Autismus & das Asperger-Syndrom – Teil 1: Was verbirgt sich hinter den Begriffen?

Über Autismus und das Asperger-Syndrom kursiert, wie bei den meisten psychischen Störungen, eine große Menge an Gerüchten und falschen Annahmen, die die gesamte Bandbreite von „Autisten sind geistig behindert“ bis hin zu „Autisten sind hochbegabt“ abdecken. Insbesondere letztere Aussage wird immer wieder von Hollywood-Filmen aufgegriffen und blumig ausgeschmückt, z.B. indem Autisten übernatürliche Fähigkeiten wie diejenige zur Kontaktaufnahme mit dem Jenseits zugeschrieben werden. An dieser Stelle soll es nun also darum gehen, was sich hinter diesen Begriffen wirklich verbirgt. Was unterscheidet den Autismus vom Asperger-Syndrom? Was sind die kennzeichnenden Symptome? Sind wirklich nur Kinder betroffen? Und welche Therapiemöglichkeiten gibt es?

Oberbegriff: Tiefgreifende Entwicklungsstörungen

Wenn wir uns mit Autismus beschäftigen, bewegen wir uns innerhalb der diagnostischen Gruppe der „Tiefgreifenden Entwicklungsstörungen“ (ICD-10-Kodierung: F84), die vor allem von den „umschriebenen Entwicklungsstörungen“ durch ihre Schwere und die damit einhergehenden Einschränkungen im Leben der Betroffenen (womit hierbei meist Kinder gemeint sind) abzugrenzen sind. Die umschriebenen Entwicklungsstörungen sind hingegen dadurch gekennzeichnet, dass nur in einem bestimmten Bereich eine Störung bzw. ein Defizit besteht, z.B. bezüglich der sprachlichen Entwicklung, der Motorik oder hinsichtlich schulischer Funktionen, wobei vorrangig die Legasthenie (Lese-/Rechtschreibstörung), die Dyslexie (Lesestörung) und die Dyskalkulie (Rechenstörung) zu nennen sind. Die tiefgreifenden Entwicklungsstörungen hingegen betreffen keine isolierten Bereiche, sondern ihre Symptomatik ist allgegenwärtig und betrifft das gesamte Verhalten des betroffenen Kindes bzw. des Menschen.

Innerhalb der tiefgreifenden Entwicklungsstörungen sind die beiden mit Abstand häufigsten und wichtigsten Diagnosen einerseits der Autismus, der korrekterweise „frühkindlicher Autismus“ heißt, und andererseits das Asperger-Syndrom. Ich werde zunächst den frühkindlichen Autismus beschreiben und dann im Anschluss darauf eingehen, in wieweit sich das Asperger-Syndrom davon unterscheidet.

Frühkindlicher Autismus

Die Bezeichnung „frühkindlich“ deutet bereits auf das erste Diagnosekriterium hin: Um Autismus bei einem Kind zu diagnostizieren, muss die Störung bis spätestens zum dritten Lebensjahr aufgetreten sein. Tatsächlich ist das Verhalten der betroffenen Kinder meist bereits im Säuglingsalter auffällig (im Sinne von abweichend von der üblichen frühkindlichen Entwicklung), sodass diese Diagnose oft sehr früh gestellt wird. Dies ist in gewisser Weise auch von Vorteil für die betroffenen Kinder, da so auch früh mit Fördermaßnahmen begonnen werden und die größten Verbesserungen erzielt werden können (mehr zu Therapie im vierten Teil). Die Symptomatik des frühkindlichen Autismus lässt sich in drei Gruppen unterteilen:

  • soziale Interaktion
  • Kommunikation
  • stereotypes, repetitives Verhalten und eingeschränkte Interessen

 Soziale Interaktion

Autismus ist durch ein tiefgreifendes Muster von Defiziten im sozialen Verhalten und in der sozialen Wahrnehmung gekennzeichnet. In den ersten Lebensmonaten äußert sich dies dadurch, dass das Kind nicht versucht, Kontakt mit den wichtigsten Bezugspersonen (meist der Mutter) aufzunehmen. Das Kind schaut der Bezugsperson nicht in die Augen; stattdessen scheint es, als würde es durch einen hindurch schauen, und ein „soziales Lächeln“ (d.h. eines, welches durch die Interaktion mit anderen erzeugt wird, z.B. zwischen Mutter und Kind) ist bei diesen Kindern in der Regel nicht zu sehen. Allgemein ist bei autistischen Kindern zu beobachten, dass sie kaum nonverbale Verhaltensweisen in sozialen Situationen verwenden, d.h. selten Gesichtsausdruck, Körperhaltung und Gestik variieren. Ein autistisches Kind wird typischerweise auch nicht versuchen, die Aufmerksamkeit von Erwachsenen zu erwecken, indem es versucht, diese z.B. durch das Zeigen mit dem eigenen Finger auf etwas zu lenken („Guck mal da, Mama – das hab‘ ich gemacht“).

Das zentrale dahinter stehende Symptom des Autismus ist die Unfähigkeit der Betroffenen, bei anderen Menschen Emotionen zu deuten und somit soziale Situationen zu verstehen. Wie in wissenschaftlichen Studien gezeigt werden konnte, verfügen Autisten z.B. über eine stark reduzierte Fähigkeit, aus Gesichtern emotionale Zustände zu lesen, was u.a. mit dem so genannten „Reading the Mind In the Eyes – Test“ erfasst werden kann. Hieraus erklärt sich, dass Autisten auch nicht auf die Emotionsäußerungen (z.B. Weinen) anderer Menschen reagieren können und sich aus dem Blickwinkel nicht autistischer Menschen häufig sozial völlig unangemessen und oft aggressiv verhalten (z.B. laut rülpsen oder furzen, wenn alle anderen gerade in andächtiger Stille verharren). Daher gelten Autisten in Kindergarten und Grundschule leider oft als „Störenfried“ und werden von den anderen Kindern gemieden.

Autistische Kindern sind in der Regel nicht dazu in der Lage, Beziehungen zu gleichaltrigen Kindern aufzubauen – typischerweise verweigern sie die Kontaktaufnahme gänzlich oder beschränken soziale Interaktionen wie gemeinsames Spielen auf rein funktionale Aspekte, d.h. auf die Aspekte des Spiels selbst. Mit anderen Worten: Es steht nicht die Gesellschaft beim Spielen im Vordergrund, sondern meist lediglich die Tatsache, dass für ein bestimmtes Spiel (z.B. Baggern im Sandkasten) ein anderes Kind „hilfreich“ sein kann, um das Spiel interessanter zu gestalten. Neben der Tatsache, dass autistische Kinder selten interaktiv spielen, ist an ihrem Spielverhalten auffällig, dass das typisch-kindliche symbolische Spielen („So tun als ob“) fast völlig fehlt, dass autistische Kinder sich nicht auf Rollenspiele („Vater, Mutter, Kind“) einlassen, weil sie diese nicht verstehen, und dass sie Spielzeuge oft zweckentfremdet verwenden und sich vornehmlich für Einzelteile der Spielzeuge interessieren. So kann es z.B. vorkommen, dass ein Kind sich ausschließlich für die Räder eines Spielzeugbaggers interessiert, diesen in Folge dessen auseinander nimmt und beginnt, die Räder als Schaufeln zum Graben eines Lochs zu verwenden.

Kommunikation

Als erste Auffälligkeit ist zu nennen, dass das in der regulären kindlichen Entwicklung auftretende Brabbeln bzw. Lallen, welches die Melodie der Umgebungssprache imitiert, bei autistischen Kindern meistens nicht zu beobachten ist. Entscheidend für die Abgrenzung vom Asperger-Syndrom ist, dass sich bei Autisten die Sprache entweder stark verzögert oder überhaupt nicht entwickelt. Entwickelt das Kind sprachliche Fähigkeiten, haben diese oft keinen kommunikativen Charakter, d.h. die Sprache wird nicht dazu genutzt, mit anderen Menschen Kontakt aufzunehmen, wobei dieser Mangel an Kommunikation aber eben nicht durch Gestik und Mimik ausgeglichen wird.

Ferner verstehen autistische Kinder oft selbst einfache Anweisungen oder Fragen – und typischerweise auch Witze – nicht. Wenn Autisten sprechen, weist ihre Sprache außerdem gewisse Besonderheiten auf. Zum einen fällt darunter die Echolalie, d.h. das zwanghafte Wiederholen von Wörtern oder Satzteilen des Gegenübers, zum anderen die „pronominale Umkehr“, was bedeutet, dass die Personalpronomen beim Sprechen vertauscht werden („Du essen“ anstelle von „Ich essen“). Auch die Melodie der Sprache ist eine andere: Hört man einen Autisten sprechen, fällt auf, dass die Betonung oft unangemessen erfolgt, der Sprechrhythmus generell „abgehackt“ klingt und die Sprachmelodie insgesamt sehr gleichbleibend ist und nicht genutzt wird, um bestimmte Teile des Gesagten hervorzuheben. Auch kommt es häufig zu Wortneuschöpfungen (Neologismen), d.h. Autisten neigen dazu, sich ihren eigenen Wortschatz zuzulegen, der von der Umgebung selten verstanden wird.

Stereotypes, repetitives Verhalten und eingeschränkte Interessen

Die dritte Gruppe von Symptomen lässt sich grob unter dem Label „Mangel an Flexibilität im Verhalten“ zusammenfassen. Für Autisten ist es essenziell wichtig, dass sämtliche alltäglichen Handlungen und Abläufe stets in exakt derselben Weise ablaufen, sodass sie starr und beharrlich auf der Einhaltung bestimmter Rituale bestehen (z.B. jeden Tag exakt denselben Schulweg gehen, jeden Abend genau zur gleichen Zeit zu Abend essen). Ebenso besteht ein ängstlich-zwanghaftes Bedürfnis danach, dass sich an der Umwelt nichts verändert: Renovierungen in der Wohnung oder schon ein anderer Platz am Esstisch können bei autistischen Kindern zu Wutausbrüchen oder extremer Verzweiflung führen. Gleiches gilt z.B. für Werbepausen, die die Lieblingssendung des Kindes im Fernsehen unterbrechen, worauf das Kind gegebenenfalls nicht vorbereitet ist und was unter Umständen einen emotionalen Zusammenbruch bewirken kann.

Die Motorik von autistischen Kindern kann häufig als stereotyp und repetitiv beobachtet werden, was bedeutet, dass diese Kinder bestimmte Handlungen immer wieder und in identischer Weise wiederholen. Hierzu gehören Tic-artige Handlungen wie das Schlagen auf die eigenen Ohren, das Hin- und Herschaukeln des ganzen Körpers, aber auch das ausgedehnte Befühlen von oder Riechen an den Oberflächen von Objekten. Ebenso gehört zu diesen repetitiven Verhaltensweisen leider, dass die betroffenen Kinder sich selbst häufig beißen oder kratzen, weshalb Selbstverletzungen bei Autisten nicht selten sind – aber eben aufgrund anderer Ursachen als bei anderen psychischen Störungen (z.B. der Borderline-Persönlichkeitsstörung). Problematisch ist dies auch deshalb, weil Autisten diese Verletzungen oft nicht selbst bemerken und auch wenig Schmerz dabei empfinden, sodass sie nicht automatisch damit aufhören.

Zu diesen auffälligen Verhaltensweisen gesellt als weiterer Symptombereich noch die exzessive Beschäftigung mit und das sehr spezifische Interesse an bestimmten (meist technisch-naturwissenschaftlichen, d.h. gefühlsneutralen) Themen, sodass sich ein Kind z.B. über Stunden mit Fahrplänen oder den verschiedenen Spalten der Bundesliga-Tabelle beschäftigt und gedanklich völlig dort hinein versinkt. Wie bereits oben anhand des Spielverhaltens erwähnt, ist das Verhalten von autistischen Kindern zudem dadurch gekennzeichnet, dass sie sich vornehmlich für Einzelteile eines Objekts anstatt für das Objekt als Ganzes interessieren, z.B. für die Schrauben eines Schranks oder den Dichtungsring eines Wasserhahns.

Weitere Symptome

Autistische Kinder leiden häufig an weiteren psychischen Störungen oder Auffälligkeiten, wobei besonders Angstzustände, zwanghafte Symptome, depressive Verstimmung, Schlaf- und Essstörungen, Tic-Störungen und Hyperaktivität häufig auftreten. In vielerlei Hinsicht ist davon auszugehen, dass diese Auffälligkeiten daraus erwachsen, dass das autistische Kind nicht effektiv mit seiner Umwelt umgehen kann – was z.B. für depressive und Angstzustände sowie für Schlaf- und Essstörungen zutreffend ist. Anderseits werden Tic-Störungen, Hyperaktivität – und vor allem die Tatsache, dass ca. 20% der autistischen Kinder auch an Epilepsie leiden – als Hinweis auf eine gemeinsame biologische oder genetische Ursache gewertet (mehr dazu siehe Teil 3).

Interessanterweise ist es auch so, dass Autisten meist grundsätzlich nicht davon berichten, geträumt zu haben – ob sie tatsächlich nicht träumen oder dies nur nicht erinnern bzw. wiedergeben können, ist derweil weitgehend ungeklärt. Auch ist es so, dass Autisten oft sehr viel empfindlicher für sensorische Reize sind, d.h. z.B. sehr leise Töne hören, die andere Menschen nicht oder nur unter großer Anstrengung wahrnehmen können. Dies wird dadurch erklärt, dass die Wahrnehmung bzw. die Informationsverarbeitung bei Autisten gegenüber nicht autistischen Menschen maßgeblich verändert ist, worauf ich in Teil 3 noch weiter eingehen werde.

Ein letzter Punkt, der sehr viele autistische Kinder betrifft, ist die Intelligenzminderung (früher auch „mentale Retardierung“ genannt), von der man ab einem Intelligenzquotienten unter 70 spricht, was einem Abstand von mehr als zwei Standardabweichungen vom Mittelwert entspricht (der 100 beträgt). Kinder mit frühkindlichem Autismus verfügen also eher über eine eingeschränkte geistige Leistungsfähigkeit und sind in aller Regel nicht hochbegabt (definiert als IQ>130), was einen der wesentliche Unterschiede zum Asperger-Syndrom darstellt. Allerdings muss hierbei betont werden, dass insbesondere bei Kindern, die keine Sprache entwickeln, die Messung der Intelligenz größter Vorsicht bedarf und nur mittels spezialisierter Tests durch erfahrene Psychologen_Innen geschehen sollte.

Liegt eine sehr niedrige Intelligenz, d.h. eine mittelgradige (IQ<50) oder sogar schwere (IQ<20) Intelligenzminderung vor, ist es diagnostisch zudem sehr schwierig, den frühkindlichen Autismus noch von einer geistigen Behinderung zu unterscheiden – was jedoch dann im Hinblick auf das Wohl des Kindes auch nur noch eine akademische Diskussion wert ist, da sich hieraus kaum Unterschiede hinsichtlich möglicher Therapieoptionen ergeben werden.

Während man noch vor ca. 20 Jahren davon ausging, dass bei den meisten autistischen Kindern eine Intelligenzminderung besteht, zeigen neuere Untersuchungen jedoch den erfreulichen Befund, dass 30-60% der betroffenen Kinder tatsächlich über eine durchschnittliche (IQ zwischen 85 und 115) oder sogar überdurchschnittliche Intelligenz (IQ>115) verfügen, aber grundsätzlich nicht über eine generelle Hochbegabung (IQ>130).

Low-Functioning und High-Functioning

Beim frühkindlichen Autismus unterscheidet man auf Basis der sprachlichen Entwicklung und der kognitiven Leistungsfähigkeit (Intelligenz) grob zwischen zwei Formen, dem „Low-Functioning-Autismus“, der mit einer verringerten Intelligenz und nur sehr eingeschränkten sprachlichen Fähigkeiten einhergeht, und dem „High-Functioning-Autismus“, bei dem die betroffenen Kinder aufgrund einer durchschnittlichen Intelligenz und einer gut entwickelten Sprache ein höheres so genanntes „Funktionsniveau“ erreichen und somit weniger Probleme in der Interaktion mit ihrer Umwelt haben. Die High-Functioning-Form des frühkindlichen Autismus hat viele Gemeinsamkeiten mit dem als nächstes beschriebenen Asperger-Syndrom, welches allgemein als mildere Form des Autismus bezeichnet werden kann. Tatsächlich kann diese Unterscheidung oft nicht sicher getroffen werden, und einige Experten lehnen sie auch gänzlich ab. Als Ansatzpunkt für eine Unterscheidung kann aber gelten, dass die Symptomatik beim High-Functioning-Autismus früher beginnt als beim Asperger-Syndrom, welches manchmal erst in der Jugend diagnostiziert wird, und dass der High-Functioning-Autismus meist auf eine effektive und intensive Frühförderung von Kindern mit frühkindlichem Autismus zurückzuführen ist, ohne die ein so hohes Funktionsniveau wahrscheinlich nicht erreicht worden wäre.

Asperger-Syndrom

Diese eng mit dem Autismus verwandte Störung wurde nach ihrem Entdecker Hans Asperger, einem österreichischen Kinderarzt, benannt und steht, wie bereits angedeutet, für eine weniger tiefgreifende und daher weniger stark einschränkende Form des Autismus. Es ist durch dieselben Symptome definiert wie der frühkindliche Autismus, mit einigen wichtigen Unterschieden. Die Symptome der Kategorien „soziale Interaktion“ und „stereotypes, repetitives Verhalten“ treten in gleicher, wenn auch oft weniger gravierender Form auch beim Asperger-Syndrom auf. Bezüglich der sehr spezifischen Interessensgebiete finden sich beim Asperger-Syndrom allerdings vorwiegend Sonderinteressen auf sehr hohem, oft naturwissenschaftlichem Niveau (z.B. Astrophysik, Zellbiologie, Chemie…), denen die Betroffenen, wie beim frühkindlichen Autismus, oft in zwanghaft-pedantischer Weise nachgehen. Auffällig ist zudem auch die Motorik von Kindern und Jugendlichen mit Asperger-Syndrom: Insbesondere die feinmotorischen Fähigkeiten sind oftmals nicht gut entwickelt, was sich typischerweise in einer generellen Ungeschicklichkeit oder „Tollpatschigkeit“ niederschlägt, oder aber im Sportunterricht bei Sportarten, die eine gute Koordination erfordern.

Ein weiteres wichtiges Merkmal ist das Alter bei Beginn der Störung: Während der frühkindliche Autismus (wie der Name bereits verrät) sich schon vor dem dritten Lebensjahr äußert, werden Kinder mit dem Asperger-Syndrom erst später, mitunter erst in der Pubertät, auffällig.

Im Gegensatz zum frühkindlichen Autismus treten unter dem Asperger-Syndrom außerdem häufiger so genannte „Inselbegabungen“ auf , d.h. spezifische besondere Fähigkeiten wie beispielsweise ein fotografisches Gedächtnis (bekannt wurde z.B. ein Mann, der nach nur einem Flug über Manhattan eine nahezu 100% detailgetreue Zeichnung aller Gebäude anfertigte) oder die Fähigkeit, zu einem gehörten Musikstück sofort die entsprechenden Noten aufzuschreiben. Im Zusammenhang mit solchen Inselbegabungen spricht man auch häufig vom „Savant-Autismus“ („savant“ bedeutet auf französisch so viel wie „wissend“). Auf eine mögliche Erklärung für diese Inselbegabungen, die mit einer veränderten Art der Wahrnehmung zu tun hat, werde ich im drittenTeil eingehen.

Der wichtigste Unterscheidungspunkt zwischen frühkindlichem Autismus und dem Asperger-Syndrom ist jedoch die Kommunikation: Dieser Symptombereich fällt nämlich beim Asperger-Syndrom weg. Die betroffenen Kinder weisen gut bis sogar sehr gut entwickelte sprachliche Fähigkeiten auf, und auch die kognitive Leistungsfähigkeit ist gut, d.h. durchschnittlich bis überdurchschnittlich ausgeprägt, mit einer sehr guten Abstraktionsfähigkeit. Eine generelle Hochbegabung liegt derweil meistens nicht vor, allerdings ergeben Intelligenztests bei Menschen mit dem Asperger-Syndrom typischerweise eine sehr viel höhere verbale („kristalline“) als nicht-verbale („fluide“) Intelligenz. In der Tat heben sich Kinder mit dem Asperger-Syndrom von nicht betroffenen Kindern durch eine sehr frühe Sprachentwicklung ab, die schnell ein für das jeweilige Alter ungewöhnlich hohes Niveau erreicht. Wenn Kinder oder Jugendliche mit dem Asperger-Syndrom sprechen, verwenden sie oft eine sehr hochgestochene Sprache und drücken sich sehr eloquent aus, weshalb insbesondere Kinder oft von Erwachsenen als „altklug“ belächelt werden. Es sei aber davor gewarnt, nur aufgrund einer überdurchschnittlichen Sprachentwicklung von einem Asperger-Syndrom auszugehen – es handelt sich nur um eins von verschiedenen Symptomen, die alle für die Stellung dieser Diagnose erfüllt sein müssen (siehe oben).

Auffällig an der Sprache von Kindern und Jugendlichen mit dem Asperger-Syndrom ist zudem, dass sie wenige Bezüge zum Gesprächspartner enthält und kaum von non-verbalen Elementen (Gestik, Mimik) begleitet wird. Denn wie beim frühkindlichen Autismus auch, bestehen hier starke Beeinträchtigungen in der sozialen Interaktion, die es den Betroffenen ebenso schwer machen, soziale Situationen und die Emotionen ihrer Mitmenschen zu verstehen, zu deuten und auf sie adäquat zu reagieren, was genau wie beim frühkindlichen Autismus zu massiven Problemen im Umgang mit anderen Menschen und somit zu einer mangelhaften Integration in die eigene Umwelt führen kann.

An diesen Beeinträchtigungen setzen verschiedene Therapiemöglichkeiten an, die ich im vierten Teil darstellen werde. Zudem wird es im dritten Teil um den aktuellen Wissensstand bezüglich der Ursachen von Autismus und Asperger-Syndrom gehen, und im zweiten Teil werde ich auf die Frage eingehen, warum die Zahl der Autismus- Diagnosen in den vergangenen 35 Jahren nahezu exponentiell gestiegen ist.

© Christian Rupp 2013