z.B. vorkommen, dass ein Kind sich ausschließlich für die Räder eines Spielzeugbaggers interessiert, diesen in Folge dessen auseinander nimmt und beginnt, die Räder als Schaufeln zum Graben eines Lochs zu verwenden.

Kommunikation

Als erste Auffälligkeit ist zu nennen, dass das in der regulären kindlichen Entwicklung auftretende Brabbeln bzw. Lallen, welches die Melodie der Umgebungssprache imitiert, bei autistischen Kindern meistens nicht zu beobachten ist. Entscheidend für die Abgrenzung vom Asperger-Syndrom ist, dass sich bei Autisten die Sprache entweder stark verzögert oder überhaupt nicht entwickelt. Entwickelt das Kind sprachliche Fähigkeiten, haben diese oft keinen kommunikativen Charakter, d.h. die Sprache wird nicht dazu genutzt, mit anderen Menschen Kontakt aufzunehmen, wobei dieser Mangel an Kommunikation aber eben nicht durch Gestik und Mimik ausgeglichen wird.

Ferner verstehen autistische Kinder oft selbst einfache Anweisungen oder Fragen – und typischerweise auch Witze – nicht. Wenn Autisten sprechen, weist ihre Sprache außerdem gewisse Besonderheiten auf. Zum einen fällt darunter die Echolalie, d.h. das zwanghafte Wiederholen von Wörtern oder Satzteilen des Gegenübers, zum anderen die „pronominale Umkehr“, was bedeutet, dass die Personalpronomen beim Sprechen vertauscht werden („Du essen“ anstelle von „Ich essen“). Auch die Melodie der Sprache ist eine andere: Hört man einen Autisten sprechen, fällt auf, dass die Betonung oft unangemessen erfolgt, der Sprechrhythmus generell „abgehackt“ klingt und die Sprachmelodie insgesamt sehr gleichbleibend ist und nicht genutzt wird, um bestimmte Teile des Gesagten hervorzuheben. Auch kommt es häufig zu Wortneuschöpfungen (Neologismen), d.h. Autisten neigen dazu, sich ihren eigenen Wortschatz zuzulegen, der von der Umgebung selten verstanden wird.

Stereotypes, repetitives Verhalten und eingeschränkte Interessen

Die dritte Gruppe von Symptomen lässt sich grob unter dem Label „Mangel an Flexibilität im Verhalten“ zusammenfassen. Für Autisten ist es essenziell wichtig, dass sämtliche alltäglichen Handlungen und Abläufe stets in exakt derselben Weise ablaufen, sodass sie starr und beharrlich auf der Einhaltung bestimmter Rituale bestehen (z.B. jeden Tag exakt denselben Schulweg gehen, jeden Abend genau zur gleichen Zeit zu Abend essen). Ebenso besteht ein ängstlich-zwanghaftes Bedürfnis danach, dass sich an der Umwelt nichts verändert: Renovierungen in der Wohnung oder schon ein anderer Platz am Esstisch können bei autistischen Kindern zu Wutausbrüchen oder extremer Verzweiflung führen. Gleiches gilt z.B. für Werbepausen, die die Lieblingssendung des Kindes im Fernsehen unterbrechen, worauf das Kind gegebenenfalls nicht vorbereitet ist und was unter Umständen einen emotionalen Zusammenbruch bewirken kann.

Die Motorik von autistischen Kindern kann häufig als stereotyp und repetitiv beobachtet werden, was bedeutet, dass diese Kinder bestimmte Handlungen immer wieder und in identischer Weise wiederholen. Hierzu gehören Tic-artige Handlungen wie das Schlagen auf die eigenen Ohren, das Hin- und Herschaukeln des ganzen Körpers, aber auch das ausgedehnte Befühlen von oder Riechen an den Oberflächen von Objekten. Ebenso gehört zu diesen repetitiven Verhaltensweisen leider, dass die betroffenen Kinder sich selbst häufig beißen oder kratzen, weshalb Selbstverletzungen bei Autisten nicht selten sind – aber eben aufgrund anderer Ursachen als bei anderen psychischen Störungen (z.B. der Borderline-Persönlichkeitsstörung). Problematisch ist dies auch deshalb, weil Autisten diese Verletzungen oft nicht selbst bemerken und auch wenig Schmerz dabei empfinden, sodass sie nicht automatisch damit aufhören.

Zu diesen auffälligen Verhaltensweisen gesellt als weiterer Symptombereich noch die exzessive Beschäftigung mit und das sehr spezifische Interesse an bestimmten (meist technisch-naturwissenschaftlichen, d.h. gefühlsneutralen) Themen, sodass sich ein Kind z.B. über Stunden mit Fahrplänen oder den verschiedenen Spalten der Bundesliga-Tabelle beschäftigt und gedanklich völlig dort hinein versinkt. Wie bereits oben anhand des Spielverhaltens erwähnt, ist das Verhalten von autistischen Kindern zudem dadurch gekennzeichnet, dass sie sich vornehmlich für Einzelteile eines Objekts anstatt für das Objekt als Ganzes interessieren, z.B. für die Schrauben eines Schranks oder den Dichtungsring eines Wasserhahns.

Weitere Symptome

Autistische Kinder leiden häufig an weiteren psychischen Störungen oder Auffälligkeiten, wobei besonders Angstzustände, zwanghafte Symptome, depressive Verstimmung, Schlaf- und Essstörungen, Tic-Störungen und Hyperaktivität häufig auftreten. In vielerlei Hinsicht ist davon auszugehen, dass diese Auffälligkeiten daraus erwachsen, dass das autistische Kind nicht effektiv mit seiner Umwelt umgehen kann – was z.B. für depressive und Angstzustände sowie für Schlaf- und Essstörungen zutreffend ist. Anderseits werden Tic-Störungen, Hyperaktivität – und vor allem die Tatsache, dass ca. 20% der autistischen Kinder auch an Epilepsie leiden – als Hinweis auf eine gemeinsame biologische oder genetische Ursache gewertet (mehr dazu siehe Teil 3).

Interessanterweise ist es auch so, dass Autisten meist grundsätzlich nicht davon berichten, geträumt zu haben – ob sie tatsächlich nicht träumen oder dies nur nicht erinnern bzw. wiedergeben können, ist derweil weitgehend ungeklärt. Auch ist es so, dass Autisten oft sehr viel empfindlicher für sensorische Reize sind, d.h. z.B. sehr leise Töne hören, die andere Menschen nicht oder nur unter großer Anstrengung wahrnehmen können. Dies wird dadurch erklärt, dass die Wahrnehmung bzw. die Informationsverarbeitung bei Autisten gegenüber nicht autistischen Menschen maßgeblich verändert ist, worauf ich in Teil 3 noch weiter eingehen werde.

Ein letzter Punkt, der sehr viele autistische Kinder betrifft, ist die Intelligenzminderung (früher auch „mentale Retardierung“ genannt), von der man ab einem Intelligenzquotienten unter 70 spricht, was einem Abstand von mehr als zwei Standardabweichungen vom Mittelwert entspricht (der 100 beträgt). Kinder mit frühkindlichem Autismus verfügen also eher über eine eingeschränkte geistige Leistungsfähigkeit und sind in aller Regel nicht hochbegabt (definiert als IQ>130), was einen der wesentliche Unterschiede zum Asperger-Syndrom darstellt. Allerdings muss hierbei betont werden, dass insbesondere bei Kindern, die keine Sprache entwickeln, die Messung der Intelligenz größter Vorsicht bedarf und nur mittels spezialisierter Tests durch erfahrene Psychologen_Innen geschehen sollte.

Liegt eine sehr niedrige Intelligenz, d.h. eine mittelgradige (IQ<50) oder sogar schwere (IQ<20) Intelligenzminderung vor, ist es diagnostisch zudem sehr schwierig, den frühkindlichen Autismus noch von einer geistigen Behinderung zu unterscheiden – was jedoch dann im Hinblick auf das Wohl des Kindes auch nur noch eine akademische Diskussion wert ist, da sich hieraus kaum Unterschiede hinsichtlich möglicher Therapieoptionen ergeben werden.

Während man noch vor ca. 20 Jahren davon ausging, dass bei den meisten autistischen Kindern eine Intelligenzminderung besteht, zeigen neuere Untersuchungen jedoch den erfreulichen Befund, dass 30-60% der betroffenen Kinder tatsächlich über eine durchschnittliche (IQ zwischen 85 und 115) oder sogar überdurchschnittliche Intelligenz (IQ>115) verfügen, aber grundsätzlich nicht über eine generelle Hochbegabung (IQ>130).

Low-Functioning und High-Functioning

Beim frühkindlichen Autismus unterscheidet man auf Basis der sprachlichen Entwicklung und der kognitiven Leistungsfähigkeit (Intelligenz) grob zwischen zwei Formen, dem „Low-Functioning-Autismus“, der mit einer verringerten Intelligenz und nur sehr eingeschränkten sprachlichen Fähigkeiten einhergeht, und dem „High-Functioning-Autismus“, bei dem die betroffenen Kinder aufgrund einer durchschnittlichen Intelligenz und einer gut entwickelten Sprache ein höheres so genanntes „Funktionsniveau“ erreichen und somit weniger Probleme in der Interaktion mit ihrer Umwelt haben. Die High-Functioning-Form des frühkindlichen Autismus hat viele Gemeinsamkeiten mit dem als nächstes beschriebenen Asperger-Syndrom, welches allgemein als mildere Form des Autismus bezeichnet werden kann. Tatsächlich kann diese Unterscheidung oft nicht sicher getroffen werden, und einige Experten lehnen sie auch gänzlich ab. Als Ansatzpunkt für eine Unterscheidung kann aber gelten, dass die Symptomatik beim High-Functioning-Autismus früher beginnt als beim Asperger-Syndrom, welches manchmal erst in der Jugend diagnostiziert wird, und dass der High-Functioning-Autismus meist auf eine effektive und intensive Frühförderung von Kindern mit frühkindlichem Autismus zurückzuführen ist, ohne die ein so hohes Funktionsniveau wahrscheinlich nicht erreicht worden wäre.

Asperger-Syndrom

Diese eng mit dem Autismus verwandte Störung wurde nach ihrem Entdecker Hans Asperger, einem österreichischen Kinderarzt, benannt und steht, wie bereits angedeutet, für eine weniger tiefgreifende und daher weniger stark einschränkende Form des Autismus. Es ist durch dieselben Symptome definiert wie der frühkindliche Autismus, mit einigen wichtigen Unterschieden. Die Symptome der Kategorien „soziale Interaktion“ und „stereotypes, repetitives Verhalten“ treten in gleicher, wenn auch oft weniger gravierender Form auch beim Asperger-Syndrom auf. Bezüglich der sehr spezifischen Interessensgebiete finden sich beim Asperger-Syndrom allerdings vorwiegend Sonderinteressen auf sehr hohem, oft naturwissenschaftlichem Niveau (z.B. Astrophysik, Zellbiologie, Chemie…), denen die Betroffenen, wie beim frühkindlichen Autismus, oft in zwanghaft-pedantischer Weise nachgehen. Auffällig ist zudem auch die Motorik von Kindern und Jugendlichen mit Asperger-Syndrom: Insbesondere die feinmotorischen Fähigkeiten sind oftmals nicht gut entwickelt, was sich typischerweise in einer generellen Ungeschicklichkeit oder „Tollpatschigkeit“ niederschlägt, oder aber im Sportunterricht bei Sportarten, die eine gute Koordination erfordern.

Ein weiteres wichtiges Merkmal ist das Alter bei Beginn der Störung: Während der frühkindliche Autismus (wie der Name bereits verrät) sich schon vor dem dritten Lebensjahr äußert, werden Kinder mit dem Asperger-Syndrom erst später, mitunter erst in der Pubertät, auffällig.

Im Gegensatz zum frühkindlichen Autismus treten unter dem Asperger-Syndrom außerdem häufiger so genannte „Inselbegabungen“ auf , d.h. spezifische besondere Fähigkeiten wie beispielsweise ein fotografisches Gedächtnis (bekannt wurde z.B. ein Mann, der nach nur einem Flug über Manhattan eine nahezu 100% detailgetreue Zeichnung aller Gebäude anfertigte) oder die Fähigkeit, zu einem gehörten Musikstück sofort die entsprechenden Noten aufzuschreiben. Im Zusammenhang mit solchen Inselbegabungen spricht man auch häufig vom „Savant-Autismus“ („savant“ bedeutet auf französisch so viel wie „wissend“). Auf eine mögliche Erklärung für diese Inselbegabungen, die mit einer veränderten Art der Wahrnehmung zu tun hat, werde ich im drittenTeil eingehen.

Der wichtigste Unterscheidungspunkt zwischen frühkindlichem Autismus und dem Asperger-Syndrom ist jedoch die Kommunikation: Dieser Symptombereich fällt nämlich beim Asperger-Syndrom weg. Die betroffenen Kinder weisen gut bis sogar sehr gut entwickelte sprachliche Fähigkeiten auf, und auch die kognitive Leistungsfähigkeit ist gut, d.h. durchschnittlich bis überdurchschnittlich ausgeprägt, mit einer sehr guten Abstraktionsfähigkeit. Eine generelle Hochbegabung liegt derweil meistens nicht vor, allerdings ergeben Intelligenztests bei Menschen mit dem Asperger-Syndrom typischerweise eine sehr viel höhere verbale („kristalline“) als nicht-verbale („fluide“) Intelligenz. In der Tat heben sich Kinder mit dem Asperger-Syndrom von nicht betroffenen Kindern durch eine sehr frühe Sprachentwicklung ab, die schnell ein für das jeweilige Alter ungewöhnlich hohes Niveau erreicht. Wenn Kinder oder Jugendliche mit dem Asperger-Syndrom sprechen, verwenden sie oft eine sehr hochgestochene Sprache und drücken sich sehr eloquent aus, weshalb insbesondere Kinder oft von Erwachsenen als „altklug“ belächelt werden. Es sei aber davor gewarnt, nur aufgrund einer überdurchschnittlichen Sprachentwicklung von einem Asperger-Syndrom auszugehen – es handelt sich nur um eins von verschiedenen Symptomen, die alle für die Stellung dieser Diagnose erfüllt sein müssen (siehe oben).

Auffällig an der Sprache von Kindern und Jugendlichen mit dem Asperger-Syndrom ist zudem, dass sie wenige Bezüge zum Gesprächspartner enthält und kaum von non-verbalen Elementen (Gestik, Mimik) begleitet wird. Denn wie beim frühkindlichen Autismus auch, bestehen hier starke Beeinträchtigungen in der sozialen Interaktion, die es den Betroffenen ebenso schwer machen, soziale Situationen und die Emotionen ihrer Mitmenschen zu verstehen, zu deuten und auf sie adäquat zu reagieren, was genau wie beim frühkindlichen Autismus zu massiven Problemen im Umgang mit anderen Menschen und somit zu einer mangelhaften Integration in die eigene Umwelt führen kann.

An diesen Beeinträchtigungen setzen verschiedene Therapiemöglichkeiten an, die ich im vierten Teil darstellen werde. Zudem wird es im dritten Teil um den aktuellen Wissensstand bezüglich der Ursachen von Autismus und Asperger-Syndrom gehen, und im zweiten Teil werde ich auf die Frage eingehen, warum die Zahl der Autismus- Diagnosen in den vergangenen 35 Jahren nahezu exponentiell gestiegen ist.

© Christian Rupp 2013