Flug 4U9525: Hypothesen im Hinblick auf das scheinbar Unerklärliche

Auch wenn es ein ebenso trauriger wie tragischer Anlass ist, habe ich mich entschieden, den Absturz von Flug 4U9525 zum Anlass für einen neuen Blogartikel zu nehmen, nachdem über ein halbes Jahr berufsbedingte Funkstille herrschte. Dazu bewogen haben mich letztendlich die mehr als fragwürdigen Umstände, die gemäß der gestern veröffentlichten Ermittlungen zu dem Unglück geführt haben, und die damit verbundene Fassungslosigkeit bezüglich des Verhaltens des Copiloten.

Wie wir nun wissen, hat sehr wahrscheinlich der Copilot den Absturz der Maschine bewusst und vermutlich auch absichtlich herbeigeführt. Mit anderen Worten: Im Raum steht derzeit der begründete Verdacht, dass der Copilot sich selbst suizidiert und damit rund 150 unbeteiligte Menschen mit in den Tod gerissen hat. Dies ist für alle Beteiligten – und dabei beziehe ich mich neben den Angehörigen der Passagiere und Crewmitglieder auch auf die Familie des Copiloten – ein nur schwer nachzuvollziehender und noch schwerer zu akzeptierender Umstand, erzeugt er doch ein ungeheures Maß an Wut und Hilflosigkeit. Und hiermit verbunden ist (und auch dies ist absolut verständlich) immer auch relativ automatisch die Frage “Wie konnte so etwas passieren?”. Bei der großen Mehrzahl der Flugzeugunglücke richtet sich diese Frage auf technische Defizite, Sicherheitslücken und ggf. menschliches Versagen. Doch im Falle von Flug 4U9525 ist es anders: Hier richtet sich die Frage eher in die Richtung der fragwürdigen psychischen Verfassung des Copiloten, und ziemlich schnell wurden in den Medien auch die psychologischen Tests der Lufthansa aufs Korn genommen, die alle angehenden Piloten durchlaufen und bestehen müssen.

Typischerweise beinhalten diese Tests die Erfassung zentraler für die Tätigkeit als Pilot relevanten Persönlichkeitsmerkmale wie z.B. Stressresistenz, Gewissenhaftigkeit oder auch allgemeine Intelligenz. In der Tat hat insbesondere das Auswahlverfahren der Lufthansa einen sehr guten Ruf, und die Tatsache, dass möglicherweise nun erstmalig ein Kandidat “durchs Raster gefallen” ist, spricht im Grunde eher für als gegen das psychologische Testverfahren, da es bisher offenbar ziemlich verlässlich in der Bewerberauswahl war. Dass psychologische Tests jedoch niemals eine 100% sichere Vorhersage über das spätere Verhalten eines Bewerbers machen können, liegt zum einen in den Eigenschaften psychologischer Tests per se begründet (hier und hier nachzulesen), zum anderen aber natürlich auch darin, dass sich Menschen im Laufe der Zeit verändern, wobei zum Zeitpunkt der psychologischen Untersuchung keinerlei Vorboten für solche (z.B. charakterlichen) Veränderungen erkennbar sein müssen. Doch was wären nun – auf Basis des aktuellen Erkenntnisstands – mögliche psychologische Erklärungen für das für die meisten so derart unfassbare Verhalten des Copiloten? Ich habe mir hierüber einige Gedanken gemacht und würde gerne einige Möglichkeiten näher erläutern. Bei den folgenden Darstellungen möchte ich allerdings noch einmal betonen, dass es sich hierbei um Erklärungsansätze handelt, die auf der Annahme beruhen, dass Ursache des Unglücks tatsächlich kein technisches Versagen, sondern die intentionale Handlung einer einzelnen Person war, die wiederum nicht im klassischen Sinne terroristisch motiviert war.

Möglichkeit 1: Psychose & Depression

Eine mögliche Erklärung für das durchaus “wahnsinnig” anmutende Verhalten des Copiloten, ist, dass er tatsächlich unter einer akuten psychotischen Erkrankung wie der Schizophrenie oder aber einem verwandten Störungsbild wie beispielsweise einer schizoaffektiven oder einer wahnhaften Störung litt. Kennzeichnend für diese Gruppe von Störungsbildern sind im Wesentlichen der Verlust des Realitätsbezugs im Sinne einer Verkennung der Realität (Wahn) sowie Halluzinationen, die alle fünf Sinneskanäle betreffen können. Typisch für letzteres ist das Hören von Stimmen, die beispielsweise bestimmte Befehle erteilen. In Bezug auf Flug 4U9525 wäre also eine mögliche Erklärung für das Verhalten des Copiloten, dass er aufgrund eines akuten Wahns (Überzeugung, aus irgendeinem Grund das Flugzeug abstürzen lassen zu müssen) oder aufgrund von Stimmen, die ihm ebendies befohlen haben, entsprechend handelte. Hierdurch ließe sich auf jeden Fall das aus unseren Augen verantwortungslose Handeln erklären, da im Rahmen eines akuten psychotischen Zustands ein Hinterfragen der Wahninhalte und der Halluzinationen unmöglich wird – und somit auch die Übernahme einer anderen Perspektive wie z.B. der der Passagiere.

Es gibt jedoch mehrere Aspekte, die gegen diese Hypothese sprechen. Es gibt zwar den seltenen Fall, dass eine Schizophrenie oder eine wahnhafte Störung plötzlich und ohne “Vorwarnung” (so genannte Prodromalsymptome) auftritt, doch es wäre dennoch mehr als ungewöhnlich. Denkbar wäre hier ggf. noch eine auf organische Ursachen (akute Erkrankungen des Gehirns wie z.B. eine Gehirnblutung) zurückgehende Psychose, jedoch sind auch diese vergleichsweise selten. Zudem gehen psychotische Erkrankungen in der Regel mit einer ziemlich allumfassenden Störung kognitiver Funktionen einher, d.h. mit zumeist derart starken Konzentrations- und Auffassungsstörungen, dass es eher unwahrscheinlich erscheint, dass ein solcher Zustand unbemerkt bleibt und ein Copilot so ins Cockpit gelangt. Dagegen spricht ferner das Alter des Copiloten, der meines Wissens nach 28 Jahre alt war – denn das typische Ersterkrankungsalter für psychotische Störungen liegt bei Männern ca. im Bereich zwischen dem 19. und 24. Lebensjahr. Auch für die Möglichkeit einer schweren Depression, die oft mit Suizidgedanken, -impulsen und -handlungen einhergeht, spricht aus meiner Sicht eher wenig, da auch diese in der Regel mit derart starken Symptomen wie Antriebsminderung und Konzentrationsschwäche einhergeht, dass das Ausüben des Pilotenberufs unmöglich wird. Zudem sind bei (reinen) Depressionen derart appellative Suizide (Erläuterung siehe unten) eher untypisch. Ähnliches gilt für den Fall, dass der Entschluss zum Suizid durch die Diagnose einer schweren und ggf. tödlich verlaufenden Erkrankung getroffen wird: Auch hier wäre es bei Vorliegen einer “gesunden” Persönlichkeitsstruktur eher sehr ungewöhnlich, dass Unbeteiligte mit in den Tod gerissen werden.

Möglichkeit 2: Persönlichkeitsstörung

Die andere mögliche (psychologische) Erklärung für das Verhalten des Copiloten wäre, dass er an einer Persönlichkeitsstörung litt. Hierbei handelt es sich um tiefgreifende Störungen des menschlichen Interaktionsverhaltens vor dem Hintergrund einer extremen Ausprägung bestimmter Persönlichkeitsmerkmale, die in der Regel zu massiven Problemen zwischen der betroffenen Person und ihrer Umwelt führen (daher auch der eigentlich passendere Begriff der Beziehungsstörung). Kennzeichnend ist hierbei, dass Betroffene selbst eine Persönlichkeitsstörung meistens nicht als das eigentliche Problem sehen (man sagt daher, eine Persönlichkeitsstörung ist ich-synton) – in der Regel sehen Betroffene daher vorrangig die Schuld für ihre interaktionellen Probleme bei den Menschen in ihrer Umwelt.

Nun gibt es eine ganze Reihe verschiedener Persönlichkeitsstörungen, die sich am ehesten anhand des jeweiligen zwischenmenschlichen Motivs (bzw. Bedürfnisses) unterscheiden lassen, das die Betroffenen auf exzessive Weise und unter Anwendung problematischer Verhaltensweisen (z.B. Lügen, Manipulation, etc.) versuchen zu befriedigen. So könnte man z.B. sagen, dass bei der dependenten Persönlichkeitsstörung das Bedürfnis nach zwischenmenschlicher Nähe und bei der zwanghaften Persönlichkeitsstörung dasjenige nach Sicherheit und Verbindlichkeit in jeweils extremer Weise realisiert werden, wobei das, was die Störung zur Störung macht, die wachsenden negativen Konsequenzen und Einschränkungen sind, die die Person dadurch erleidet – und die (wenn überhaupt) meist den eigentlichen Grund für das Aufsuchen einer Behandlung darstellen.

Auf Basis der mir bekannten Umstände bzgl. des Absturzes der Germanwings-Maschine kämen aus meiner Sicht drei Persönlichkeitsstörungen in Frage. Zum einen ließe sich derart verantwortungsloses und im Grunde aggressives Verhalten durch eine antisoziale Persönlichkeitsstörung erklären, die u.a. auch durch einen Mangel an Empathie und Mitgefühl für die Opfer gekennzeichnet ist. Dagegen spricht allerdings erstens, dass Menschen mit antisozialer Persönlichkeitsstruktur in der Regel kaum einen Bildungsweg absolvieren, der schließlich zum Beruf des Piloten führt, und dass derartige Verhaltens- und Denkmuster in einer psychologischen Testung wie der der Lufthansa sehr wahrscheinlich aufgefallen wären. Zweitens spricht dagegen, dass Menschen mit antisozialer Persönlichkeitsstruktur zwar typischerweise anderen Menschen Schaden zufügen, jedoch kaum sich selbst, d.h. eher nicht den eigenen Tod mit in Kauf nehmen würden. In Frage käme darüber hinaus außerdem eine emotional-instabile Persönlichkeitsstörung (besser bekannt als Borderline-Störung), die durch eine Instabilität der Emotionen, Beziehungen und des Selbstbilds gekennzeichnet ist und mit Selbstverletzungen und Suizidversuchen einhergeht, die häufig appellativen Charakter haben, d.h. auf dramatische Weise die eigene Hilfsbedürftigkeit deutlich machen sollen. Hierzu würde zwar die Gestaltung des vermeintlichen Suizids des Copiloten passen, jedoch spricht hiergegen, dass Menschen mit emotional-instabiler Persönlichkeitsstörung selten in der Lage sind, ein so geordnetes Leben zu führen, dass sie eine Pilotenlaufbahn einschlagen und beibehalten können.

Hypothese: Appellativer Suizid nach narzisstischer Kränkung

Für die wahrscheinlichste Antwort auf die psychologische Frage nach dem “Warum” halte ich eine narzisstische Persönlichkeitsstörung. Das zentrale zwischenmenschliche Motiv, um das sich Menschen mit dieser Art von Persönlichkeitsstörung unablässlich drehen, ist das nach Anerkennung und Bewunderung. Wie der bekannte Psychotherapeut Rainer Sachse herausstellte, ist das, worunter diese Menschen im Grunde leiden, ein unauflöslicher Konflikt zwischen einem sehr negativen Selbstkonzept (“Ich bin ein inkompetenter Versager, der zu nichts in der Lage ist”) und einem übermäßig positiven Selbstkonzept (“Ich bin sowieso der Beste, alle anderen sind nur neidisch auf mich”), das der Betroffene entwickelt, um das negative Selbstkonzept zu kompensieren. Dadurch – und vor dem Hintergrund des riesigen Bedürfnisses nach Bewunderung – erklären sich viele Verhaltensweisen von Narzissten. In der Regel haben sie eine Reihe von Größenphantasien im Kopf, die sich nicht selten darum drehen, wie sie im Mittelpunkt einer großen Menschenmenge stehen und als Gewinner  gefeiert werden. Menschen mit narzisstischer Persönlichkeitsstörung sind zudem meist äußerst wettkampforientiert und stabilisieren ihr positives Selbstkonzept häufig, indem sie andere Menschen massiv abwerten (“Der kann doch nichts, der ist völlig inkompetent, der kann mir doch nie das Wasser reichen”). Kennzeichnend ist zudem ein Mangel an emotionaler Empathie (d.h. Narzissten können sich emotionale Zustände rational gut erschließen, emotional fühlen sie jedoch kaum mit) und eine damit zusammenhängende Tendenz zu manipulativem Verhalten, das letztendlich immer darauf abzielt, sich selbst in ein gutes Licht – und möglichst auch in den Mittelpunkt der kollektiven Aufmerksamkeit zu rücken. Vielleicht hat jetzt der ein oder andere Leser ein gewisses Aha-Erlebnis, weil er nun einen Begriff für manch eine Person hat, die ihn stets zur Weißglut treibt.

Das, was Menschen mit narzisstischer Persönlichkeitsstörung bisweilen unberechenbar und daher auch in einem gewissen Maß gefährlich macht, ist das, was passiert, wenn das positive Selbstbild durch Ereignisse in der Umwelt ins Wanken gebracht und das negative aktiviert wird – ein Prozess, der auch als narzisstische Kränkung bezeichnet wird. Diese kann aus unbeteiligter Sicht durch relative Lappalien ausgelöst werden, etwa durch eine vergleichsweise harmlose Kritik seitens eines Vorgesetzten, oder aber durch größere Einschnitte wie eine Kündigung oder eine vom Partner ausgesprochene Trennung. Nicht selten geraten Narzissten in diesem Moment wahrhaftig außer Kontrolle und versuchen, die Kränkung durch hasserfüllte Abwertung der Umwelt (“Wie konnte das Miststück mir das nur antun?!”) und das Üben von Rache zu kompensieren. Letzteres ist das gefährlichste, denn Rache im Sinne eines Narzissten bedeutet, der Umwelt (und hierbei wird der Hass oft von der eigentlich verursachenden Person auf andere Menschen ausgeweitet) in dem Maße “wehzutun”, wie diese (in der subjektiven Sicht der gekränkten Person) auch ihm “wehgetan” hat. Mit anderen Worten: Es ist möglich, dass ein derart gestrickter Mensch nach einer Kränkungserfahrung eine derartige Wut und einen solch ausgeprägten Hass entwickelt, dass diese sich schnell auf die gesamte Umwelt ausweiten (“Die denken doch alle, sie könnten mit mir machen, was sie wollen – aber da haben die sich geschnitten”) und ein großes Bedürfnis nach Rache entsteht. Und eben diese Konstellation kann das zur Folge haben, was (wie oben schon angerissen) auch als appellativer oder demonstrativer Suizid bezeichnet wird – womit wir es übrigens auch häufig bei Amokläufen zu tun haben, denen nicht selten ebenfalls eine massive Kränkung des Täters vorausgeht, z.B. durch Mobbing. Werden (wie wahrscheinlich im Fall von Flug 4U9525) unbeteiligte Personen mit hineingezogen, spricht man zudem auch vom erweiterten Suizid oder vom Mitnahmesuizid.

Ein solcher appellativer Suizid beruht meist auf zwei Annahmen: Erstens, dass die gekränkte Person durch einen derart Aufmerksamkeit erregenden Tod der Welt “einen Denkzettel verpassen” kann, da dieser somit vor Augen geführt wird, was sie der Person alles “angetan” hat – und zweitens, dass sie durch das Mitreißen von im Grunde unbeteiligten Menschen zumindest zum Teil “Rache an der Menschheit” nehmen kann, die sich gemäß der Wahrnehmung der gekränkten Person kollektiv gegen sie gerichtet hat. Mir ist bewusst, dass derartige Gedankengänge sehr erschreckend und beängstigend wirken können; dennoch sind sie ebenso Teil der Realität wie die Menschen, zu denen sie gehören. Das Gefährliche hieran ist dabei leider auch, dass Menschen mit narzisstischer Persönlichkeitsstörung häufig sehr gut darin sind, derartige Denkmuster zu verbergen, und sich oft nach außen hin sehr adäquat verhalten, was erklären könnte, dass entsprechende Persönlichkeitsmerkmale selbst in psychologischen Untersuchungen mitunter unentdeckt bleiben. Zudem ist es anders als bei den anderen beiden diskutierten Persönlichkeitsstörungen so, dass Betroffene in der Regel einen hohen Bildungserfolg aufweisen und so z.B. auch Zugang einer Pilotenausbildung erhalten.

Korrekterweise muss ich an dieser Stelle herausstellen, dass es sich bei dem, was ich im vergangenen Abschnitt beschrieben habe, um eine Extremform der narzisstischen Persönlichkeitsstörung handelt, die in der Mehrzahl der Fälle nicht zu derarzt verheerenden Handlungen führt wie soeben beschrieben. In Bezug auf das aktuelle Flugzeugunglück ist hierdurch jedoch eine mögliche Erklärung für das Verhalten des Copiloten von Flug 4U9525 gegeben, die mir auf Basis des aktuellen Erkenntnisstands und meines psychologischen Wissens zumindest plausibel erscheint. Ich erhebe dabei nicht den Anspruch, hiermit die richtige Erklärung gefunden zu haben. Mein Hauptanliegen hierbei ist, die Fassungslosigkeit der Menschen aufzugreifen und deutlich zu machen, wie es tatsächlich doch dazu kommen kann, dass Menschen in einer Art und Weise handeln, wie sie für die meisten von uns völlig unverständlich – und durchaus auch beängstigend ist.

 © Christian Rupp 2015

Intelligenz – Teil 6: „The Bell Curve“ & das dunkelste Kapitel der Psychologie

1994 veröffentlichten die beiden US-Amerikaner Richard Herrnstein und Charles Murray ein Buch namens „The Bell Curve: Intelligence and Class Structure in American Life“, wobei es sich bei der „bell curve“ natürlich um eine Anspielung an die Gauß’sche Glockenkurve handelt, der die IQ-Werte in der Population zumindest annähernd folgen (siehe auch hier). Dieses Buch hat für eine breite Kontroverse und heftige Kritik gesorgt, die man heutzutage wahrscheinlich als shit storm bezeichnen würde. Und das nicht ohne Grund, ziehen die Autoren doch auf Basis wackliger Prämissen Schlussfolgerungen, die schon im Nationalsozialismus en vogue waren.

Ethnische Unterschiede bezüglich der allgemeinen Intelligenz

Der wohl am kritischsten zu betrachtende Aspekt in der Darstellung von Herrnstein und Murray ist die Art und Weise, wie sie auf ethnische Unterschiede hinsichtlich des allgemeinen Intelligenzquotienten verweisen. So gelangen sie auf Basis der gesichteten Studienlage zu dem Schluss, dass in den USA Menschen asiatischer Herkunft in klassischen Intelligenztests wie den Wechsler-Tests durchschnittlich fünf IQ-Punkte mehr erzielen als „weiße“ US-Amerikaner, während Menschen afroamerikanischer Abstammung im Schnitt 15-18 Punkte (d.h. eine ganze Standardabweichung) weniger als „weiße“ Amerikaner erlangen. Nun kann man sich vorstellen, dass diese Befunde vor dem Hintergrund der Art und Weise, wie Afroamerikaner in der Vergangenheit in den USA behandelt wurden, gewaltigen sozialpolitischen Sprengstoff lieferten. Zudem weisen die Autoren darauf hin, dass der IQ von Einwandern zum Zeitpunkt der Immigration im Durchschnitt bei 95 und somit unterhalb des Populationsmittelwerts von 100 liege.

Sozialpolitische Schlussfolgerungen: Afro-Amerikaner und Immigranten loswerden

Nun, diese gefundenen Unterschiede sind zunächst einmal nicht so einfach wegzudiskutieren (worauf sie wahrscheinlich zurückzuführen sind, werde ich später noch beschreiben!), aber das Skandalöse an dem Buch „The Bell Curve“ ist etwas anderes: die sozialpolitischen Schlussfolgerungen und Forderungen, die Herrnstein und Murray daraus ableiten. Insgesamt zielt ihre Argumentation darauf ab, deutlich zu machen, dass durch eine Reihe von Faktoren die mittlere Intelligenz der US-Bürger heruntergedrückt werde und die Gesellschaft somit quasi zugrunde gehe. Hierfür seien eine Reihe von Faktoren verantwortlich. Neben dem nicht geringer werdenden Strom von Einwanderern, die mit ihrer geringeren Intelligenz den Durchschnitt „drücken“ (ebenso wie die afroamerikanische Bevölkerung), liege eine weitere Ursache in der Tatsache, dass Mütter mit unterdurchschnittlichem IQ mehr Kinder bekämen als solche mit durchschnittlichem IQ (was ein korrekter Befund ist). Da Intelligenz größtenteils erblich sei, vermehre sich somit die „dumme“ Bevölkerung immer mehr, während die „schlaue“ immer weniger werde. Aufgrund der angeblich hohen Heritabilität von Intelligenz seien ferner sämtliche großangelegte Fördermaßnahmen mit dem Ziel, Intelligenzunterschiede auszugleichen, völlige Fehlinvestitionen. Und es geht noch weiter: Antidiskriminierungsmaßnahmen, die dazu dienen sollen, Chancengleichheit in der Bevölkerung herzustellen (indem gezielt traditionell benachteiligte Gruppen wie Afroamerikaner gefördert werden), seien nicht nur unnütz, sondern auch ungerecht, da so z.B. Angehörige dieser Gruppen Studienplätze oder Jobs erhielten, für die sie aufgrund ihrer geringen Intelligenz gar nicht qualifiziert seien. Dies wiederum führe nur zu sozialen Spannungen und wachsendem Hass der eigentlich benachteiligten, „weißen“ Bevölkerung auf die afroamerikanische. Außerdem trüge diese Art von Fördermaßnahmen zur Verdummung von Schulen und Universitäten bei. Man solle, so Herrnstein und Murray, lieber die Ungleichbehandlung fortführen, da diese schlichtweg der Realität entspreche. Geld solle man lieber in die Förderung der Begabten (= hoch Intelligenten) stecken, da diese ohnehin bald in der absoluten Minderheit seien. Falls Ihnen diese Argumentationslinie bekannt vorkommt, wird das sehr wahrscheinlich daran liegen, dass ein ehemaliger deutscher Politiker namens Thilo Sarrazin in seinem Buch „Deutschland schafft sich ab“ vor einigen Jahren fast genau die gleichen Thesen aufgegriffen und auf die Einwanderungssituation in Deutschland angewendet hat.

Die Kritik

Die Kritik an „The Bell Curve“ ist allem voran eine Kritik an den von Herrnstein und Murray vorausgesetzten Prämissen. Denn ein Grundkonzept der Philosophie lautet nun einmal, dass ein Argument nur dann Gültigkeit besitzt, wenn die Wahrheit der Prämissen zwangsläufig zur Wahrheit der Schlussfolgerung (Konklusion) führt. Die wichtigsten nicht korrekten Prämissen sind, wie auch bereits von Stephen Jay Gould beschrieben, im Folgenden dargestellt.

Überschätzte Heritabilität

Einer der größten Schwachpunkte an der oben beschriebenen grotesken Argumentation ist in der Tat, dass Intelligenz auf Basis des heutigen Wissensstandes bei weitem nicht so stark erblich bedingt ist wie lange angenommen (was Sie hier nachlesen können). Und selbst wenn dies so wäre, wäre die Schlussfolgerung, die gemessenen IQ-Unterschiede zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen seien im unterschiedlichen genetischen Material der Gruppen begründet, immer noch falsch, denn: Die Gruppen unterscheiden sich ganz offenbar auch stark hinsichtlich ihrer Umweltbedingungen (sozioökonomischer Status etc.), sodass man selbst im Sinne der klassischen Verhaltensgenetik folgern muss, dass die Ursache für die Unterschiede unklar ist. Heutzutage gibt es viele Belege dafür, dass die gemessenen IQ-Unterschiede eher nicht auf genetische Unterschiede zurückzuführen sind, sondern sehr viel stärker durch Umweltfaktoren zu erklären sind, vor allem durch den z.B. in der afroamerikanischen Bevölkerung im Durchschnitt deutlich geringeren sozioökonomischen Status, den damit verbundenen schlechteren Zugang zu (in den USA meist sehr teuren) Bildungsangeboten sowie durch diverse psychologische Effekte wie die sich selbsterfüllende Prophezeiung und geringe Leistungserwartungen von Lehrern an afroamerikanische Kinder (die oft von Beginn an mit dem Vorurteil konfrontiert werden, dass sie weniger leistungsfähig sind als „weiße“ Kinder). Hinzu kommen wahrscheinlich Effekte durch schlechtere Englischkenntnisse, die zur Bearbeitung der Intelligenztests erforderlich sind, sowie möglicherweise kulturelle Unterschiede (siehe weiter unten).

Annahme eines für alle Menschen geltenden g-Faktors

Herrnstein und Murray gründen ihre Argumentation unter anderem auf die Prämisse, dass es einen für alle Menschen geltenden Generalfaktor der Intelligenz (g-Faktor) gibt, der im Wesentlichen auch von allen gängigen Intelligenztests gemessen wird. Beide Prämissen sind auf Basis des aktuellen Standes der Wissenschaft nur schwer haltbar, wie Sie auch hier nachlesen können.

Intelligenztests sind für alle ethnischen Gruppen gleich schwierig

Auch diese wichtige Prämisse wird zwar kontrovers diskutiert, ist aber durchaus als heikel einzustufen. Zum einen gibt es Hinweise darauf, dass Menschen in westlich geprägten Kulturen vertrauter sind mit typischen Intelligenztestaufgaben, sodass Menschen aus anderen Kulturen eine Benachteiligung bei der Aufgabenbearbeitung erfahren. Ein sehr pragmatisches Beispiel hierfür sind Untertests zur kristallinen Intelligenz, in denen allgemeines Wissen oder Wortschatz dadurch erfragt wird, dass den getesteten Personen Bilder der jeweiligen Objekte gezeigt werden (wie z.B. im WIE). Hier liegt es auf der Hand, dass die Bilder (z.B. Autos, Armbanduhren, Häuser) stark von derjenigen Kultur geprägt sind, in der der Test entwickelt wurde – und dass Menschen aus anderen Kulturkreisen hiermit weitaus weniger vertraut sein mögen. Verknüpft damit ist der zweite Aspekt, der beinhaltet, dass das Verständnis von Intelligenz, auf dem etablierte Intelligenztests beruhen, stark durch die westliche Kultur geprägt ist, die Intelligenz weitgehend als Ausmaß der Effizienz der Informationsverarbeitung sieht. Wie Sie hier nachlesen können, hängt die Definition von „Intelligenz“ jedoch stark vom kulturellen Umfeld ab, sodass eine Benachteiligung dadurch entsteht, dass eines von vielen verschiedenen Intelligenzkonzepten gleichsam auf alle Menschen angewendet wird. Ein ganz zentrales Element, das eine Benachteiligung nach sich zieht, sind zudem die ungleich guten Sprachkenntnisse der getesteten Menschen, also z.B. bei Einwanderern in die USA die Englischkenntnisse. Es erscheint relativ logisch, dass bei mangelndem sprachlichen Verständnis der Aufgaben (und das ist bei jedem Intelligenztest erforderlich) schlechtere Testergebnisse resultieren, weil die Voraussetzung dafür, dass Intelligenz überhaupt gemessen werden kann, gar nicht erfüllt ist.

Fehler in der Analyse der zugrunde gelegten Studien

Zusätzlich zu den bereits genannten Punkten muss man den Autoren von „The Bell Curve“ außerdem noch eine Reihe methodischer und statistischer Fehler bei der Analyse der herangezogenen Studien vorwerfen. Zum einen wäre da der wirklich sehr grobe Schnitzer, einen Korrelationszusammenhang, der grundsätzlich ungerichtet ist, auf kausale Weise zu interpretieren. Gemeint ist hier der Zusammenhang zwischen dem sozioökonomischen Status und Intelligenz, wobei Herrnstein und Murray verzweifelt versuchen, scheinbar zu beweisen, dass ein niedriger IQ die Ursache eines niedrigen sozioökonomischen Status ist und nicht umgekehrt. Was hierbei jedoch Ursache und was Wirkung ist, ist nicht eindeutig geklärt, und das Allerwahrscheinlichste und zugleich Logischste ist, dass beide Faktoren sich im Laufe eines Menschenlebens gegenseitig beeinflussen: Intelligenz ist förderlich dabei, einen hohen Bildungsstand zu erreichen und somit das Armutsrisiko zu reduzieren, aber ebenso beeinflussen der sozioökonomischen Status und die damit verbundenen Förderbedingungen in der Ursprungsfamilie maßgeblich, wie sich die Intelligenz eines Menschen entwickelt. Meiner Meinung nach muss man sogar sagen, dass es letztlich unmöglich ist, diese beiden Variablen zu trennen, weil sie derart stark verflochten und voneinander abhängig sind. Und da wir es hier sowohl auf Seiten der Intelligenz als auch auf Seiten des sozioökonomischen Status mit zahlreichen anderen Variablen zu tun haben, die mit beidem zusammenhängen, aber so gut wie nie in Studien berücksichtigt und kontrolliert wurden, werden vernünftige Schlussfolgerungen noch zusätzlich erschwert.

Zweitens kann man Herrnstein und Murray für die Auswahl der zugrunde gelegten Originalarbeiten kritisieren: So beziehen sie sich auf mehrere Studien, die methodisch mehr als zweifelhaft sind (z.B. weil lediglich IQ-Unterschiede zwischen Gruppen, aber keine Gruppenmittelwerte berichtet werden oder weil die gemessenen niedrigeren IQ-Werte von südafrikanischen Kindern offensichtlich auf kaum vorhandene Englischkenntnisse zurückgehen). Drittens muss man den beiden Autoren vorhalten, dass sie bei der Analyse der Studien selektiv solche aussortierten, die nicht ins Bild passten – z.B. Daten von südafrikanischen (schwarzen) Schülern, die in einem Intelligenztest im Durchschnitt besser abschnitten als weiße Schüler. Somit ist die Analyse von Herrnstein und Murray alles andere als ausgewogen.

Eugenik – künstliche Selektion zur Rettung der Menschheit

Die Eugenik ist zweifelsohne das dunkelste und grausamste Kapitel der Psychologie, das traurigerweise kaum Inhalt der akademischen Lehrpläne in diesem Fach ist. Gemeint ist mit diesem Begriff eine Form der künstlichen Selektion der Art, dass die Fortpflanzung dahingehend beeinflusst wird, dass Nachkommen mit gewünschten Eigenschaften (z.B. hoher Intelligenz) entstehen – entweder durch Förderung der Fortpflanzung „wertvoller“ Menschen (positive Eugenik) oder durch die Hinderung „minderwertiger“ Menschen daran, sich fortzupflanzen (negative Eugenik). Ein leidenschaftlicher Verfechter dieser Konzepte war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Sir Francis Galton, der, begeistert vom Werk „Die Entstehung der Arten“ seines Cousins Charles Darwin, die These aufstellte, dass die natürliche Selektion des Menschen dadurch behindert werde, dass die Gesellschaft ihre schwachen Mitglieder schütze. Daher, so Galton, sei eine künstliche Selektion im Sinne der Eugenik nötig, weil sich sonst die weniger intelligenten Menschen stärker vermehren und so zum Niedergang der menschlichen Rasse führen würden (man merkt: Sowohl die Ideen von Herrnstein und Murray als auch die Thilo Sarrazins sind schon recht alt). Niedrige Intelligenz war bereits damals mit der Einwanderungsgesellschaft und der afroamerikanischen Bevölkerung assoziiert, und Galton war fest davon überzeugt, dass Intelligenz erblich bedingt sei. Daher lag die Schlussfolgerung nahe, die Selektion (und so die „Rettung der Menschheit“) dadurch voranzutreiben, dass man jene „minderintelligenten“ Gruppen von der Fortpflanzung abhalten möge.

Konkret war die politisch bald durchgesetzte Folgerung hieraus die Sterilisation entsprechender Personengruppen. Diese bezog sich allerdings nicht auf alle oben genannten Bevölkerungsgruppen, sondern laut dem US-amerikanischen Model Eugenic Sterilization Law (1922) u.a. auf „Minderbegabte“, „Wahnsinnige“, Blinde, Behinderte, Kriminelle, Epileptiker, Obdachlose und Waisenkinder. Und man sollte nicht davon ausgehen, dass diese nicht durchgeführt wurde: So schätzte das Journal of the American Medical Association, dass allein in den USA zwischen 1941 und 1942 über 42000 Personen zwangssterilisiert wurden. Aber damit nicht genug: Neben den USA etablierte eine Fülle weiterer Länder in der Folge eigene Eugenik-Programme (sowohl positive als auch negative), darunter auch Schweden, Kanada, Australien, Norwegen, Finnland und die Schweiz. Trauriger Spitzenreiter war in der Zeit des Nationalsozialismus Deutschland, wo bis zum Ende des 2. Weltkriegs mehr als eine halbe Million Menschen wegen „Verdachts auf Erbdefekte“ oder „Gefahr der Rassenverunreinigung“ zwangssterilisiert wurden – worunter neben geistig und körperlich behinderten Menschen auch „Asoziale“ wie Sinti, Roma und Alkoholiker sowie Homosexuelle (hier entzieht sich mir selbst der vermeintliche Sinn), Prostituierte und Fremdrassige (v.a. Menschen afrikanischer und arabischer Abstammung) fielen. Dies gipfelte schließlich in den rund 100.000 Euthanasiemorden, die die Nazis im Rahmen der „Aktion T4“ an behinderten Menschen verübten. Ein Beispiel für positive Eugenik war zudem der vom NS-Regime ins Leben gerufene Lebensborn, der zum Ziel hatte, die Geburtenrate „reinrassig-arischer“ Kinder zu steigern.

Das einzig Gute an alldem war (wenn man in diesem Zusammenhang überhaupt das Wort „gut“ verwenden darf), dass nach Ende des 2. Weltkriegs das internationale Ansehen der Eugenik drastisch abnahm, weil kaum ein Land mit den Gräueltaten Deutschlands in Verbindung gebracht werden wollte. Die Eugenikprogramme der meisten Länder wurden eingestellt, und 1948 verabschiedeten die Vereinten Nationen eine Resolution, gemäß derer es allen Männern und Frauen unabhängig von ihrer Nationalität, Ethnie, etc. erlaubt sein sollte, zu heiraten und eine Familie zu gründen.

Eine Warnung: Damit Deutschland sich nicht abschafft

Es wäre falsch, zu sagen, dass das Buch von Herrnstein und Murray direkt zur Eugenik aufruft. Dennoch finden sich in der Argumentationslinie und den gezogenen Schlussfolgerungen ganz klar Parallelen zu den Konzepten und Praktiken der Eugenik (keine Förderung der Schwachen, Bewahrung der Menschheit vor der Überbevölkerung durch die „Minderintelligenten“), die von Thilo Sarrazin gleichermaßen für Deutschland übernommen wurden. Auch nicht gerade ein gutes Licht auf „The Bell Curve“ wirft die Tatsache, dass Herrnstein und Murray sich einer großen Zahl von Originalarbeiten Richard Lynns bedienen, der nicht nur als bekannter Intelligenzforscher, sondern auch als bekennender Verfechter der Eugenik bekannt ist und z.B. befürwortet, Embryonen bei der künstlichen Befruchtung auf genetische Eigenschaften hin zu untersuchen und nur die „besten“ zu verwenden.

Auffällig ist bei Lynn, dass er kein Demagoge ist, der die Gesellschaft aufhetzen will. Er ist Wissenschaftler und hat größtenteils die unbegrenzte Nutzung wissenschaftlich angesammelten Wissens als Ziel vor Augen. Diese mechanistische Denkweise ist allerdings eine, die meiner Ansicht nach niemals Macht erlangen sollte. Denn was Lynn völlig außer Acht lässt, sind all die ethischen Probleme und Menschenrechtskontroversen, die dies mit sich führen würde. Aber was ist die Alternative? Politiker wie Thilo Sarrazin, die mit menschenverachtendem Vokabular zur „Eugenik 2.0“ aufrufen? Bitte nicht. Was bleibt, ist die Hoffnung in die wirklich klugen Köpfe unserer Gesellschaft, die in der Lage sind, Weltanschauung und wissenschaftliche Befunde auf konstruktive Art und Weise miteinander zu verbinden, anstatt immer neue Katastrophen herbeizuschwören und noch katastrophalere Lösungen vorzuschlagen.

 

Intelligenz – Teil 5: Ist unser IQ ausschließlich genetisch bedingt?

Vielen Lesern mag diese Frage allein schon seltsam vorkommen, herrscht doch in vielen Bereichen unserer Gesellschaft doch die Meinung vor, dass Menschen hinsichtlich ihrer Fähigkeiten stark formbar sind. Schließlich schicken wir unsere Kinder in die Schule, regen sie bei schlechten Noten an, sich anzustrengen und besorgen ihnen eine nette Nachhilfelehrerin. Die in der Überschrift gestellte Frage ist jedoch berechtigt, herrschte (und herrscht oft heute noch) in der Psychologie doch die Ansicht vor, dass die allgemeine Intelligenz des Menschen ein Merkmal darstellt, das zu einem vergleichsweise großen Anteil vererbt wird, d.h. genetisch determiniert ist. Da man in der Psychologie ebenso wie in der gesamten Wissenschaft ziemlich sicher ist, dass kaum ein menschliches Merkmal (mit Ausnahme von Dingen wie Augenfarbe und Blutgruppe) zu 100% genetisch bestimmt ist, begann man vor einigen Jahrzehnten, sich der Frage nach dem Anteil zu widmen, der auf genetische einerseits und Umwelteinflüsse andererseits zurückzuführen ist. Der Wissenschaftszweig, der sich hieraus entwickelte, nennt sich Verhaltensgenetik.

Das Konzept der Heritabilität

Den Grad der Erblichkeit eines Merkmals wie Intelligenz vernünftig zu berechnen, ist alles andere als einfach. In der Regel wird als Anhaltspunkt die so genannte Heritabilität berechnet, welche zweifelsohne zu den Messgrößen gehört, die am häufigsten falsch und vor allem überinterpretiert werden. Meistens wird die Heritabilität auf Basis von Zwillingsstudien berechnet. Das sind Studien, in denen eineiige (die zu 100% dieselben Gene besitzen) oder aber zweieiige Zwillinge (die durchschnittlich, aber nicht immer genau, 50% der Gene teilen – genau wie „normale“ Geschwister) dahingehend untersucht werden, inwieweit jedes der untersuchten Zwillingspaare hinsichtlich eines bestimmten Merkmals übereinstimmt. In unserem Fall bedeutet das: Bei beiden Zwillingen wird der IQ gemessen, und dann wird über die gesamte Stichprobe von Zwillingspaaren die Korrelation berechnet, sodass man ein Maß dafür erhält, wie groß über alle Zwillingspaare hinweg die durchschnittliche Übereinstimmung zwischen Zwilling A und Zwilling B ist. Wenn ein Merkmal stark genetisch bedingt ist, würde man erwarten, dass die Korrelation bezüglich dieses Merkmals bei eineiigen Zwillingen sehr viel größer ausfällt als bei zweieiigen. Diese Korrelation wird nun für eineiige und zweieiige Zwillinge separat berechnet, und die Heritabilität stellt ein Maß dar, das diese beiden Korrelationen zueinander ins Verhältnis setzt. Daher variiert auch die Heritabilität zwischen 0% und 100%, wobei der errechnete Prozentsatz, genau gesagt, den Anteil an der Gesamtvarianz eines bestimmten messbaren Merkmals (wie Intelligenz) in einer Population wiedergibt, der auf genetische Unterschiede zurückgeführt werden kann. Mit anderen Worten: Eine Heritabilität von 50% würde z.B. bedeuten, dass 50% der Varianz (also der Streuung) der Intelligenzwerte in der gesamten Population (wofür die Stichprobe stellvertretend ist) auf genetische Unterschiede der Menschen zurückgeführt werden kann. Oder noch anders ausgedrückt: Es bedeutet, dass 50% der IQ-Unterschiede innerhalb der gemessenen Gruppe mit den genetischen Unterschiedenen der Gruppenmitglieder (linear) zusammenhängen. Für das Merkmal Intelligenz wurden so in der Vergangenheit meist Heritabilitätswerte zwischen 70 und 80% berichtet, was ziemlich hohe Werte sind.

Kritik am Konzept der Heritabilität

Keine Aussagen über einzelne Personen

Der wichtigste Aspekt ist hierbei, dass die Heritabilität sich immer nur auf die Population oder, genau genommen, auf die Stichprobe von Individuen bezieht, bei denen das Merkmal erhoben wurde. Die Prozentzahl kann somit nicht herangezogen werden, um Aussagen über eine einzelne Person zu treffen: Die Aussage „Bei jeder einzelnen Person ist die Intelligenz zu 80% genetisch bedingt“ ist daher nicht korrekt.

Mutmaßung statt Messung und irreführende Prozentzahlen

Außerdem ist es wichtig, anzumerken, dass bei alledem der Grad der genetischen Übereinstimmung einfach auf einen bestimmten Wert festgelegt wird. Das ist bei eineiigen Zwillingen (da sind die 100% unumstößlich) weit weniger problematisch als bei zweieiigen: Da nämlich ist der durchschnittliche Wert 50%, aber dieser kann erheblich variieren. Es würde also mehr Sinn machen, die tatsächliche Übereinstimmung zu messen anstatt sie zu schätzen – das allerdings würde den Aufwand einer solchen ohnehin komplexen Studie ins nahezu Unermessliche steigern. Übrigens: Die Zahl 50% ist hochgradig irreführend, weil alle Menschen (egal welcher ethnischer Abstammung) 100% aller Gene gemeinsam haben. Die Unterschiede liegen in den Genvarianten, den Allelen – und selbst diese sind bei allen Menschen zu 99,9% gleich. Die gesamte Varianz des menschlichen Erscheinungsbildes spielt sich also in diesen 0,1% ab – und wenn es heißt, zweieiige Zwillinge hätten 50% ihrer Gene gemeinsam, so bezieht sich das lediglich auf 50% dieser 0,1% der Allele. Korrekt wäre also eigentlich die Aussage: Zweieiige Zwillinge teilen 99,95% ihrer Allele, und eineiige 100%.

Aussagen sind zeitlich beschränkt

Der zweite Kritikpunkt betrifft die Tatsache, dass die Schätzung der Heritabilität immer nur eine Momentaufnahme darstellt, d.h. immer nur die Rolle des aktuell aktivierten genetischen Materials wiederspiegelt. Wie man aber inzwischen weiß, werden die unterschiedlichen Gene im Laufe eines menschlichen Lebens ziemlich häufig an- und wieder abgeschaltet, sodass die Heritabilität keine Schätzung über zum Zeitpunkt der Messung nicht aktiviertes genetisches Potenzial erlaubt.

Nicht mehr als ein Verhältnismaß

Das wohl wichtigste Argument gegen die Heritabilität, welches deren Interpretierbarkeit stark eingrenzt, ist die Tatsache, dass es sich hierbei, wenn man die Formel einmal übersetzt, um nicht mehr als ein Verhältnismaß handelt, das die genetische Varianz in einer Stichprobe ins Verhältnis setzt zur Umweltvarianz (also der Unterschiedlichkeit der Umweltbedingungen) in derselben Stichprobe. Das bedeutet, die berechnete Heritabilität ist von beidem abhängig. Das scheint trivial, ist aber von großer Bedeutung: Wenn nämlich aus Gründen der mangelnden Repräsentativität der Stichprobe z.B. die Umweltvarianz sehr gering ist (weil sich in der Stichprobe z.B. nur nordamerikanische Männer aus der Mittelschicht befinden, die alle unter ähnlichen Umweltbedingungen leben), dann wird die Heritabilität zwangsläufig hoch ausfallen, weil die genetische Varianz in der Regel größer ist. Und in der Tat ist es so, dass viele der Studien, die zur Berechnung der Heritabilität durchgeführt wurden, genau diesen Schwachpunkt haben, was den Schluss nahelegt, dass die Heritabilität durch diese deutlich überschätzt wird – weil in den Stichproben gar nicht genug Umweltvarianz vorliegt, um dieses Maß sinnvoll zu deuten. Tatsächlich führt dieser Umstand oft zu seltsamen Phänomen und mitunter auch zu bildungspolitischen Fehlentscheidungen. So kam es z.B. bereits vor, dass Regierungen durch diverse Maßnahmen die Chancengleichheit von Kindern verbesserten und somit quasi die Umweltvarianz reduzierten, weil sich die Bedingungen, unter denen die Kinder lebten, dadurch ähnlicher wurden. Wenn dann z.B. durch Schultests der Bildungserfolg (der nun als weiteres Merkmal analog zur Intelligenz zu sehen ist) der Kinder gemessen und damit die „Heritabilität des Bildungserfolgs“ berechnet wird, kommt natürlich ein hoher Wert dabei heraus – der dann von (dummen) Politikern dahingehend fehlgedeutet wird, dass das Schaffen von Chancengleichheit völliger Quatsch ist, da der Bildungserfolg ja offenbar doch nur von der genetischen Ausstattung der Kinder abhängt. Ein Beispiel für einen grandiosen Fehlschluss.

Weitere Kritik an der Verhaltensgenetik

Neben diesen eklatanten Nachteilen des Konstrukts „Heritabilität“ gibt es diverse weitere Kritikpunkte an der klassischen Verhaltensgenetik. Diese Punkte betreffen vor allem die eher steinzeitliche Auffassung von Genetik und die ziemlich stiefmütterliche Behandlung des Umweltfaktors.

Konzeption von „Genetik“

Wie schon beschrieben, wird in der klassischen Verhaltensgenetik der Grad der genetischen Übereinstimmung zwischen Menschen nicht gemessen bzw. erfasst, sondern aufgrund bestimmter Annahmen geschätzt (z.B. auf 50%). Das allein ist bereits wissenschaftlich ziemlich unbefriedigend. Hinzu kommt, dass man inzwischen (z.B. in der molekularen Verhaltensgenetik) sehr viel weiter ist und eine Fülle verschiedener Arten von „Genvarianz“ unterscheidet – unter anderem die Varianz, die dadurch entsteht, dass unterschiedliche Allele an weit voneinander entfernten Orten im Genom (d.h. der Gesamtheit aller Gene) miteinander interagieren. Im Rahmen von so genannten Kopplungs- und Assoziationsstudien wird zudem durch den Scan des menschlichen Genoms untersucht, welche bestimmten Allele in Zusammenhang mit bestimmten Merkmalen wie z.B. psychischen Störungen stehen.

Konzeption von „Umwelt“

Man muss wohl zugeben, dass der Begriff „Umwelt“ so ziemlich einer der schwammigsten in der gesamten Psychologie ist. Gemeint ist hiermit die Summe an externen Faktoren, die einen Menschen in seiner Entwicklung von Geburt an beeinflussen – d.h. ungefähr alles von Ernährung und Klimabedingungen über Einkommen und Bildungsniveau der Eltern (oft zusammengefasst zum sozioökonomischen Status) bis hin zum elterlichen Erziehungsstil, den zur Verfügung gestellten Förderbedingungen und der Art der Eltern-Kind-Bindung. Das Problem hieran: Die Gleichheit oder Unterschiedlichkeit der Umwelt wurde und wird in der klassischen Verhaltensgenetik nie ausreichend präzise erfasst. Stattdessen verlässt man sich auch hier viel zu oft auf Daumenregeln, wie z.B. in den auch sehr beliebten Adoptionsstudien. Diese wurden lange als die beste Art von Studien gesehen, um den Einfluss von Umwelt und Genetik auf ein bestimmtes Merkmal voneinander zu trennen. Untersucht wurden hierbei eineiige Zwillingspaare (die also genetisch identisch ausgestattet sind), die jedoch von jeweils unterschiedlichen Familien adoptiert wurden. Die Annahme, die man hierbei meist getroffen hat, ist, dass die Umwelt der beiden Zwillinge im Gegensatz zum genetischen Faktor somit unterschiedlich ist. Sehr viele Psychologen haben in der Vergangenheit immer wieder betont, dass später gefundene Übereinstimmungen der Zwillinge, z.B. bzgl. des IQs, somit auf die gemeinsamen Gene zurückgeführt werden können. Dieser Schluss ist jedoch falsch: In Wirklichkeit ist es umgekehrt, weil vielmehr die gefundenen Unterschiede interessant sind – denn diese müssen zwangsläufig auf die Umwelt zurückzuführen sein. Die Schlussfolgerung ist aber aus noch einem zweiten Grund nicht korrekt: Übereinstimmungen zwischen solchen getrennt aufgewachsenen Zwillingen können ebenso auch auf die Umweltbedingungen zurückzuführen sein, denn diese sind in der Tat bei weitem nicht so unterschiedlich wie oft vermutet. Dies geht unter anderem zurück auf die bei Adoptionen weit verbreitete Praktik der selektiven Platzierung, die beinhaltet, dass die zuständigen Behörden darauf achten, dass die Adoptivfamilie der biologischen Familie des Kindes möglichst ähnlich ist. Untermauert wird diese bedeutende Rolle der Umwelt ferner durch eine Studie von Bronfenbrenner (1975), die zeigen konnte, dass die Übereinstimmungsrate (zu verstehen wie eine Korrelation) zwischen den IQ-Werten eineiiger Zwillinge stolze 0,80 betrug, wenn die Umwelten der getrennt aufgewachsenen Zwillinge sich stark ähnelten. War diese Ähnlichkeit jedoch nicht gegeben, lag die Übereinstimmung bei dem sehr viel niedrigeren Wert von 0,28. Insgesamt lässt sich hiermit also festhalten, dass durch die in der klassischen Verhaltensgenetik etablierten Methoden die Unterschiedlichkeit der Umwelt (also die Umweltvarianz) systematisch und erheblich unterschätzt wurde. So liegen z.B. sehr robuste Befunde dafür vor, dass gute Ernährung und insbesondere das Stillen sich positiv auf die spätere Intelligenz auswirken (die Unterschiede liegen im Bereich von 2 – 4 IQ-Punkten), während der mütterliche Alkohol- und Tabakkonsum sich negativ auswirken und im Falle von Alkoholkonsum (bei dem die Menge übrigens keine Rolle spielt!) sogar ein fetales Alkoholsyndrom (FAS) resultieren kann.

Gen-Umwelt-Interaktion

Das stärkste Argument gegen die klassischen Verhaltensgenetik kommt zum Schluss. Nämlich die Tatsache, dass es unangemessen ist, von einem additiven Verhältnis von Genetik und Umwelt auszugehen – was die klassischen Verhaltensgenetik jedoch tut und was sich auch in Maßen wie der Heritabilität wiederspiegelt. Denn nur wenn man davon ausgeht, dass Umwelt und Genetik eine Summe bilden, macht es Sinn, ein Verhältnis zu bilden, das eine Aussage darüber trifft, wie viel Prozent eines Merkmals auf Gene und wie viel auf Umwelt zurückzuführen sind. Inzwischen weiß man allerdings, dass diese Ansicht grundlegend falsch ist, sodass die additive Sicht inzwischen durch das Konzept der Gen-Umwelt-Interaktion ersetzt wurde. Gemeint ist hiermit, dass Gen- und Umweltfaktoren nicht einfach immer mit dem gleichen Gewicht aufeinander treffen, sondern dass bestimmte Umweltfaktoren je nach genetischer Ausstattung unterschiedlich wirksam sein können – ebenso wie dass bestimmte genetische Anlagen einer „Aktivierung“ aus der Umwelt bedürfen, ohne die sie nicht wirksam werden können. Mit anderen Worten: Umwelt und Genetik sind voneinander abhängig und greifen wie Zahnräder ineinander. So gibt es z.B. aus dem Bereich der Intelligenzforschung sehr überzeugende Befunde, dass gute genetische Anlagen nur dann zu einer hohen Intelligenz in einem späteren Alter führen, wenn das Kind in einer Umwelt aufwächst, in der seine Fähigkeiten gefördert werden. Ebenso für die Bedeutung der Umwelt spricht, dass sich die Befunde mehren, dass vernünftig konzipierte Intelligenztrainings eine nachweisbare (wenn auch nicht exorbitant große) Wirkung zeigen. Was genau man sich unter einer Gen-Umwelt-Interaktion vorstellen kann, habe ich übrigens auch in einer meiner hochgeladenen Präsentationen erklärt – am Beispiel von Depressionen. Die Präsentation finden Sie hier.

Insgesamt legt all dies das Fazit nahe, dass durch unsere genetische Ausstattung offenbar zwar ein gewisser Rahmen abgesteckt wird, innerhalb dessen sich unsere letztliche Intelligenz später einmal bewegt – aber dass die Umwelt auf das endgültige „Ergebnis“ einen sehr viel größeren Einfluss hat als lange angenommen. Dass jedoch die Bedeutung der Umwelt lange unterschätzt, ignoriert und als unwissenschaftlich abgewertet wurde, hatte erhebliche soziale und politische Konsequenzen, was uns zu einem sehr dunklen Kapitel der klassischen Verhaltensgenetik – und somit der Psychologie – bringt. Dieses wird Teil des nächsten und letzten Artikels der Intelligenz-Reihe sein, der mir aufgrund seiner gesellschaftlichen Bedeutung so sehr am Herzen liegt wie nur wenige andere.

 © Christian Rupp 2014

Intelligenz – Teil 4: Was messen IQ-Tests und worin besteht ihre Berechtigung?

Nachdem es in Teil 3 darum ging, wie sich der so genannte „IQ“ berechnet und wie er zu interpretieren ist, widmet dieser Artikel sich der Frage: Wie lässt sich Intelligenz messen? Und messen Intelligenztests tatsächlich Intelligenz?

Die verschiedenen Arten von Intelligenztests lassen sich ganz grob in zwei Gruppen einteilen. Anhand ihrer Verbreitung und Etabliertheit habe ich diese zwei Kategorien einmal „untypisch“ und „typisch“ getauft.

„Untypische“ Vertreter

In diese Kategorie fallen zu allererst einmal die so genannten elementaren kognitiven Aufgaben (kurz EKAs). Hierbei handelt es sich um eine Reihe relativ einfacher Aufgaben, z.B. die Identifikation von präsentierten Reizen (Kreis oder Quadrat?), die Unterscheidung von Reizen (Welcher der zwei Töne ist höher?) oder die Erinnerungsleistung in Kurzzeitgedächtnisaufgaben (z.B. maximale Zahl von Zahlen, die jemand, unmittelbar nachdem er sie gehört hat, in derselben Reihenfolge wiedergeben kann). Die Variablen, die hier als Maß für Intelligenz herangezogen werden, sind unter anderem die Reaktionszeit, die so genannte inspection time (Zeit, die jemand benötigt, um z.B. zu sagen, welche von zwei Linien länger ist) oder aber auch mit dem EEG gemessene ereigniskorrelierte Potenziale, wobei die Dauer bis zum Auftreten des Pozentials im EEG (die so genannte Latenz) als Maß für die Verarbeitungsgeschwindigkeit herangezogen wird, die wiederum Intelligenz widerspiegeln soll. Zur Validität der EKAs (also der Frage, in wiefern diese tatsächlich Intelligenz messen), liegen divergierende Befunde vor. Untersucht wurde diese Fragestellung, indem der lineare Zusammenhang (die Korrelation) zwischen der Leistung in EKAs und der Leistung in „typischen“ Intelligenztests berechnet wurde. Diese Korrelation allerdings schwankt in den verschiedenen Studien zwischen 0,35 und 0,70 – mit anderen Worten: Der Zusammenhang ist nicht bombig, und es ist wenig naheliegend, die Leistung in EKAs als alleinigen Indikator für Intelligenz zu betrachten. Ähnliches gilt für die Gehirngröße (gemessen z.B. per MRT bei lebenden oder aber direkt am Objekt  bei toten Menschen), die laut einer Metaanalyse von McDaniel (2005) eine Korrelation von 0,33 mit der Leistung in typischen Intelligenztests aufweist. Dass hier kein so besonders großer Zusammenhang besteht, ist wenig verwunderlich, wenn man bedenkt, dass die Art der synaptischen Vernetzung in unserem Gehirn sehr viel wichtiger für die reibungslose Verarbeitung von Informationen ist als dessen einfaches Volumen.

Zweitens wären da eine Reihe von Tests, die offenkundig „typischen“ Vertretern ähneln, sich aber dadurch von diesen unterscheiden, dass sie den Generalfaktor g ablehnen, d.h. nicht von einem, allen Facetten übergeordneten allgemeinen Intelligenzfaktor ausgehen, sondern von mehreren voneinander unabhängigen Faktoren. In der Tat stellen die von diesen Tests postulierten Faktoren meist elementare kognitive Funktionen (ähnlich den EKAs) dar – und keine Intelligenzkomponenten, wie in den in Teil 2 beschriebenen Modellen aufgeführt. In diese Kategorie fallen z.B. das Cognitive Assessment System (CAS) und die Kaufman-Tests (z.B. das „K-ABC“). Während das CAS u.a. die Faktoren Planung (Strategien zur Problemlösung entwickeln) und Simultanität (getrennte Objekte zu etwas Ganzem integrieren) erfasst, unterscheidet das K-ABC zwischen erworbenen Fertigkeiten (Rechnen und Schreiben), simultaner Verarbeitung (Matrizen-Aufgaben der Sorte „Welches Bild ergänzt das Muster?“) und sequenzieller Verarbeitung (z.B. Zahlen nachsprechen). Wichtig beim K-ABC: Nur diese letzten zwei Faktoren sollen die kognitive Leistungsfähigkeit widerspiegeln; erworbene Fähigkeiten werden isoliert hiervon betrachtet.

„Typische“ Vertreter

Zu den typischen Vertretern gehören alle psychometrischen Tests, d.h. solche, die in der Regel auf einem bestimmten Intelligenzmodell (siehe Teil 2) basieren, eine Reihe verschiedener Aufgabentypen beinhalten, die normiert sind (damit die Leistung der getesten Person mit der von hinsichtlich Alter und Geschlecht ähnlichen Personen verglichen werden kann) und (das ist zentral) deren Gütekriterien (Objektivität, Reliabilität, Validität) überprüft wurden und als gesichert gelten.

Die meisten dieser Tests basieren auf Modellen, die einen g-Faktor annehmen, und ermöglichen daher auch die Berechnung eines allgemeinen Intelligenzquotienten. Ein Beispiel hierfür sind die Wechsler-Intelligenztests, z.B. der WIE (Wechsler-Intelligenztest für Erwachsene) oder der HAWIK-IV (Hamburg-Wechsler-Intelligenztest für Kinder, 4. Auflage). In den Wechsler-Tests gibt es u.a. die typischen Aufgabenbereiche Allgemeines Wissen, Finden von Gemeinsamkeiten, Matrizen ergänzen, Mosaike legen, Zahlen nachsprechen (vorwärts und rückwärts) und Kopfrechnen. Während die Wechsler-Tests sowohl die Berechnung der allgemeinen Intelligenz als auch verschiedener Unterfacetten ermöglichen, erlauben die so genannten Raven-Tests, die ausschließlich aus Matrizenaufgaben bestehen, nur die Berechnung eines allgemeinen IQs. Der Intelligenzstruktur-Tests (IST-2000-R), der auf dem Modell von Thurstone basiert, ermöglicht hingegen nur die Berechnung von IQ-Werten für die Bereiche schlussfolgerndes Denken (verbal, figural und numerisch) und Merkfähigkeit (verbal und figural). Zusätzlich gibt es einen Wissenstest, der aber nicht obligatorisch ist und am ehesten kristalline Intelligenz widerspiegelt.

Wozu das ganze? Der Sinn der Intelligenzmessung.

Nun kann man sich fragen, was es einem bringt, die Intelligenz einen Menschen (bzw. das, was diese ganzen Tests vorgeben, zu messen) zu erfassen. Die selbstwertregulierende Funktion liegt auf der Hand (es ist natürlich schön, von sich sagen zu können, dass man intelligenter als 99% der restlichen Menschheit ist), aber das ist zum Glück nicht alles.

Diagnostik von Intelligenzminderung & Hochbegabung

In der Tat sind Intelligenztests ein extrem wichtiges diagnostisches Instrument, das in vielen Bereichen zum Einsatz kommt. Im Bereich der pädagogischen Psychologie sind da z.B. die Diagnostik von Teilleistungsstörungen wie Lesestörungen, Rechtschreibstörungen und Dyskalkulie (Rechenstörung) zu nennen, zu deren Diagnose nämlich die Leistung im jeweils beeinträchtigten Bereich mindestens zwei Standardabweichungen (also deutlich) unterhalb der allgemeinen Intelligenz liegen müssen (um auszuschließen, dass es sich um eine generelle Intelligenzminderung oder gar eine geistige Behinderung handelt). Aber auch am anderen Ende der Skala ergibt sich ein wichtiges Anwendungsfeld: die Hochbegabtendiagnostik. Die ist deshalb so wichtig, weil es bei solchen Kindern von großer Bedeutung ist, diese hohe Intelligenz zu fördern, um Unterforderungserleben zu verhindern, das sonst leicht zu Problemen führen kann (z.B. weil das Kind den Unterricht stört oder sich zurückzieht). Vielleicht denken Sie hierbei auch gleichzeitig an die Diagnose einer ADHS. Das ist völlig richtig, denn auch zu dieser Diagnose muss eine Hochbegabung (genauso wie eine geistige Behinderung) als Ursache des unangepassten Verhaltens des Kindes ausgeschlossen werden.

Bewerberauswahl und Vorhersage des Schulerfolgs

Die weiteren Anwendungsgebiete von Intelligenztests ergeben sich aus der breitgefächerten prädiktiven Validität von Intelligenztests, d.h. aus der Tatsache, dass sich durch die Intelligenzleistung zu einem bestimmten Zeitpunkt bestimmte andere Variablen ziemlich gut vorhersagen lassen. So zeigte z.B. eine Metaanalyse von Schmidt und Hunter aus dem Jahr 1998, dass die allgemeine Intelligenz zu 0,54 mit dem späteren Arbeitserfolg bzw. der beruflichen Leistung korrelierte – damit sind Intelligenztests diejenige Methode mit der besten Vorhersagekraft für Berufserfolg. Trotz dieser Erkenntnis bevorzugen die meisten Unternehmen bei der Bewerberauswahl jedoch die sehr viel teureren Assessment-Center, wobei die Argumente hierfür denkbar schwach sind: Die Leistung in diesen korreliert nämlich im Mittel nur zu 0,37 mit späterem Berufserfolg. Ähnliche Korrelationen ergeben sich für die Beziehung von Intelligenz und Schulerfolg, gemessen z.B. durch die Schulnote. Diese schwanken nach Deary und Kollegen (2007) zwischen 0,43 im Fach Kunst und 0,77 im Fach Mathematik (und das ist in der Psychologie eine wirklich verdammt hohe Korrelation). Als Anwendungsfeld ergibt sich hierbei z.B. die Verteilung von Kindern auf verschiedene Schulformen, um eine jeweils optimale Förderung zu ermöglichen.

Von Haftstrafen bis Krebs

Die Vorhersagekraft der allgemeinen Intelligenz ist jedoch noch sehr viel größer. Eine große Zahl von Längsschnittstudien (d.h. solchen, die z.B. in der Kindheit den IQ messen und dann über die folgenden 20 Jahre weitere Variablen erfassen) wurde zu diesem Thema durchgeführt und führte zu verblüffenden Ergebnissen. So zeigte sich, dass mit steigendem IQ das Risiko für Arbeitslosigkeit und Armut abnimmt, ebenso wie für Scheidungen und Haftstrafen. Zudem ergab sich, dass sogar Krebsdiagnosen umso unwahrscheinlicher sind, je intelligenter der Mensch ist. Bei vielen dieser Zusammenhänge gibt es sehr wahrscheinlich so genannte vermittelnde Variablen, d.h. solche, die den Zusammenhang zwischen IQ und der jeweils anderen Variable erklären. So ist der Zusammenhang mit Arbeitslosigkeit und Armut sicherlich darauf zurückzuführen, dass ein höherer IQ höhere Bildungsabschlüsse ermöglicht, die dann wiederum das Risiko für Arbeitslosigkeit und Verarmung reduzieren. Ähnliches gilt für den Fall der Krebsdiagnosen: Menschen mit höherem IQ haben in der Regel einen gesünderen Lebensstil (trinken z.B. weniger Alkohol und rauchen nicht), was dann wiederum das Krebsrisiko niedrig hält.

Messen Intelligenztests wirklich Intelligenz?

Hier bewegen wir uns auf die Frage nach der Validität dieser Tests zu. Um die Frage aus der Überschrift zu beantworten, müssen wir jedoch verschiedene Aspekte des Konstrukts „Validität“ auseinander halten. Zunächst kann man davon ausgehen, dass bei Intelligenztests im Allgemeinen die Augenscheinvalidität (auch Inhaltsvalidität genannt) gegeben ist. Diese bezieht sich allerdings nur auf die einzelnen Untertests und meint nicht mehr, als dass die Aufgaben offenbar das erfassen, was sie vorgeben zu erfassen – z.B. dass man bei Rechenaufgaben rechnen muss, dass Wortschatzaufgaben die Größe des Wortschatzes erfassen, etc. Allerdings muss man zugeben, dass diese Inhaltsvalidität bei komplexeren Aufgaben wie Matrizenergänzungen durchaus nicht so einfach zu beurteilen ist, weil die Frage nach den Prozessen, die zur Lösung der Aufgaben bewältigt werden müssen, so groß ist, dass sie ein eigenes Forschungsfeld darstellt.

Wenn man jedoch den gesamten Test heranzieht und sich fragt, ob dieser das Konstrukt „Intelligenz“ misst, ist die Antwort schon weniger eindeutig. Dafür, dass zumindest die meisten Intelligenztests annähernd dasselbe messen, sprechen die ziemlich hohen Korrelationen zwischen den Ergebnissen derselben Person in verschiedenen Intelligenztests. Dies bezeichnet man auch als diagnostische Validität. Und dafür, dass mit diesen Tests offenbar etwas gemessen wird, das Auswirkungen auf extrem viele andere Lebensbereiche (Berufserfolg, Gesundheit, etc.) hat, liegen ebenfalls zahlreiche Belege vor (prädiktive Validität). Mit anderen Worten: Irgendetwas muss ganz offensichtlich dran sein an diesem Konstrukt.

Es gibt aber natürlich auch jede Menge Kritik an der gesamten Intelligenzmessung. An dieser Stelle sei noch einmal deutlich betont, dass es sich, wie in Teil 1 beschrieben, bei Intelligenz lediglich um ein Konstrukt handelt – und nicht um eine vom Himmel gefallene und unumstößlich definierte Begebenheit. So wird von Kritikern z.B. eingeworfen, dass klassische Intelligenztests viele Aspekte gar nicht berücksichtigen, z.B. sozio-emotionale Kompetenzen. Zudem wird häufig angemerkt, dass Intelligenz auch die Aneignung von Fertigkeiten und Wissen im kulturellen Kontext bedeutet – was die Tests allesamt nicht erfassen.

Letztendlich handelt es sich bei der Frage, was Intelligenztests messen, also um eine, die die Wissenschaft nie endgültig wird beantworten können, weil dies unmöglich ist. Man kann als Fazit allerdings zweierlei festhalten: Dass Intelligenztests das messen, was sie vorgeben zu messen, scheint auf Basis der Befunde zur Inhalts-, diagnostischen und prädiktiven Validität sehr wahrscheinlich – ebenso wie dass dieses Konstrukt, wie auch immer man es nennen mag, offenbar große Auswirkungen auf unser Leben hat. Ob diese Tests aber tatsächlich Intelligenz messen, lässt sich nicht beantworten, da es sich hierbei um ein höchst unterschiedlich definiertes Konstrukt handelt.

Bleibt der IQ immer gleich? Die Frage nach der Stabilität.

Auch diese Frage hat wiederum zwei Facetten. Die erste ist die Frage, ob Intelligenztests zuverlässig messen, d.h. reliabel sind. Im Wesentlichen ist hiermit die Frage verknüpft, wie genau Intelligenztests messen. Nun, ein psychometrischer Test misst nicht so genau wie eine Waage, das ist klar. Aber die meisten Intelligenztests haben Reliabilitäten von über 0,90, was ziemlich gut ist. Am geläufigsten ist hierbei die so genannte Retest-Reliabilität, d.h. die Frage nach der Übereinstimmung der Testergebnisse, wenn Personen denselben Test zweimal hintereinander bearbeiten. Hierbei muss das Zeitintervall natürlich groß genug sein, um auszuschließen, dass die Person die richtigen Lösungen bei der Bearbeitung lediglich erinnert. Der zeitliche Abstand darf aber auch nicht zu lang sein, da es sonst möglich ist, dass eine große Abweichung der Testwerte darauf zurückgeht, dass die tatsächliche Intelligenzleistung der Person sich verändert hat (was besonders bei Kindern der Fall ist, die einen schnellen Zuwachs verzeichnen).

Die zweite Frage ist die, ob die Intelligenzleistung selbst stabil ist. Hier bietet die Forschungslage erfreulicherweise einen relativ eindeutigen Befund: Obwohl IQ-Werte auch tagesformabhängig sind (logisch, da man sich nicht immer gleich gut konzentrieren kann), sind die Fluktuationen ziemlich gering, und Intelligenz erweist sich insgesamt als ziemlich stabile Eigenschaft. Stabil meint hierbei allerdings nicht, dass immer gleich viele Punkte im selben Test erreicht werden, sondern dass eine Person im Vergleich zur alters- und geschlechtsspezifischen Normstichprobe gleich gut bleibt. Als Beispiel: Natürlich wird ein zehnjähriges Kind im HAWIK mehr Punkte erzielen als mit sechs Jahren, aber es behält trotzdem denselben IQ, weil es bei den beiden Messungen mit unterschiedlichen Normstichproben verglichen wird. Verschiedene Untersuchungen zeigen sogar eine erstaunliche Stabilität des IQ über sehr lange Zeitspannen: So ergab sich in einer Studie von Deary und Kollegen (2000) eine beachtliche Korrelation von 0,77 zwischen den IQ-Werten einer Stichprobe, die zum ersten Mal 1932 und zum zweiten Mal 1995 an demselben Test teilgenommen hatte.

Interessant ist diesbezüglich übrigens der sehr unterschiedliche Verlauf von fluider und kristalliner Intelligenz über die Lebensspanne. Studien aus diesem Bereich zeigen, dass, während die kristalline Intelligenz (im Wesentliches also erworbenes Wissen) im Laufe des Lebens zunimmt bzw. stagniert, die fluide Intelligenz (logisches Denken etc.) abnimmt. Neuere Untersuchungen zeigen jedoch, dass der Rückgang der fluiden Intelligenz auf etwas anderes zurückzuführen ist – nämlich auf die mit dem Alter geringer werdende Erfahrung mit den Aufgabenformaten typischer Intelligenztests, die stark an die von Schulaufgaben angelehnt sind. Insgesamt kann man also sagen: Intelligenz ist ziemlich stabil, aber eben nicht perfekt stabil. Und das liegt maßgeblich daran, dass wir entgegen der weitläufigen Meinung nicht mit einem festgelegten IQ geboren werden – was Thema des fünften Teils der Intelligenz-Reihe sein wird.

 © Christian Rupp 2014

Homöopathie & Co.: Von Placebo, Nocebo und einem paradoxen Dilemma

Vorab: Was ist eigentlich Homöopathie?

Diese Frage ist deshalb ganz zentral, weil im Volksmund häufig eine ganz bestimmte Verwechslung vorgenommen wird: nämlich die von homöopathischen und pflanzlichen Mitteln. Denn diese beiden Kategorien sind keineswegs dasselbe! Weder sind alle pflanzlichen Mittel homöopathisch, noch sind alle homöopathischen Mittel pflanzlich. Ein Beispiel für ein nicht-homöopathisches, aber pflanzliches Mittel ist z.B. Johanniskraut, dessen Wirksamkeit in Bezug auf Depressionen als gut belegt gilt, wenngleich der Effekt nicht so groß ist wie der klassischer Antidepressiva. Zudem ist Johanniskraut ein sehr gutes Beispiel dafür, dass auch pflanzliche Medikamente erhebliche Nebenwirkungen haben können – aber das nur nebenbei. Derweil enthalten homöopathische Mittel oft keinerlei pflanzliche Substanzen, sondern anorganische chemische Stoffe, wie z.B. Quecksilber.

Aber was ist nun der Unterschied? Im Wesentlichen liegt dieser in der Wirkstoffkonzentration. Überspitzt gesagt ist es nämlich so, dass pflanzliche Medikamente Wirkstoffe enthalten, homöopathische hingegen nicht. Warum das so ist? Das liegt in der Herstellung und den meiner Meinung nach als esoterisch zu bezeichnenden Annahmen bezüglich der Wirkung. Denn homöopathische Mittel beruhen auf dem Prinzip der extremen Verdünnung, die ein Verhältnis von bis zu 1 : 50000 annehmen kann (wobei der Wirkstoff entweder in Wasser oder Alkohol gelöst wird). Das Ergebnis dessen ist, dass in einem 50ml-Fläschchen rein rechnerisch oft kein einziges Wirkstoffmolekül mehr enthalten ist. Nun kann man sich zurecht fragen, wie dann noch eine Wirkung eintreten soll. Die Antwort der Homöopathen lautet in etwa so: Dadurch dass die Lösung zusätzlich auf eine ganz bestimmte Weise geschüttelt wird („Dilutation“), überträgt sich die Wirkung auf die Wasser- oder Alkoholmoleküle. Ferner sei es so, dass sich die Wirkung durch die Verdünnung nicht verringere, sondern gar vergrößere („Potenzierung“). Wie genau das geschehen soll, lassen sie derweil offen. Die wissenschaftliche Forschung hat derweil ein paar andere Antworten parat.

Homöopathie trifft auf wissenschaftliche Realität

Der durch zahlreiche Studien belegte wissenschaftliche Konsens bezüglich homöopathischer Medikamente ist der, dass sie zwar wirksam sind, aber eben nicht wirksamer als eine Zuckerpille, die das häufigste Beispiel für eine so genannte Placebo-Behandlung darstellt. Dieser Befund gilt für alle Formen von Erkrankungen, die bisher in solchen Studien betrachtet wurden. Untersucht werden Fragestellungen der Wirksamkeit von Medikamenten in der Regel in randomisierten kontrollierten Studien, in denen verschiedene Behandlungsgruppen miteinander verglichen werden, die jeweils mit nur einem Präparat über eine gewisse Zeit behandelt werden. So könnte man sich z.B. eine Studie vorstellen, in der vier Bedingungen miteinander verglichen werden: ein Medikament mit klassischem Wirkstoff, ein homöopathisches Mittel, eine Zuckerpille (Placebo) – und eine Gruppe von Patienten, die gar keine Behandlung erfährt. Das Ergebnis in einer solchen Studie sieht typischerweise so aus (Beispiel: Reduktion von Schmerzen bei Arthritis): Das klassische Medikament führt zu einer deutlichen Abnahme der Schmerzen, die Patienten ohne Behandlung verändern sich kaum hinsichtlich ihres Schmerzniveaus. Die Schmerzen in der homöopathisch behandelten Gruppen lassen auch signifikant nach (d.h. die Reduktion kann nicht auf einen Zufall zurückgeführt werden) – aber, und das ist das Wichtige: Die Schmerzen in der Placebo-Gruppe reduzieren sich ebenfalls signifikant um einen ähnlichen Betrag. Wie kann das sein?

Von Placebo- und Nocebo-Effekten

Die Antwort lautet „Placeboeffekt“. Abgeleitet von dem lateinischen Verb „placere“ (= „gefallen“) beschreibt dieser in der Psychologie sehr gut erforschte Effekt das Phänomen, das bloße Wirkungserwartungen schon Berge versetzen können. So weiß man sowohl aus der Forschung zur Wirksamkeit von Medikamenten als auch von Psychotherapie, dass am Ende eine stärkere Wirkung resultiert, wenn der Patient auch eine Verbesserung erwartet. Oder mit anderen Worten: an eine Besserung glaubt. Hierzu müssen diese Wirkungserwartungen allerdings in ausreichendem Maße ausgelöst werden (z.B. indem der Patient eine nach echter Tablette aussehende Pille schluckt), aber das genügt dann auch schon. Da man sich dieses Effekts bewusst ist, ist das, was Heilmethoden liefern müssen, um zugelassen zu werden, der Nachweis einer Wirkung, die über eben diesen Placeboeffekt hinausgeht. Und genau dieser fehlt bei homöopathischen Mitteln leider – sie zeigen keine größere Wirkung als eine Zuckerpille, von der Patienten denken, es sei eine „echte“ Pille.

Es gibt allerdings auch den bösen Zwillingsbruder des Placeboeffekts – genannt Nocebo-Effekt. Er beschreibt das Phänomen, dass negative Wirkungserwartungen auch einen negativen Effekt auf die tatsächliche Wirkung haben. Konkret bedeutet das: Sagt man Patienten, die eine echte Pille einnehmen, es handle sich hierbei um eine Zuckerpille ohne Wirkstoff, dann lässt sich tatsächlich eine geringere objektive Wirkung nachweisen als bei Patienten, die eine echte Pille einnehmen und dies auch wissen. Was man hieran also erkennt, ist: Jede Form von Therapie, sei es ein Medikament, ein wissenschaftlich fundiertes psychotherapeutisches Verfahren – oder aber homöopathische Globuli, Reiki und Akupunktur – sind von solchen Erwartungseffekten betroffen. Bedeutet das also, dass es eigentlich egal ist, welche Behandlungsform wir wählen, Hauptsache der Patient glaubt an ihre Wirkung?

Das paradoxe Dilemma

Zunächst einmal: Nein. Denn der zentrale Unterschied liegt nun einmal darin, dass sich wissenschaftlich fundierte Behandlungsmethoden, wie oben beschrieben, eben genau dadurch auszeichnen, dass sie wirksamer sind als eine entsprechende Placebo-Behandlung. Dennoch ist es natürlich, wie bereits dargelegt, unverkennbar, dass die Erwartung des Patienten an die Wirksamkeit und die Wirkweise einer Behandlung großen Einfluss auf seine Genesung oder Nicht-Genesung haben kann. Die bedeutsame Rolle dessen, dass derartige Erwartungen durch eine glaubwürdige „Coverstory“ aber überhaupt erst erzeugt werden müssen, wird an dem Dilemma deutlich, dass ein Placebo zwar ohne Wirkstoff (bzw. als wirksam erachtete Elemente) wirkt – aber eben auch mehr als nichts ist (und somit klar von dem Effekt abzugrenzen ist, dass mit der Zeit „von selbst“ eine Besserung eintritt). Daher macht es z.B. im Kontext einer Psychotherapie Sinn, dem Patienten ein Störungs- sowie ein Veränderungsmodell zu vermitteln, welches er nachvollziehen und mit dem er sich zudem identifizieren kann – in anderen Worten: ein Modell, an das er glauben kann – um sich den Placeboeffekt zunutze zu machen.

Erwartungseffekte in der Psychotherapie

Zumindest in Bezug auf die Wirkung von Psychotherapie lässt sich der Befund, dass Wirkungserwartungen und die Passung zwischen dem subjektiven Patientenmodell und dem Veränderungsmodell der Therapie den Therapieerfolg maßgeblich bestimmen, durchaus mit dem aktuellen Forschungsstand der Psychotherapieforschung vereinbaren. Letzterer nämlich lässt sich am ehesten dadurch zusammenfassen, dass die Wirksamkeitsunterschiede zwischen den verschiedenen Therapieformen bestenfalls gering ausfallen (siehe auch mein Artikel zum Dodo-Bird-Verdict). Allerdings haftet dieser Forschung meiner Meinung eine reduzierte Aussagekraft an, da ihre externe Validität sowohl im Hinblick auf die Repräsentativität der Patienten (Patienten in klinischen Studien sind eher untypisch für die große Masse der Patienten in der Bevölkerung) als auch bezüglich der schulenspezifischen Reinheit der Therapie (die dem in der Praxis üblichen eklektischen Mix sehr fern ist) stark hinterfragt werden muss. Zudem ist die viel interessantere Frage, der sich die klinisch-psychologische Forschung zum Glück inzwischen vermehrt widmet, die nach den Prozessen bzw. Mediatoren, über die Psychotherapie wirkt. Ein sehr heißer Kandidat hierfür ist z.B. schulenübergreifend die therapeutische Beziehung, auch working alliance genannt. Zwar wurden in diesem Sinne bereits (z.B. von Klaus Grawe, der leider verstorben ist) integrative Ansätze zu Wirkmechanismen von Psychotherapie vorgeschlagen, jedoch herrschen in den Köpfen der meisten Forscher und Praktiker noch immer kategoriale Denkweisen vor.

Hierbei handelt es sich allerdings um ein mir weitgehend unverständliches Phänomen, da die Quintessenz, die ich aus meinem Studium in klinischer Psychologie mitnehme, die ist, dass im Grunde, wenn man einmal die Dinge zu Ende denkt, alle psychotherapeutischen Verfahren weitgehend dasselbe beinhalten und lediglich unterschiedliche Begriffe verwenden oder Perspektiven einnehmen. Und ich könnte mir in der Tat sehr gut vorstellen, dass es letztlich hauptsächlich darauf ankommt, ob der Patient diese Begriffe und Perspektiven für sich annehmen kann – sodass etwaige Wirksamkeitsunterschiede zwischen verschiedenen Therapieverfahren am Ende vielleicht genau darauf zurückzuführen sein könnten. Ich weiß nicht, ob Erwartungseffekte in der Psychotherapie bereits dahingehend untersucht wurden, ob eine generelle Wirkungserwartung bzw. ein allgemeiner Glaube an Psychotherapie eine notwendige Bedingung für Veränderung darstellen; so ließe sich in der Tat eventuell Licht ins Dunkel der Frage bringen, ob etwaige weitere Wirkmechanismen der Therapie im Sinne eines Interaktionseffekts erst dann wirksam werden, wenn diese notwendige Bedingung erfüllt ist.

Egal warum – Hauptsache, es wirkt?

Doch rechtfertigt dies die (oft in Bezug auf Homöopathie gehörte) Aussage: „Egal warum es wirkt – Hauptsache, es wirkt“? In Bezug auf psychotherapeutische Verfahren und Medikamente, deren Überlegenheit gegenüber einem Placebo belegt wurde, würde ich ganz klar sagen: Ja – aber mit dem Zusatz, dass es aber durchaus wünschenswert wäre, den Wirkmechanismus genauer zu kennen. Hinsichtlich Medikamenten und Therapien, für die diese Überlegenheit nicht gilt (z.B. Homöopathie), würde ich hingegen sagen: Bevor man hierfür Geld ausgibt, sollte man lieber die günstigere Zuckerpille schlucken – wenngleich die schwierige Crux natürlich gerade darin besteht, bei einer solchen Zuckerpille die notwendigen Wirkungserwartungen auszulösen. Dennoch wäre meine persönliche Empfehlung, dass man bei Zugrundelegung der Nicht-Überlegenheit homöopathischer Mittel gegenüber einem Placebo, deren fragwürdiger Herstellungsweise – und dem oft exorbitant hohen Preis – eher die Finger davon lassen sollte. Ein Ratschlag, den ich auch einigen deutschen Krankenkassen geben würde, von denen, wie ich vor Kurzem voller Entsetzen feststellen musste, eine große Zahl die Kosten für homöopathische Mittel übernimmt, während bei anderen Behandlungsformen, deren Wirksamkeit weitaus besser belegt ist, gerne gegeizt wird. Geht es djedoch nicht um die Frage des Geldes (angenommen, der Referenzwert ist der Preis einer Zuckerpille), sehe ich derweil keinerlei Nachteil darin, den Placeboeffekt voll auszunutzen. Nur leider ist es in der Regel so, dass am anderen Ende des Verkaufstisches, der Massageliege oder des Akupunkturnadelkissens meist kein altruistischer Kommunist steht, sondern in der Regel eine Person, die Geld verdienen möchte.

© Christian Rupp 2014

Intelligenz – Teil 3: Warum man nicht nur einen IQ hat und wir lange Zeit immer schlauer wurden

Vorab: Was ist eigentlich “der IQ”?

Der so genannte Intelligenzquotient, kurz IQ, ist im Grunde schon der Schlüssel zu der Art und Weise, wie er berechnet wird – und doch wird diese Tatsache im alltäglichen Sprachgebrauch viel zu selten berücksichtigt. Ursprünglich erfolgte die Berechnung dieses Maßes für menschliche Intelligenz allerdings auf etwas andere Weise als heute. Geprägt wurde der Begriff des Intelligenzquotienten nämlich durch den Psychologen William Stern, der den von Alfred Binet geprägten Begriff des Intelligenzalters aufgriff und weiterentwickelte. Das Intelligenzalter ergibt sich nach Binet, grob gesagt, durch die Summe der gelösten Aufgaben in einem Intelligenztest. Aufschluss über die kognitive Leistungsfähigkeit gibt dann der Vergleich von Intelligenzalter und tatsächlichem Lebensalter: Wenn ein 8-jähriges Kind z.B. deutlich mehr (d.h. schwierigere) Aufgaben löst, als andere 8-jährige Kinder es im Durchschnitt tun, dann könnte sein Intelligenzalter z.B. 9,5 Jahre betragen – mit anderen Worten: Dieses Kind wäre in seiner kognitiven Entwicklung schon überdurchschnittlich weit fortgeschritten. William Stern setzte schließlich diese beiden Größen (also das Lebensalter und das Intelligenzalter nach Binet) einfach ins Verhältnis (bildete also einen Quotienten), multiplizierte sie mit dem Faktor 100 – und schon war der IQ geboren. Für unser Beispiel-Kind ergäbe sich somit ein IQ von (9,5/8)*100 = 118,75 (bzw. 119, da es aufgrund der nicht perfekten Reliabilität von Intelligenztests unüblich ist, IQ-Werte mit Nachkommastellen anzugeben).

Heutzutage berechnet man den IQ nicht mehr auf diese Weise, wenngleich das Grundprinzip der Berechnung erhalten geblieben ist: Weiterhin werden zwei verschiedene Werte miteinander ins Verhältnis gesetzt, weshalb der Begriff “Quotient” auch heute noch gerechtfertigt ist. Dies ist mit einer ganz wichtigen Tatsache verbunden, die in der Öffentlichkeit und in den Medien leider so oft untergeht: Es gibt nicht den IQ, und es ist keineswegs so, dass ein Mensch genau einen IQ hat. Derartige Aussagen kann man guten Gewissens als Unsinn bezeichnen. In der Tat kann man einer jeden Person unzählige IQ-Werte zuweisen; aber um zu verstehen, warum das so ist, muss man sich vor Augen führen, wie der IQ berechnet wird.

Wie schon gesagt, basiert die IQ-Berechnung auf dem Bilden von Verhältnissen. Was wird nun ins Verhältnis gesetzt? Grob gesagt wird (egal mit welchem Intelligenztest) immer ein Rohwert zu einem bestimmten Mittelwert und einer Standardabweichung gesetzt. Der Rohwert meint meist die Anzahl der in einem Intelligenztest gelösten Aufgaben (was deshalb Sinn macht, weil fast alle diese Tests so aufgebaut sind, dass die Aufgaben im Verlauf immer schwieriger werden). Bei unserem Beispiel-Kind von oben könnten das z.B. 21 von 30 Aufgaben sein. So, dieser Rohwert sagt einem zunächst einmal gar nichts. Um an einen IQ-Wert zu gelangen, braucht man zusätzlich eine Normstichprobe, d.h. eine repräsentative Stichprobe anderer Menschen, mit der man das Kind nun vergleichen kann. Von dieser Normstichprobe braucht man zwei Informationen: den Mittelwert (d.h. die durchschnittliche Zahl der gelösten Aufgaben in dieser Gruppe von Menschen, hier z.B. 18,1) und die Standardabweichung (d.h. die “durchschnittliche” Abweichung von diesem Mittelwert, z.B. 2,7). Nun muss die Zahl der von unserem Beispiel-Kind gelösten Aufgaben ins Verhältnis zu dieser Normstichprobe gesetzt werden . Hierzu berechnet man zunächst die Differenz zwischen dem Rohwert des Kindes und dem Mittelwert der Normstichprobe: 21-18,1 = 2,9. Dies ist die also die “Abweichung” unseres Kindes vom Mittelwert der Normstichprobe – und diese muss man nun ins Verhältnis setzen zur “durchschnittlichen Abweichung” vom Mittelwert der Normstichprobe (also deren Standardabweichung); d.h. man rechnet: 2,9/2,6 = 1,12. Man sagt: Das Kind liegt etwas mehr als eine Standardabweichung über dem Mittelwert der Normstichprobe. Nun fehlt nur noch die Umrechung in IQ-Werte. Hierzu nutzt man die Tatsache, dass IQ-Werte eine Art Maßzahl sind – deren Mittelwert und deren Standardabweichung festgelegt sind. D.h., man kann sie nutzen, um die Ergebnisse unterschiedlichster Tests (die alle andere Skalierungen verwenden), in ein und derselben Metrik anzugeben. Der Mittelwert des IQ ist auf 100 festgelegt, und die Standardabweichung auf einen Wert von 15. Um unserem Kind nun einen IQ-Wert zuweisen zu können, muss man nur noch den Wert 1,12 mit 15 multiplizieren und 100 addieren – und es ergibt sich ein IQ von 116,8 (bzw. 117).

Und schon hat man das, was in der Praxis meist noch in viel gravierender Form auftritt: Die beiden IQ-Werte (119 und 117) sind nicht gleich. Während es in unserem konstruierten Fall natürlich daran liegt, dass ich bei der obigen Berechnung die Werte ins Blaue hinein erfunden habe, liegt es in der Realität an einem anderen Faktor – nämlich an der Frage, welche Normstichprobe ich heranziehe, um die Person, deren IQ ich messen will, mit ihr zu vergleichen. Im Allgemeinen sollte man hierzu immer diejenige Normstichprobe wählen, die der Person bezüglich Alter und Geschlecht am ähnlichsten und zudem möglichst aktuell ist. Es finden sich aber auch noch feiner aufgegliederte Normen, z.B. auch bezüglich des Bildungsstands oder der besuchten Schulform. Ein IQ-Wert bedeutet immer nur, wie gut oder schlecht die Leistungen einer Person im Vergleich mit einer ihr möglichst ähnlichen Gruppe von Menschen sind. Und das ist genau der Grund, aus dem man für ein und denselben Menschen unzählige IQ-Werte berechnen kann – und ein IQ-Wert völlig ohne Aussage ist, solange man nicht mit angibt, zu welcher Normstichprobe man die Person ins Verhältnis gesetzt hat: Wenn der IQ unseres Kindes aus dem Vergleich mit einer Stichprobe Fünfjähriger resultiert, würde man den IQ von 118 nicht als besonders hoch einstufen; stammt er jedoch aus einem Vergleich mit einer Gruppe 16-Jähriger, kann man sich ziemlich sicher sein, dass das Kind wohl hochbegabt ist. Das ganze noch einmal in Kürze: Wenn jemand Ihnen das nächste Mal erzählt, er habe einen IQ von 150 – dann fragen Sie ihn doch bitte, aus dem Vergleich mit welcher Normstichprobe dieses Ergebnis resultiert.

Wie ist Intelligenz in der Menschheit verbreitet?

Wie oben bereits erwähnt, handelt es sich bei IQ-Werten um eine standardisierte Skala, auf der sich durch einfache Umrechnung alle möglichen Werte abbilden lassen, solange man die zwei wichtigen Angaben vorliegen hat: den Mittelwert und die Standardabweichung der betreffenden Stichprobe. Wann immer ich im Rest dieses Artikels von IQ-Werten spreche, bitte ich, dieses zu berücksichtigen.

Wie man aus zahlreichen Untersuchungen an großen repräsentativen Stichproben weiß, folgen IQ-Werte in der menschlichen Bevölkerung ziemlich genau einer so genannten Gauss’schen Normalverteilung (auch Gauss’sche Glockenkurve oder einfach kurz Normalverteilung genannt). Bei diesem Begriff handelt es sich im Grunde um eine Art “Etikett”, da es eine besondere Form von Verteilung bezeichnet, der (statistische) Werte (wie eben IQ-Werte) folgen können. Eine Normalverteilung lässt sich anhand zweiter Werte genau beschreiben, und zwar wiederum anhand des Mittelwertes und der Standardabweichung, die maßgeblich die Form der Kurve beeinflussen. Was ich im vergangenen Abschnitt noch verschwiegen habe, ist der sehr wichtige Umstand, dass die Tatsache, dass IQ-Werte einer solchen Normalverteilung folgen, einen ganz entscheidenden Vorteil mit sich bringt: nämlich den, dass die Berechnungen und Umrechnungen, die ich oben dargestellt habe, dadurch überhaupt erst mathematisch zulässig sind. Würden IQ-Werte keiner Normalverteilung folgen, hätten wir es um einiges schwieriger. So jedoch lässt sich (wie oben schon erwähnt) guten Gewissens sagen: IQ-Werte haben in der menschlichen Bevölkerung einen Mittelwert von 100 und eine Standardabweichung von 15. Um das ganze einmal ein bisschen plakativer zu machen, habe ich einmal eine entsprechende Abbildung gebastelt.

Verteilung des IQ in der Bevölkerung
Verteilung des IQ in der Bevölkerung

Um diese Glockenkurve nun zu verstehen, ist es wichtig, dass man nicht versucht, die y-Achse zu interpretieren (weshalb ich sie auch weggelassen habe). Mathematisch betrachtet handelt es sich bei dieser Kurve um eine Dichte-Funktion, d.h. auf der y-Achse ist die schwer interpretierbare Dichte abgetragen. Man darf und kann diese Kurve daher nicht direkt so lesen, dass sie einem Aufschluss darüber gibt, wie vielen Prozent der Menschen welcher IQ-Wert zugordnet ist (das geht daher nicht, weil die Intelligenz hier mathematisch als stetiges Merkmal konzipiert ist – aber nun genug mit dem statistischen Wirrwarr).

Sinnvoll interpretierbar ist hingegen das Integral, also die Fläche unter der Glockenkurve. Mit deren Hilfe kann man zumindest Aussagen darüber treffen, wie viele IQ-Werte sich in einem bestimmten Bereich bewegen. So liegen z.B. im Bereich einer Standardabweichung unter- und überhalb vom Mittelwert von 100 (also zwischen den IQ-Werten von 85 und 115) rund 68% aller IQ-Werte, und somit auch aller Menschen. Zwischen 70 und 130 liegen derweil z.B. rund 95% aller Werte, d.h. es liegen nur 2,5% unter 70 und 2,5% über 130. Als Konvention hat sich daher eingebürgert, alle IQ-Werte zwischen 85 und 115 als “durchschnittlich” zu bezeichnen, Werte zwischen 70 und 85 als “niedrig” und Werte zwischen 115 und 130 als “hoch”. “Hochintelligent” ist daher streng genommen etwas anderes als “hochbegabt”, was sich als Begriff für IQ-Werte über 130 etabliert hat. Zur Erinnerung: Diese Menschen liegen bzgl. ihrer kognitiven Leistungen mehr als zwei Standardabweichungen über dem Mittelwert ihrer (hoffentlich) alters- und geschlechtsspezifischen Normstichprobe. Ähnliches gilt in umgekehrter Richtung für IQ-Werte unter 70. Hier bewegen wir uns (allerdings noch mit bedeutenden Abstufungen!) im Bereich der geistigen Behinderung (für deren Definition vorrangig der IQ herangezogen wird). Diese praktischen Prozentangaben haben einen weiteren Vorteil: Man kann jedem IQ-Wert einen Prozentrang zuweisen und somit z.B. Aussagen der Sorte “besser als 84% aller Mitglieder der Normstichprobe” (bei einem IQ von 115) treffen. Um zu der Anmerkung von vorhin zurückzukommen: Ein IQ von 150 würde bedeuten, dass 99,96% der Menschen in der Normstrichprobe (und somit gewissermaßen auch in der Bevölkerung, für die die Normstichprobe ja repräsentativ sein soll) einen niedrigeren Wert aufweisen: Und das ist, wie sie auch an der Abbildung sehen können, hochgradig unwahrscheinlich – mal davon abgesehen, dass kein Intelligenztest einen so hohen Wert vernünftig messen kann (Thema des nächsten Artikels).

Exkurs: Männer & Frauen

Ein ganz heikles Thema ist es natürlich, ob nun Männer oder Frauen im Durchschnitt intelligenter sind. Der mir bekannte aktuelle Forschungsstand hierzu ist der, dass es – bezüglich der allgemeinen Intelligenz – einen marginalen Unterschied dahingehend gibt, dass Männer ein paar wenige IQ-Punkte vorne liegen, gleichzeitig aber die Varianz bei Männern höher ist: Sowohl in den sehr hohen als auch in den sehr niedrigen IQ-Bereichen überwiegen Männer. Dazu sei noch gesagt, dass dieser Unterschied durch zwei Aspekte an Bedeutung verliert: Zum einen ist die Varianz innerhalb jeder der beiden Gruppen um ein Vielfaches größer als der Unterschied zwischen den Gruppen, und zum anderen ist es gut möglich, dass jener Unterschied dadurch zustande gekommen ist, dass viele Intelligenztests bestimmte Aufgaben in den Vordergrund stellen, die Männer bevorteilen. Denn was als gut gesichert gilt, ist, dass Männer und Frauen sich deutlich hinsichtlich ihrer kognitiven Stärken und Schwächen unterscheiden: Es gilt als sehr robuster Befund, dass Männer z.B. im Mittel besser im visuell-räumlichen Denken abschneiden als Frauen, die wiederum im Durchschnitt die Nase vorn haben, was die verbale Intelligenz betrifft.

Der Flynn-Effekt: Wird die Menschheit wirklich immer intelligenter?

Eine andere Fragestellung ist die, ob der durchschnittliche IQ der Menschheit tatsächlich zunimmt – ein Phänomen, das in Anlehnung an den neuseeländischen Politologen James R. Flynn als Flynn-Effekt bezeichnet wird. Dieser Fragestellung auf den Grund zu gehen, ist aufgrund der beschriebenen Berechnungsweise des IQ gar nicht so einfach – denn um herauszufinden, ob der IQ im Mittel steigt, darf man Menschen eben nicht mit aktuellen Normstichproben vergleichen, sondern muss ältere heranziehen: Nur so kommt man dem Flynn-Effekt auf die Schliche.

In der Tat haben groß angelegte Studien ergeben, dass der mittlere IQ in der westlichen Bevölkerung zwischen den 1930er und den 1990er Jahren um 0,2 – 0,5 Punkte pro Jahr gestiegen ist. Dieser Anstieg ergibt sich natürlich aus dem Vergleich mit den immer gleichen Normen aus den 1930er Jahren – anders wäre ein Anstieg ja gar nicht messbar. Dabei nahmen die Leistungen in nicht-sprachlichen Tests (die vor allem fluide Intelligenz messen) deutlich stärker zu als die in sprachlich basierten Tests (die vor allem kristalline Intelligenz messen). Für diesen Befund wurden diverse Erklärungshypothesen diskutiert, die im Folgenden kurz angeschnitten werden sollen.

Dauer des Schulbesuchs und Erfahrung mit typischen Intelligenztestaufgaben

In der Tat nahm die durchschnittliche Dauer des Schulbesuchs in dieser Zeit deutlich zu – was deshalb wichtig ist, weil somit auch die Erfahrung und die Geübtheit im systematischen Lösen von schulischen Aufgaben zunahm, die typischen Intelligenztests sehr ähnlich sind. Der Anteil dieser Faktoren am Flynn-Effekt ist jedoch eher als gering zu einzustufen.

Erziehungsstil

Weiterhin wurde in den Raum geworfen, dass der typische elterliche Erziehungsstil in dieser Zeitspanne natürlich auch einem erheblichen Wandel unterlegen war. Konkret wird von den Vetretern dieser Hypothese angeführt, dass von Eltern zunehmend Wert darauf gelegt wurde, ihre Kinder schon früh in ihrer kognitiven Entwicklung zu fördern. Dieser Trend fand aber nicht nur im familiären Rahmen, sondern auch in viel größerem Maße in den Medien (Beispiel “Sesamstraße”) und in der Politik statt. Die Befunde hierzu sind widersprüchlich. Während man weiß, dass große, national initiierte Bildungsprogramme eher keine Wirksamkeit bezüglich der Erhöhung des durchschnittlichen IQs vorweisen können, wirkt sich frühe Förderung auf der individuellen Ebene durchaus positiv auf die kognitive Entwicklung aus.

Weniger Fälle geistiger Behinderung

Zu bedenken ist sicherlich auch, dass aufgrund besserer medizinischer Versorgung die Zahl der mit geistigen Behinderungen geborenen Kinder in der beschriebenen Zeitspanne zurückgegangen ist. Einige Studien hierzu messen diesem Aspekt im Hinblick auf den Flynn-Effekt eine zentrale Bedeutung bei: Durch den überproportionalen Wegfall sehr niedriger IQ-Werte (<70) in der Bevölkerung stieg der durchschnittliche IQ im Mittel an.

Ernährung

Es ist gut belegt, dass bessere Ernährung (z.B. vitaminreiche Kost, weniger Schadstoffe, etc.) die geistige Entwicklung von Kindern positiv beeinflusst. Durch ungesunde Ernährung kann es z.B. zu Schilddrüsenunterfunktionen kommen (gekennzeichnet durch einen Mangel an Triiodthyroxin und Triiodthyronin), die dann wiederum eine Verzögerung der geistigen Entwicklung bedingen können, sodass der mittlere IQ infolgedessen gestiegen sein könnte.

Vermutlich ist es tatsächlich nicht einer dieser Faktoren, die den Flynn-Effekt erklären, sondern ihr Zusammenspiel. Interessanterweise ist es derweil übrigens so, dass der Anstieg des mittleren IQ seit Anfang der 1990er Jahre als “gestoppt” gilt, sodass man zumindest momentan sagen kann, dass der Flynn-Effekt der Vergangenheit angehört. Manche deuten dies als Beleg für die Richtigkeit der Ernährungshypothese (da die Nahrungsversorgung in der westlichen Gesellschaft gewissermaßen nicht noch viel besser werden kann), ich jedoch würde eher sagen, dass diese Tatsache der “Sättigung” in entsprechender Weise auf alle Erklärungsansätze zutrifft.

In diesem Artikel habe ich mehrfach schon das Thema der Intelligenzmessung gestreift. Ob, wie – und vor allem – wie genau man die Intelligenz eines Menschen tatsächlich messen kann, wird daher der Inhalt des nächsten Artikels sein.

© Christian Rupp 2014

Intelligenz – Teil 2: Die Sicht der wissenschaftlichen Psychologie

Nachdem ich im ersten Artikel zum Thema “Intelligenz” versucht habe, zu beschreiben, wie die Definition des Konstrukts “Intelligenz” von Kultur zu Kultur schwankt, soll es in diesem Beitrag nun darum gehen, wie die wissenschaftliche Psychologie die Intelligenz betrachtet und wie sehr auch unter den Experten auf diesem Gebiet die Meinungen hierüber auseinander gehen.

Die Intelligenzforschung nahm ihren Anfang in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, initiiert durch Charles Spearman, den ersten Psychologen, der sich der Erforschung dieses Kontrukts widmete. Er war es auch, der das erste Intelligenzmodell formulierte, welches heutzutage unter dem Begriff der “Zweifaktorentheorie der Intelligenz” bekannt ist. Dieses Modell basiert, wie fast alle anderen Modelle, die im Übrigen grundsätzlich auf Spearmans Modell aufbauen, auf dem Prinzip der Faktorenanalyse, d.h. auf einem statistischen Verfahren, mit dessen Hilfe man anhand typischer Muster von häufig gemeinsam gelösten und gemeinsam nicht gelösten Aufgaben Rückschlüsse über die Formen von Intelligenz ziehen kann, die von einer Gruppe ähnlicher Aufgaben erfordert werden und somit unterschiedliche Subtypen von Intelligenz darstellen.

Nun hat die Faktorenanalyse aber den Nachteil, dass die Ergebnisse, die sie liefert (die so genannte Faktorstruktur) dem Wissenschaftler enorm viel Interpretationsspielraum lassen und man aus dem gleichen statistischen Ergebnis unterschiedliche Modelle über die Struktur der Intelligenz, d.h. ihre verschiedenen Unterformen, ableiten kann. Das Ergebnis sind unterschiedliche hierarchische Modelle, die die sich allem voran in einem ganz wesentlichen Punkt unterscheiden, und zwar der Frage, ob es einen allgemeinen, allen anderen intellektuellen Fähigkeiten übergeordneten, Generalfaktor der Intelligenz (auch g-Faktor oder einfach nur g genannt) gibt – oder ob die verschiedenen Formen der Intelligenz doch voneinander unabhängig sind. Dies hat für die Praxis sehr weitreichende Folgen, hängt es doch genau von dieser Frage ab, ob wir uns bei der Messung der Intelligenz auf einen einzelnen Wert beschränken können oder ob wir differenzierter vorgehen müssen. Auf der zweiten Ebene spaltet die allgemeine Intelligenz sich in einige wenige Unterfaktoren auf, die zumindest teilweise voneinander unabhängig sind, aber dennoch beide auch mit g zusammenhängen. Auf der dritten Ebene gliedern sich diese Unterfaktoren dann wiederum in spezifische intellektuelle Fähigkeiten wie z.B. Wortgewandtheit und logisches Schlussfolgern auf. Damit Ihnen die Vorstellung dieser (immer sehr ähnlich aufgebauten) hierarchischen Modelle etwas leichter fällt, habe ich in der unten stehenden Abbildung einmal selbst ein beispielhaftes Modell erstellt, von dem ich behaupten würde, dass es zwar vereinfacht ist, aber in vielerlei Hinsicht einen derzeit weit verbreiteten Konsens darstellt, nämlich die Annahme eines gewissen g-Faktors, eine Unterscheidung zwischen fluider und kristalliner Intelligenz auf der zweiten Ebene sowie einige typische, diesen beiden Faktoren wiederum unterordnete Subformen intellektueller/kognitiver Fähigkeiten. Worauf die einzelnen Komponenten dieses beispielhaften Modells jeweils zurückgehen, erfahren Sie in den nächsten Abschnitten.

Beispiel für ein hierarchisches Modell
Beispiel für ein hierarchisches Modell

 

Spearman: G thront über allem

Das von Spearman entwickelte Modell ist sowohl das allerälteste als auch dasjenige, das den Begriff des g-Faktors bzw. der “Allgemeinen Intelligenz” geprägt hat. Spearman interpretierte die aus der Faktorenanalyse resultierenden hohen Korrelationen (= statistische Zusammenhänge) zwischen den Lösungsmustern unterschiedlichster Aufgaben derart, dass es einen solchen Generalfaktor der Intelligenz geben müsse, da, grob gesagt, Personen, die in einem Aufgabenbereich (z.B. räumliches Denken) gut abschnitten, tendenziell auch in anderen Bereichen (z.B. Wortschatz und logisches Schlussfolgern) gute Ergebnisse erzielten. Dieser Generalfaktor, so Spearman, sei die Grundlage aller Leistungen in Intelligenztests, und er beschreibt ihn als die “Fähigkeit, Zusammenhänge wahrzunehmen und daraus Schlüsse zu ziehen” – kurz: als “mentale Energie”. G untergeordnet sind im Spearman-Modell nur die “spezifischen Fähigkeiten”, die mit s bezeichnet werden und sprachliche, mathematische und räumliche Intelligenz umfassen. D.h. es gibt im Gegensatz zum oben skizzierten Beispielmodell keinerlei mittlere Ebene.

Auf Spearmans Modell basieren mehrere Intelligenztests, die auch heute noch weit verbreitet sind. Man erkennt diese Tests daran, dass sie am Ende die Berechnung eines Intelligenzquotienten ermöglichen, der als Index für das Niveau der Allgemeinen Intelligenz herangezogen wird. Hierzu gehören z.B. alle Tests aus der Wechsler-Reihe (die aktuellsten sind der Wechsler Intelligenztest für Erwachsene, kurz WIE, und der Hamburg Wechsler Intelligenztest für Kinder in seiner 4. Ausgabe, kurz HAWIK-IV) sowie die Raven-Tests, die nur aus Matrizen-Aufgaben (“Welches Bild gehört in das leere Kästchen?”) bestehen und zum Ziel haben, unabhängig von Sprache und Kultur abstraktes, nicht angewandtes Denken zu erfassen.

Abgrenzung von Spearman: Thurstone & Cattell

Im Verlauf des 20. Jahrhunderts wurde dann von anderen Psychologen eine Fülle weiterer, meist auf Faktorenanalysen und ihrer Interpretation basierender Intelligenzmodelle entwickelt, die sich, wenn man einmal ehrlich ist, nicht wirklich exorbitant voneinander unterscheiden. Dies hat sicherlich auch damit zu tun, dass sie fast ausnahmslos in Abgrenzung vom Spearman-Modell enstanden sind und sich somit alle in irgendeiner Form hierauf beziehen. Der zweite Grund ist der, dass man in der Wissenschaft leider auch nicht ständig das Rad neu erfinden kann.

Das Primärfaktorenmodell nach Thurstone: Ebenbürtiges Nebeneinander?

Anders als Spearman betrachtete Louis Leon Thurstone die Intelligenz als eine Sammlung von sieben klar voneinander angrenzbaren, also unabhängigen Intelligenzarten. Diese sieben Primärfaktoren sind: Rechenfähigkeit, Auffassungsgeschwindigkeit, schlussfolgerndes Denken, räumliches Vorstellungsvermögen, assoziatives Gedächtnis, Sprachbeherrschung und Wortflüssigkeit. Widergespiegelt wird dies durch den bekannten Intelligenz-Struktur-Test, kurz IST-2000-R, in dem eben nicht ein IQ-Wert am Ende berechnet wird, sondern mehrere. Kritisch an diesem Modell ist anzumerken, dass Thurstone bei seinen Faktorenanalysen in den Augen einiger Wissenschaftler etwas “gepfuscht” hat, da er anstatt einer orthogonalen eine oblique Faktorenrotation verwendete – mit dem Ergebnis, dass seine sieben Primärfaktoren leider doch nicht völlig unabhängig voneinander sind. Thurstone räumte tatsächlich später ein, dass diese Kritik berechtigt sei, und erkannte einen gewissen g-Faktor als mögliche Ursache dieser Zusammenhänge an.

Die Zweikomponententheorie nach Cattell: Einführung einer mittleren Ebene

Raymond Bernard Cattell hingegen nahm von vornherein einen g-Faktor als oberste Instanz in seinem Intelligenzmodell an, war zugleich aber der erste, der eine mittlere Ebene (wie im obigen Beispielmodell gezeigt) einführte. Auf ihn geht die bis heute weit etablierte und bewährte Unterscheidung zwischen kristalliner (meist abgekürzt c) und fluider Intelligenz (meist abgekürzt f) zurück, in die sich im zufolge die Allgemeine Intelligenz aufspaltet. Unter der fluiden Intelligenz versteht Cattell eine generelle Denk- und Problemlösefähigkeit, die er als weitgehend unabhängig von kulturellen Einflüssen versteht und die eine wichtige Voraussetzung für den Erwerb neuer Informationen darstellt. Nach Cattell ist die fluide Intelligenz ein angeborenes Merkmal, die sich im Laufe des Lebens stabilisiert oder sogar gegen Ende stagniert. Gegenteilig hierzu verhält sich die bis zum Lebensende stetig anwachsende kristalline Intelligenz, die als kumulative Lebenserfahrung zu sehen ist. Dies deutet bereits darauf hin, dass diese sämtliches im Laufe des Lebens erworbenes Wissen, erworbene Fertigkeiten und Kompetenzen umfasst. Diese erachtet Cattell als stark von kulturellen Einflüssen geprägtes und maßgeblich von sprachlichen Fähigkeiten bestimmtes Konstrukt. Fluide und kristalline Intelligenz sind somit, wie es typisch für Elemente der mittleren Ebene ist, insofern nicht gänzlich unabhängig voneinander, als sie durch die “gemeinsame Mutter” g verbunden sind, und gleichzeitig ist ihr Zusammenhang hinreichend gering, um sie als zwei separate Unterfaktoren zu betrachten. Dabei wird übrigens durchaus angenommen, dass c und f auf vielfältige Weise interagieren: Zum Beispiel wird davon ausgegangen, dass eine gut ausgeprägte fluide Intelligenz den Erwerb von kritalliner Intelligenz in Form von Wissen und Fertigkeiten erleichtert. Cattells Modell ähnelt sehr stark dem von John B. Carroll. Da letzteres keinen meiner Meinung nach wesentlichen Unterschied aufweist, werde ich es an dieser Stelle nicht gesondert beschreiben.

Auch Cattells Theorie ist in die Entwicklung von Intelligenztests eingeflossen. So findet sich (wenn auch nicht explizit so bezeichnet) die Unterteilung in f und c auch im IST-2000-R wieder. Die Tests aus der Wechsler-Serie erfassen typischerweise leicht überwiegend kristalline Intelligenz, während die ebenfalls bereits erwähnten Raven-Tests, ebenso wie die so genannten Culture Fair Tests (kurz CFTs), hauptsächlich fluide Intelligenz messen, um ausdrücklich kulturelle Unterschiede außen vor zu lassen und diesem Sinne “fair” zu sein.

Nicht-hierarchische Modelle

Neben den hierarchischen Modellen gibt es auch noch ein paar Vertreter, die von verschiedenen Intelligenzformen ausgehen, die unabhängig und sozusagen “gleichberechtigt” nebeneinander stehen, ohne dass es einen übergeordneten g-Faktor oder untergeordnete Fähigkeiten gäbe. Im Grunde hätte ich an dieser Stelle auch das Primärfaktorenmodell von Thurstone anführen können; da Thurstone aber im Nachhinein einen g-Faktor doch mehr oder weniger eingeräumt hat, findet es sich bei den hierarchischen Modellen.

Mehrdimensionale Modelle: Inhalt, Prozess & Co.

Zu den im Vergleich zu den hierarchischen Modellen fast schon exotisch anmutenden mehrdimensionalen Modellen gehören das Würfelmodell nach Guilford und das Berliner Intelligenzstrukturmodell nach Jäger. Beiden Modellen gemeinsam ist, dass sich eine sehr große Menge unterschiedlicher “Intelligenzen” ergeben, und zwar als Produkt einiger weniger Faktoren, die unterschiedliche Ausprägungen aufweisen können. Dabei beruhen auch diese Modelle auf Faktorenanalysen und sind somit ein anschaulicher Beleg dafür, auf welch unterschiedliche Weise man die im Prinzip gleiche Datenlage interpretieren kann.

Im Würfelmodell ist es so, dass sich 150 verschiedene Intelligenzarten als Produkt drei verschiedener Faktoren mit wiederum verschiedenen Ausprägungen ergeben. Unter diesen drei Faktoren versteht Guilford den zu verarbeitenden Inhalt (z.B. akustische Reize), den nötigen Vorgang (z.B. Auswertung der akustischen Reize) und das Produkt (z.B. Herausstellung der Implikationen). Das klingt sehr abtrakt, komplex und schwer überprüfbar, was es auch tatsächlich ist. Ähnliches gilt für das Berliner Intelligenzstrukturmodell, bei dem es im Gegensatz zum Würfelmodell nur zwei Faktoren gibt. Zum einen führt Jäger den Faktor “Operationen” an, als dessen mögliche Ausprägungen er Merkfähigkeit, Bearbeitungsgeschwindigkeit, Einfallsreichtum und Verarbeitungskapazität anführt. Zum anderen gibt es den Faktor “Inhalte” mit drei Varianten, und zwar bildhaftem, verbalem und numerischem Material. Insgesamt ergeben sich hieraus also 3×4=12 verschiedene Intelligenzformen, abhängig von der Art des zu bearbeitenden Materials und der Art der geforderten mentalen Operation. Jägers Modell enthält daneben übrigens auch noch einen g-Faktor, der in gewisser Weise allen Faktoren und ihren Ausprägungen gleichsam zugrunde liegt.

Die praktische Anwendung dieser Form von Modellen ist schwieriger als bei den oben beschriebenen Modellen, da, wenn man die Modelle ernst nimmt, für alle möglichen Kombinationen von Faktorausprägungen eine geeignete Aufgabe finden muss. Zwar hat Guilford für den Großteil der in seinem Modell postulierten Intelligenzfacetten inzwischen Aufgabentypen vorgeschlagen, dass diese jedoch in einen standardisierten Intelligenztest übertragen wurden, ist mir nicht bekannt. Anders sieht es mit dem (ja doch deutlich sparsameren) Jäger-Modell aus, welches in Form des Berliner Intelligenzstruktur-Tests (kurz BIS) Anwendung findet.

Gardners Theorie der Multiplen Intelligenzen: Ein Plädoyer gegen G

In den 1980er Jahren veröffentlichte Howard Gardner seine Theorie der Multiplen Intelligenzen und wetterte gewaltig gegen das Konzept der Allgemeinen Intelligenz bzw. den g-Faktor. Er argumentierte, dass klassische Intelligenztests nicht imstande wären, die Fülle an kognitiven Fähigkeiten, über die ein Mensch verfügen kann, zu erfassen, und schlug ein Modell mit sieben voneinander unabhängigen und nicht durch einen übergeordneten g-Faktor bestimmten Intelligenzfacetten vor. An diesem, ebenfalls auf Faktorenanalysen basierenden Modell ist, neben der Tatsache, dass die Unabhängigkeit der Intelligenzfacetten nicht belegt ist, zu kritisieren, dass es eine große Überlappung mit dem (lange vorher veröffentlichten) Thurstone-Modell aufweist (allein schon, was die Zahl der Faktoren angeht). So finden sich bei Gardner u.a. auch die logisch-mathematische, die sprachliche und die bildlich-räumliche Intelligenz. Neu sind allerdings vier Faktoren, die eher den Fokus auf künstlerische und sozio-emotionale Fähigkeiten legen, nämlich die musikalisch-rhythmische, die körperlich-kinästhetische (Einsatz des eigenen Körpers), die interpersonale (Verstehen von und Umgang mit anderen Menschen) und die intrapersonale Intelligenz (Verständnis seinerselbst). Insbesondere die letzten beiden Intelligenzarten sind in der Psychologie inzwischen anerkannte Konstrukte, werden jedoch eher nicht direkt als Form von Intelligenz betrachtet, sondern unter dem Begriff “sozio-emotionale Kompetenz” zusammengefasst (im Volksmund und in Klatschzeitschriften erfreuen sich allerdings die Begriffe “emotionale Intelligenz” und “soziale Intelligenz” allerdings weiter Verbreitung) und als etwas erachtet, das in der Regel in der Kindheit und in der Interaktion mit anderen Menschen erworben wird und eher nicht angeboren ist. Zu diesem Konstrukt gehören z.B. u.a. die Fähigkeit, die Perspektive anderer einzunehmen (Theory of Mind), die Fähigkeit, die emotionale Lage anderer nachzuempfinden (Empathie), das Bewusstsein über eigene emotionale Vorgänge, Wege der Emotionsäußerung und das Bewusstsein über die Wirkung der eigenen Emotionen auf andere sowie die Fähigkeit zur Regulation der eigenen Emotionen.

Sternbergs Triarchisches Modell: Radikale Abkehr vom Hierarchie-Gedanken?

Das von Robert Sternberg postulierte Triarchische Modell, auch bekannt unter dem Namen Komponentenmodell, basiert auf der Informationsverarbeitungstheorie, die, grob gesagt, die menschliche Kognition als Informationsverarbeitungsprozess betrachtet, und gibt vor, eine radikale Abkehr von hierarchischen Strukturen und der Annahme voneinander abgrenzbarer Faktoren darzustellen. Es ist daher auch das einzige bekannte Intelligenzmodell, das nicht auf Faktorenanalysen beruht. Sternberg prägte hiermit auch eine neuartige Definition von Intelligenz und nannte als Teile der Definition die Elemente “Lernen aus Erfahrung”, “abstraktes Schlussfolgern”, “die Fähigkeit, sich einer sich ständig weiterentwickelnden und verändernden Umwelt anzupassen” und “die Motivation, überhaupt neues Wissen bzw. Fertigkeiten zu erlangen”. Die ersten beiden Aspekte überlappen stark mit der kristallinen und der fluiden Intelligenz, die beiden letzten hingegen sind in der Tat relativ neu und haben bisher kaum Eingang in die Messung von Intelligenz gefunden.

Die eigentliche Intelligenztheorie von Sternberg ist hingegen sehr komplex und meiner Ansicht alles andere als leicht verständlich. Ich wage auch, die kühne Behauptung aufzustellen, dass sich diese Theorie kaum prägnant zusammenfassen lässt, weil sie sich teilweise in Einzelheiten verliert. Daher möchte ich mich darauf beschränken, einige meiner Meinung nach wichtige Teilaspekte der Theorie herauszustellen. Zunächst wird, abgeleitet von der Informationsverarbeitungstheorie, die wichtige Unterscheidung getroffen zwischen der Art des ablaufenden kognitiven Prozesses, der Genauigkeit, mit dem dieser abläuft, und der Art der mentalen Repräsentation, die diesem Prozess zugrunde liegt (z.B. bildliches oder sprachliches Material). Insofern erinnert es es schon an dieser Stelle stark an die oben beschriebenen mehrdimensionalen Modelle. Dann verliert sich die Theorie (meiner Auffassung nach) in mehr und mehr Unter-Theorien, die einen eher geringen Erklärungswert haben und darüber hinaus mehr Ähnlichkeit mit den bereits beschriebenen Modellen haben, als man eigentlich aufgrund der revolutionären Aura der Theorie erwarten würde. Wirklich eingängig ist mir lediglich die “Komponenten-Subtheorie”, die drei Intelligenzkomponenten beschreibt und im Gegensatz zum Rest relativ anschaulich ist. Und zwar stellt Sternberg hier die analytische Intelligenz (abstrakte Denkprozesse, die einer Problemlösung vorausgehen), die praktische Intelligenz (Lösung von Problemen durch Anpassung an die Umwelt, Formung einer Umwelt oder Auswahl einer passenden Umwelt) und die kreative Intelligenz (Nutzen von Erfahrungen zur Lösung von Problemen) dar. Diese, so Sternberg, seien aber nicht in ein hierarchisches System eingebunden und stellten auch keinerlei Intelligenzfaktoren im klassischen Sinne dar – vielmehr seien sie eine Beschreibung dessen, was die Intelligenz leisten muss. Was genau er damit meint, und in wiefern dieser Gedanke sich wirklich von den beschriebenen hierarchischen oder mehrdimensionalen Modellen unterscheidet, bleibt zumindest mir unklar. Fest steht, dass Sternberg keinen g-Faktor anerkennt – doch dies allein ist, wie ich ausführlich dargestellt habe, nichts Revolutionäres.

Fazit

Was ich hoffe, vermittelt zu haben, ist, dass es derzeit kein allgemeingültiges und eindeutiges Verständnis dessen gibt, was “Intelligenz” ist, in wie vielen verschiedenen Formen sie vorliegt und ob es einen allem übergeordneten g-Faktor gibt. Wenn man sich die empirische Evidenz anschaut, muss man allerdings zugeben, dass die Existenz einer Allgemeinen Intelligenz bzw. eines solchen g-Faktors sehr wahrscheinlich ist, da sich die starken Zusammenhänge zwischen unterschiedlichsten Intelligenztestaufgaben nicht einfach so wegdiskutieren lassen. Weitere Evidenz für dieses Konstrukt der Allgemeinen Intelligenz findet sich übrigens auch aus der Anwendungsforschung, z.B. aus der Arbeits- und Organisationspsychologie, die ergeben hat, dass die Allgemeine Intelligenz mit Abstand der bester Prädiktor von Berufserfolg ist (Näheres dazu hier). Andererseits gibt es auch Belege, die deutlich zeigen, dass sich mit g auch nicht alles erklären lässt und eine Unterteilung auf unterer Ebene durchaus Sinn macht – so gilt die Unterscheidung zwischen kristalliner und fluider Intelligenz z.B. als gut belegt.

Für mich persönlich bedeutet dies, dass die “Wahrheit” (sollte es diese denn geben) am ehesten durch ein Modell abgebildet wird, das dem von Cattell bzw. Carroll ähnelt – vom Konzept also einem solchen, wie Sie es in der obigen Abbildung finden. Bedenken Sie aber, dass all diese Modelle im Wesentlichen unterschiedliche Interpretationen der weitgehend gleichen Sachlage sind und somit automatisch auch von der jeweiligen Ideologie geprägt sind, die ein Forscher vertritt (z.B. bzgl. der Frage, ob es einen g-Faktor geben darf). Und nicht zu vergessen ist auch, dass die Modelle sich, wenngleich sie sich alle natürlich als neuartig und daher wichtig darstellen, im Grunde nicht besonders stark unterscheiden – wenn man einmal genau nachdenkt.

Im nächsten Teil wird es um die Fragen gehen, was es mit dem Intelligenzquotienten auf sich hat, wie Intelligenz in der Bevölkerung verteilt ist und ob es stimmt, dass wir immer intelligenter werden.

© Christian Rupp 2014

Warum sich die sexuelle Orientierung jeglichem Werturteil entzieht

Ich habe lange überlegt, wie ich mit der jüngst losgetretenen Hetzjagd gegen Homosexuelle und Homosexualität, die in der “Menschen bei Maischberger”-Ausgabe vom 11.02.2014 ihren bisherigen Höhepunkt fand, umgehen soll. Aufregen? Ignorieren? Wut in etwas Konstruktives hinein sublimieren? Ich habe mich mit diesem Artikel für letztere Alternative entschieden. Zentraler Punkt der Debatte ist, wenn man einen Moment länger über das Gesagte nachdenkt und auch zwischen den Zeilen mithört, dass die Mehrheitsgesellschaft – also die, die sich als heterosexuell definiert – sich von der Minderheitsgesellschaft – von jenen als homosexuell definiert – unterdrückt fühlt. Unterdrückt dahingehend, dass Schwule und Lesben derart starken öffentlichen Druck ausübten, dass es ihnen – den Heterosexuellen – nicht mehr erlaubt sei, öffentlich eine negative Meinung bzw. ein negatives Werturteil über Homosexualität zu äußern. Denn Homosexuelle, so jene Verfechter, übten normativen Druck aus und schränkten die Meinungsfreiheit der Mehrheitsgesellschaft ein. Wenn Homosexualität als der Heterosexualität ebenbürtige Form der Liebe zwischen Menschen im Unterricht gelehrt würde, drohe die “moralische Umerziehung”. Kurz und knapp gesagt: Man fühle sich seiner Meinungsfreiheit beraubt, weil man Homosexualität nicht mehr offiziell scheiße finden darf. Was folgte, waren dann (richtig mutige und anerkennenswerte!) Bekennerauftritte wie die von SPIEGEL-Journalist Matthias Matussek, der irgendwann vergangene Tage die WELT (im doppelten Sinn) wissen ließ: “Ich bin wohl homophob. Und das ist auch gut so”. So etwas ist durchaus bemerkenswert, bemerkenswert bedauernswert. Zeugt es doch von einer Reflexionsgabe, die sich stark in Grenzen hält.

Was bei dieser gesamten Diskussion darüber, ob man sich nun ein Werturteil über Homosexualität erlauben darf/sollte oder nicht, leider völlig übersehen wird, ist ein ganz trivialer Umstand. Homosexualität ist nichts, das man sich aussucht. Es steckt keine Absicht dahinter, und schon gar keine böse. Kein Mensch hat es sich ausgesucht, mit welcher sexuellen Präferenz er auf die Welt kommt. Und selbst wenn, was nach aktuellem psychologischen Forschungsstand nicht der Fall ist, Umweltfaktoren das Ausschlaggebendere wären, hätte sich das Kind diese relevanten Umweltfaktoren wohl kaum selbst ausgesucht. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass es irgendeinen homo- oder bisexuellen Menschen gibt, der nicht oft genug in seiner Jugend oder auch im Erwachsenenalter seine sexuelle Orientierung verflucht hätte. Glaubt irgendeiner von euch, die ihr das Recht auf freie Meinungs- und Werturteilbildung immer so hoch hängt, ernsthaft, man würde sich seine sexuelle Orientierung aussuchen? Schwul sein, weil es gerade “in” ist? Weil man dadurch so viele Vorteile im Leben hat und sich so viele Freunde macht? Glaubt ihr das tatsächlich deshalb, weil Menschen wie Klaus Wowereit selbstbewusst vor die Presse treten und mutig bekennen: “Ich bin schwul, und das ist gut so” (= “Ich sehe keinen Grund, mich zu schämen?”). Ja, ich glaube, das denkt ihr wirklich. Und nein, so ist es ganz sicherlich nicht.

Wie kann man sich bitte ein Werturteil bezüglich eines Personenmerkmals anmaßen, das eine Person sich nicht willentlich ausgesucht hat? Man kann sich meinetwegen ein Werturteil dazu erlauben, ob man es gut oder schlecht findet, wenn schwule Männer halbnackt über den CSD tanzen. Oder darüber, ob es unverantwortlich ist, wenn welche von ihnen (was übrigens auch auf heterosexuelle Menschen zutrifft) ungeschützten Geschlechtsverkehr mit vielen verschiedenen Partnern haben. Alles ok. Aber worin besteht bitte der Sinn darin, ein Werturteil über ein von der Person nicht wählbares und nicht beeinflussbares Merkmal zu fällen? Wie die sexuelle Orientierung, die so rein gar nicht intentional steuerbar ist? Dann kann ich ja genau so gut sagen: “Ich finde es moralisch verwerflich, wenn Frauen rote Haare haben”. Oder: “Also grüne Augen finde ich ja mal gar nicht akzeptabel”. Genauso könnte man dann auch sagen: „Menschen mit einem unterdurchschnittlichen IQ sind weniger wert“. Denn schon das Wort „Werturteil“ besagt: Es geht um den Wert der Person. Beurteilt anhand eines Merkmals, dass sie sich nicht ausgesucht hat. Kommt keiner auf die Idee, dass das hochgradig ungerecht ist? Und irgendwie mittelalterlich? Und es geht noch um viel mehr: Nämlich darum, dass man die Deutungshoheit darüber ergreift, was besser und was schlechter ist – darum, ein normatives Urteil bezüglich eines Ideals zu fällen, der Heterosexualität. Denn die ist zweifelsohne das einzig Wahre, und würde man Kindern in der Schule etwas anderes beibringen (um Himmels Willen!), würden diese sicher alle schwul und lesbisch werden, und die Menschheit wäre übermorgen ausgestorben. Katastrophe perfekt.

Den finalen Impetus zu diesem Artikel gab eine Facebook-Diskussion unter einem Artikel über Claudia Roth, die sich zur Homosexualitätsdebatte geäußert hatte. Eine Kommentatorin, die ansonsten recht vernünftige Ansichten vertrat, schoss dann mit dem folgenden Kommentar leider doch noch den Vogel ab: „Du darfst selbstverständlich eine Meinung dazu haben ob du das Konzept für dich persönlich magst. Übrigens lehne ich in diesem Sinne Homosexualität auch ab – für mich.“ So. Homosexualität, liebe Menschen, ist kein „Konzept“, zu dem man per se eine Meinung haben kann. Sie ist eine Tatsache. Es gibt sie und hat sie immer gegeben. Geschadet hat sie wohl noch niemandem – außer sicherlich den Betroffenen selbst. Man kann Homosexuelle als (natürlich zu Unrecht als homogen angenommene Gruppe) mögen oder nicht, aber das basiert dann im psychologischen Sinn sicherlich nicht auf einer Meinung, sondern auf projizierten und unterstellten Absichten und Bestrebungen bzw. einer wahrgenommenen (irrationalen) Bedrohung. Und noch unüberlegter ist die Aussage, Homosexualität für sich persönlich abzulehnen. Ja klar, wenn man es nicht ist, muss man sich damit auch nicht beschäftigen. Super Aussage! Auch hier versteckt wieder implizit die Annahme, es handle sich um etwas, das man sich aussucht – denn nur Dinge, die man sich aussuchen kann, kann man nach meinem Verständnis auch ablehnen. Religion, Kleidungsstil, Einrichtung: All das kann man sich aussuchen (und jetzt komme bitte keiner mit dem Argument, Religion könne man sich nicht aussuchen, weil man hineingeboren wird: Hineingeboren ist nicht angeboren, und jeder Mensch kann, wenngleich er mitunter große Opfer bringen muss, eine Religionsgemeinschaft auch wieder verlassen) – seine sexuelle Orientierung leider nicht.

Insgesamt impliziert dies auf der Seite des Bewerteten die Unterstellung einer Absicht, und das ist ein fataler Fehler. Zumindest solange wir in einer Gesellschaft wie der jetzigen leben, kann ich mir kaum vorstellen, dass irgendeine lesbische Frau oder irgendein schwuler Mann sich freiwillig noch einmal wünschen würde, homosexuell auf die Welt zu kommen. Und eben weil es nichts ist, wozu man eine Meinung haben kann, hat in Bezug auf die sexuelle Orientierung auch niemand das Recht auf eine Meinung oder gar auf ein Werturteil – denn sie entzieht sich diesem. Steckt hinter all der Debatte um das „Recht auf eine Meinung, Homosexualität schlecht zu finden” letztendlich die Forderung, Schwule und Lesben sollten ihre sexuellen Präferenzen unterdrücken und sich “zusammenreißen”? Soll das ernsthaft der Vorwurf sein – dass sie das nicht tun? Darauf läuft es nämlich, wenn man das ganze mal zuende denkt, genau hinaus.

Nun werden entsprechende Leser mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit einwenden, Homosexuelle seien doch stolz auf ihre sexuelle Orientierung, würden sie lauthals zur Schau stellen (CSD, „gay pride“, etc.) und – so ein weit verbreiteter Tenor in den letzten Wochen – würden die öffentliche Meinung diktieren und es gesellschaftlich unmöglich machen, gegen sie zu sein. Das, was man hier auf gesellschaftlicher Ebene beobachten kann, nennt sich in der Psychologie „Reaktanz“. Übersetzen kann man es am ehesten mit „Trotzverhalten“, und man kennt es eigentlich eher von Kindern zwischen 2 und 4. Kern des Reaktanz-Konzeptes ist es, dass Menschen sich in ihrer wahrgenommen persönlichen Freiheit (ob nun zurecht oder unzurecht, spielt keine Rolle) eingeschränkt und bedroht fühlen und hierauf mit Trotzverhalten reagieren. Ergo: Genau das, was wir in den letzten Wochen erleben. Eine Minderheit schwimmt sich nach jahrhundertelanger Unterdrückung endlich frei und besitzt die bodenlose Unverschämtheit, sich selbstbewusst zu ihrer “Andersartigkeit” zu bekennen und obendrein die Dreistigkeit, das auch noch öffentlich zu zeigen und allen ernstes dieselben Rechte zu fordern wie die Mehrheitsgesellschaft. Das geht natürlich nicht.

Die entsprechenden Homosexualitätsgegner nennen gerne als Argument, sie sähen ihre “konservativen Werte bedroht”. Der gute Herr Matussek forderte in dem besagten WELT-Artikel sein Recht, an das gute, alte Mutter-Vater-Kind-Modell zu glauben. Nun, wenn Schwule und Lesben genauso heiraten und (Gott bewahre!) auch noch Kinder adoptieren dürfen, dann würde ganz sicher die abendländische Moral (was auch immer diese entsetzlich hohle Worthülse bedeuten mag) automatisch den Bach runter gehen. Auf jene ewig gestrige selbsternannte Moralfabrik mit Hang zum Verbrechen namens Kirche will ich an dieser Stelle lieber gar nicht erst eingehen. An dieser Stelle sei kurz darauf verwiesen, dass Menschen wie Herr Matussek gerne an dieses Modell glauben können, solange sie sich bewusst sind, dass es sich nicht um wissen handelt. Von der Tatsache mal abgesehen, dass, wenn man sich die Scheidungsraten unter heterosexuellen Paaren mal anschaut, jenes Modell irgendwie auch nicht ganz das Gelbe vom Ei zu sein scheint, liegen genügende (von der Politik stoisch-arrogant ignorierte) wissenschaftliche Befunde vor, die zeigen, dass Kinder keine Nachteile haben, wenn sie bei zwei Müttern oder zwei Vätern aufwachsen (was Sie hier nachlesen können).

Aber all das ist es nicht, das den Hass gegen anders liebende Menschen wirklich erklärt. Es ist zu oberflächlich. Es ist nicht das, was diese Menschen wirklich fürchten. Und deshalb ist auch der Begriff Homophobie, von mir nach Möglichkeit gemieden, nicht zutreffend. Es ist keine Angst vor Lesben und Schwulen, ebenso wenig wie eine Angst vor dem vermeintlichen Werteverlust (der, nebenbei gesagt, ohnehin ein nicht greifbares Konstrukt ist, zumal höchstens Werte ersetzt werden, aber nicht ausschließlich verloren gehen).

Die Sozialpsychologie gibt auf diesen Hass gegenüber Minderheiten meist die Antwort, dass Menschen generell andere Menschen dann weniger mögen, sobald sie sie auf irgendeine Weise als anders wahrnehmen. Dies ist sicherlich richtig und gilt auch als gut belegt; ich bin allerdings der Ansicht, dass auch diese Erklärung zu oberflächlich ist. Hass und Ablehnung sind, da sind sich die meisten Psychologen einig, fast immer sekundäre Reaktionen bzw. Emotionen. Sekundär deshalb, weil sie dazu dienen, eine primäre Emotion – so gut wie immer Angst – zu kompensieren. Die Frage ist also, wie schon oben angerissen: Wovor um alles in der Welt haben die Homosexualitätsgegner wirklich Angst? Nun, ich will nicht sagen, dass dieser Zusammenhang auf alle diese Leute zutrifft (weil man diesen Hass, wenn man selbst nicht zur Reflexion in der Lage ist, auch am Modell erlernen, d.h. “eingetrichtert” bekommen kann), aber dennoch habe ich eine starke Vermutung bezüglich des ausschlaggebenden Prozesses.

Wenn man die Angst um das Überleben einmal außen vor lässt (da diese zwar essentiell wichtig ist, aber in der Realität kaum jemanden betrifft), dann beziehen sich die meisten Ängste des Menschen auf die Bedrohung seines Selbstwerts. Damit, diesen zu verteidigen (und natürlich möglichst zu erhöhen!), ist der Mensch fast unablässlich beschäftigt – und kaum ein Konstrukt ist hilfreicher dabei, menschliches Verhalten zu erklären. Eine sehr effektive Form der Selbstwertregulation – ebenfalls aus der Sozialpsychologie bekannt und dort sehr gut erforscht – ist der soziale Vergleich. Kurz und prägnant lautet das Prinzip: Vergleiche dich mit Leuten, die in der sozialen Hierarchie unter dir stehen, und dein Selbstwert wird es dir danken. Als Merkmale können hierbei die unterschiedlichsten Dinge herangezogen werden: Geld, Auto, Schmuck, Haus, Job, Aussehen, Gewicht, etc. – alles, was relative Werturteile der Form “besser/schlechter als” erlaubt. Tja, und was eignet sich besser zum Abwärtsvergleich als stigmatisierte Minderheiten? Mit denen kann man sich auch dann noch vergleichen, wenn’s im Job gerade mal nicht so läuft. Blöd wird es eben dann, wenn die die Frechheit besitzen, Ebenbürtigkeit zu fordern. Gleichberechtigung für die, die man braucht, um sich gut zu fühlen? Niemals! Auf Augenhöhe ist kein Abwärtsvergleich mehr möglich. Und was ist der logische Schluss? Wieder drauftreten! Bis jene sich wieder erinnern, wo ihr gottgegebener Platz in der Gesellschaft wirklich ist.

© Christian Rupp 2014

Warum werden Menschen abhängig? – Die biologische Seite.

Abhängigkeitserkrankungen („Süchte“) stellen eine schwerwiegende, sehr qualvolle und gesellschaftlich extrem stigmatisierte Gruppe von psychischen Störungen dar. Und sie sind alles andere als selten: So leiden pro Jahr z.B. ca. 3% der Bevölkerung an einer Alkoholabhängigkeit und 0,5% bis 1% an einer Drogen – oder Medikamentenabhängigkeit (Nikotinabhängigkeit außen vor gelassen).

Im Hinblick auf illegale Drogen sind hierbei vor allem die sedierend wirkenden Opioide (in der Regel das aus Schlafmohn gewonnene Heroin), das stimulierend wirkende Kokain (aus den Blättern des Coca-Strauchs gewonnen, entweder als Koks in Pulverform geschnupft oder als Crack geraucht) sowie die ebenfalls stimulierenden Amphetamine (im Wesentlichen synthetisches Kokain, hierunter fällt auch Methylamphetamin, bekannt als „Crystal Meth“) und das sedierend wirkende Cannabis (in Form von Haschisch oder Marihuana) zu nennen. Nicht zu vernachlässigen sind auch Medikamentenabhängigkeiten, insbesondere von Benzodiazepinen, die meist als Schlafmittel eingenommen werden und schon nach nur dreiwöchigem Gebrauch abhängig machen.

Hinzu kommen außerdem die so genannten nicht stoffgebundenen Abhängigkeiten, worunter vor allem das pathologische Glücksspiel („Spielsucht“) fällt, bezüglich dessen neuere Forschungsergebnisse darauf hindeuten, dass die Wirkung im Gehirn der von „echten“ Substanzen enorm ähnelt. Bezüglich aller Abhängigkeitserkrankungen gilt das Gegenteil dessen, was bei den meisten anderen psychischen Störungen gilt, nämlich dass Männer deutlich häufiger betroffen sind als Frauen.

Woran erkennt man eine Abhängigkeit?

Die Symptome einer Abhängigkeitserkrankung sind die folgenden:

  • Toleranzentwicklung (d.h., es muss mit der Zeit mehr von der Substanz konsumiert werden, um dieselbe Wirkung zu erzeugen)
  • Entzugserscheinungen (Bei nicht erfolgtem Konsum kommt es zu Entzugssymptomen wie Übelkeit, Schmerzen, Unruhe oder auch Halluzinationen und epileptischen Anfällen)
  • Die Substanz wird häufiger oder in größeren Mengen konsumiert als beabsichtigt
  • Es besteht der anhaltende Wunsch, den Konsum zu reduzieren oder zu kontrollieren; bisherige Versuche sind aber gescheitert
  • Der Betroffene verbringt sehr viel Zeit mit dem Konsum, der Beschaffung und der Erholung vom Konsum der Substanz
  • Der Betroffene setzt den Konsum trotz eines bestehenden körperlichen oder psychischen Problems fort
  • Der Betroffene vernachlässigt wichtige soziale, familiäre oder berufliche Pflichten aufgrund des Substanzkonsums

Im Folgenden werde ich nun verschiedene Faktoren beleuchten, die dafür verantwortlich sind, dass Menschen von Substanzen abhängig werden. Die dargestellten Ansätze dienen dabei vor allem dazu, die beiden bedeutendsten Symptome zu erklären: die Toleranzentwicklung und die Entzugssymptome. Ich orientiere mich bei der Darstellung am Beispiel der besonders relevanten Alkoholabhängigkeit – die meisten Prozesse haben jedoch eine ebenso große Bedeutung für andere Substanzen.

Metabolische Toleranz

Hiermit sind Anpassungsprozesse auf Ebene der Leber gemeint, wo der größte Anteil des Alkohols abgebaut (d.h. metabolisiert) wird. In der Tat passt sich die Leber bei fortwährendem starken Alkoholkonsum dadurch an, dass zusätzliche Enzyme zum Abbau des Alkohols gebildet werden. Bei sehr starkem Konsum wird zudem auch das Enzym MEOS gebildet, das neben Ethanol (was den Hauptbestandteil dessen ausmacht, was wir als „Alkohol“ bezeichnen) auch die noch wesentlich gefährlichere Substanz Methanol abbaut und dem eine wichtige Bedeutung hinsichtlich der sich auftürmenden Nachwirkungen (siehe unten) zukommt.

Insgesamt kommt es also durch die Anpassungsprozesse in der Leber zu einem immer schnelleren Abbau in der Leber und somit dazu, dass eine immer größere Menge Alkohol nötig ist, um die gewünschte Wirkung zu erzielen.

Warum einem von Alkohol übel wird

Dass einem nach starkem Alkoholkonsum übel wird, ist auf das Produkt der ersten Abbaustufe in der Leber zurückzuführen, das so genannte Acetaldehyd, das dann zu Essigsäure und schließlich zu Kohlendioxid und Wasser abgebaut wird. Vielen asiatisch stämmigen Menschen fehlt das Enzym zum weiteren Abbau von Acetaldehyd, was deren generelle Unverträglichkeit gegenüber Alkohol erklärt.

Pharmakologische Toleranz

Dieser Begriff beschreibt die andere Facette der Toleranz und bezieht sich auf Anpassungsprozesse im Gehirn. Jede Substanz wirkt durch die Interaktion mit jeweils einer bestimmten Sorte von Rezeptoren, die normalerweise auf körpereigene Neurotransmitter („Botenstoffe“) ausgerichtet sind, die bezüglich der chemischen Struktur eine große Ähnlichkeit mit der jeweiligen Substanz aufweisen. Alkohol z.B. erzeugt an den entsprechenden Rezeptoren genau die gleiche Wirkung wie der allgemein sedierend wirkende Neurotransmitter GABA (Gamma-Aminobuttersäure). Bei fortwährendem Alkoholkonsum kommt es nun zu zwei Phänomenen: Erstens finden Umbauprozesse auf Basis der Rezeptoren statt, die sowohl in ihrer Zahl zunehmen als auch weniger empfindlich für die mit ihnen interagierenden Stoffe werden. Dies hat ebenso zur Folge, dass eine höhere Dosis der Substanz erforderlich ist, um die gewohnte Wirkung zu erzielen. Die zweite Wirkung ist die, dass durch die Allgegenwärtigkeit des Alkohols im Nervensystems der natürliche Neurotransmitter GABA „überflüssig“ wird und folglich in geringeren Mengen produziert wird – ein Aspekt, der im übernächsten Abschnitt intensiver behandelt wird.

Warum Alkohol in geringen Dosen stimulierend wirkt

Wie auch der Neurotransmitter GABA wirkt Alkohol als solcher sedierend, d.h. dämpfend und beruhigend. Gleichzeitig wirkt er sich aber auch sekundär auf das dompaminerge Transmittersystem aus, das auch unter dem Namen “Belohnungssystem” bekannt ist. Alkohol bewirkt eine Enthemmung dieses Systems und führt somit zu dessen Aktivierung; die Folge ist (wie immer, wenn das Dopaminsystem aktiviert wird) eine stimulierende, euphorisierende und enthemmende Wirkung. In geringen Dosen überwiegt diese stimulierende Wirkung. Ist eine gewisse Blutalkoholkonzentration (in der Regel über 1 Promille) jedoch überschritten, überwiegt die eigentliche Wirkung, und die Euphorie weicht einem gedämpften Bewusstseinszustand und einer zunehmenden Müdigkeit.

Craving

„Craving“ bezeichnet das starke Verlangen nach der Substanz und die Omnipräsenz der Substanz in den Gedanken der Person. Dieses starke Verlangen tritt auf, wenn die Substanz längere Zeit nicht konsumiert wurde und die Person dann mit Dingen in Kontakt kommt, die mit der Substanz assoziiert sind (z.B. Alkoholwerbung bei Alkoholabhängigen oder rauchende Zeitgenossen bei Nikotinabhängigen). Craving ist daher maßgeblich für gescheiterte Abstinenzversuche verantwortlich. Der Grund hierfür liegt sehr wahrscheinlich, wie im vorherigen Abschnitt beschrieben, auf Basis der Veränderungen im Nervensystem, präziser gesagt an der heruntergefahrenen Produktion der körpereigenen Neurotransmitter (im Falle von Alkohol ist dies GABA). Diese Reduktion der Produktion ist die automatische Folge bei jedem Substanzkonsum, ist also mit diesem assoziiert (lerntheoretisch spricht man von einem klassischen Konditionierungsprozess). Ebenso ist der Substanzkonsum aber mit anderen substanzbezogenen Reizen assoziiert, wie z.B. mit dem Bild einer Schnapsflasche oder dem Geruch von Wein.

Wenn die Person nun mit substanzbezogenen Reizen in der Umwelt in Kontakt kommt, kommt es im Sinne einer konditionierten Reaktion schon vorab zu einer Reduktion der Neurotransmittermenge. Dadurch dass somit zu wenig GABA vorhanden ist, der Alkohol als Ersatz aber noch fehlt, kommt es zu dem starken Verlangen nach eben diesem. In der Regel folgt hierauf der erneute Konsum, um dieses Verlangen zu „befriedigen“. Bleibt dieser aus, kommt es zu starken Entzugssymptomen aufgrund des Defizits an Neurotransmittern. Diese Entzugssymptome stellen typischerweise das Gegenteil der direkten Wirkung der Substanz dar – beim generell sedierend wirkenden Alkohol sind die Folgen z.B. eine ausgeprägte Unruhe, ein hoher Puls und starkes Schwitzen. Aufgrund dieser Gegensätzlichkeit wird die Theorie, auf der diese Erklärung beruht, auch als opponent process theory bezeichnet.

Die tödliche Dosis Heroin

Die opponent process theory bietet auch eine Erklärung dafür, warum ein und dieselbe Dosis z.B. bei Heroin je nach Ort des Konsums entweder normal oder tödlich wirken kann. Der typische Ort des Konsums ist mit dem Konsum selbst assoziiert, und somit bewirkt schon das Eintreffen an dem jeweiligen Ort eine Reduktion der körpereigenen Transmittermenge (bei Heroin generell auch GABA), sodass der Körper auf die Aufnahme des Heroins vorbereitet wird. Wird die gleiche Dosis Heroin jetzt plötzlich an einem ungewohnten Ort konsumiert, fehlt dieser konditionierte Reiz, und es kommt nicht vorab zu einer Reduktion der körpereigenen GABA-Produktion. Folglich ist der Körper nicht auf die Substanz vorbereitet, und die gleiche Dosis wie zuvor kann in diesem Fall „zu viel“ sein und tödlich wirken. Ein anderer Grund ist derweil der, dass Heroin eine sehr unterschiedliche Zusammensetzung haben und mal mehr, mal weniger gepuncht sein kann, was auch eine unterschiedliche Wirkung derselben Dosis erklärt.

Sich auftürmende Nachwirkungen

Dieser Aspekt der Abhängigkeit ist womöglich derjenige, der am eigängigsten und daher am besten verständlich ist. Was vielen Menschen nicht unbedingt bewusst ist, ist, dass der erwünschten positiven (in geringen Dosen stimulierenden und in höheren Dosen sedierenden) Wirkung des Alkohols eine deutlich länger andauernde negative Wirkung gegenübersteht, die jedoch schwächer ausgeprägt ist als die unmittelbare Wirkung. Hierzu gehören ein generelles Unlustgefühl, Reizbarkeit und depressiver Verstimmung. Diese sind noch abzugrenzen von den Kopfschmerzen im Rahmen des “Katers am nächsten Morgen”, die schon früher vorüber sind. Diese negativen Folgewirkungen sind auch zu unterscheiden von Entzugserscheinungen, da sie im Gegensatz zu diesen nicht nur bei Menschen mit einer Abhängigkeit, sondern bei allen Konsumenten auftreten.

Warum kommt es zu diesen Folgeerscheinungen? Dies liegt wiederum stark an biologischen Abbauprozessen. Wie oben bereits erwähnt, wird Alkohol zunächst zu Acetaldehyd abgebaut. In Verbindung mit dem Hormon und Neurotransmitter Adrenalin bilden sich hieraus die Substanzen TIQ und THBC, zu deren Bildung außerdem das Enzym MEOS beiträgt, das bei sehr langem und intensivem Konsum entsteht. Die Substanzen TIQ und THBC beeinträchtigen nun wiederum das körpereigene Endorphinsystem und das Dopaminsystem (“Belohnungssystem”), was für die oben beschriebenen Symptome verantwortlich ist.

Der Bezug zur Abhängigkeit ist nun der, dass die Betroffenen dazu neigen, diese negativen Folgewirkungen nicht “auszusitzen” und zu warten, bis sie vorüber sind, sondern stattdessen erneut trinken, um diese zu kompensieren. Die Folge ist die, dass die negativen Nachwirkungen sich von Mal zu Mal auftürmen, weil die relevanten Stoffe im Körper (vor allem TIQ und THBC) nie richtig abgebaut werden können. Dies führt dazu, dass nach einiger Zeit die gleiche Menge Alkohol gerade einmal ausreicht, um wieder einen Normalzustand herbeizuführen – um die gleiche positive Wirkung wie zu Beginn hervorzurufen, muss hingegen dann schon die doppelte Menge Alkohol konsumiert werden. Somit bietet diese Perspektive eine weitere Erklärung für die Entwicklung einer Toleranz gegenüber der Substanz.

© Christian Rupp 2013

Klinische Psychologie, Psychotherapie, Psychoanalyse: Wo gehört Freud nun hin?

Klinische Psychologie

Die Klinische Psychologie als Teilgebiet der Psychologie befasst sich (ebenso wie ihr medizinisches Pendant, die Psychiatrie) mit psychischen Störungen, aber auch mit den psychischen Einflüssen bei auf den ersten Blick rein körperlich bedingten Krankheiten, wie z.B. Kopf- und Rückenschmerzen oder dem Reizdarmsyndrom (wo psychischen und Verhaltensfaktoren eine große Bedeutung zukommt). Diese Richtung ist ganz eng verwandt mit dem medizinischen Fach der Psychosomatik, das sich ebenfalls dem Einfluss psychischer Faktoren auf körperliche Symptome widmet und Körper und Psyche schon lange nicht mehr als getrennte Einheiten, sondern als Bestandteile eines untrennbar miteinander verwobenen Systems betrachtet.

Die Klinische Psychologie ist somit eines der großen Anwendungsfächer im Psychologiestudium. Dass es nur eines von mehreren ist, möchte ich an dieser Stelle noch einmal ganz deutlich machen, denn in der Laiengesellschaft wird “Psychologie” oftmals mit “Klinischer Psychologie” gleichgesetzt bzw. auf diese reduziert. Konkret werden in der Klinischen Psychologie vor allem die Ursachen von psychischen Störungen erforscht und in Bezug auf die verschiedenen Störungen spezifische Modelle für deren Entstehung entwickelt. So werden z.B. in Längsschnittstudien (die die Versuchsteilnehmer über Jahre begleiten) Risikofaktoren (z.B. bestimmte Erlebnisse in der Kindheit, der Erziehungsstil der Eltern, kindliche Verhaltensstörungen, etc.) und Auslösefaktoren (z.B. stressreiche Lebensereignisse) für psychische Störungen erforscht. Ferner wird auch an großen Bevölkerungsstichproben die Häufigkeit psychischer Störungen und deren Verlauf (z.B. episodenweise oder chronisch) untersucht –  zusammengefasst wird dieser Bereich unter dem Begriff “Epidemiologie”. Ein weiteres Gebiet ist außerdem die Experimentelle Psychopathologie, die systematisch mit Hilfe typischer experimenteller Manipulationen Begleiterscheinungen (Korrelate) psychischer Störungen untersucht. Hierzu gehören z.B. die Befunde, dass schizophrene Patienten Beeinträchtigungen bei unbewussten, motorischen Lernprozessen (implizitem Sequenzlernen) aufweisen und ADHS-Patienten sich hinsichtlich bestimmter ereigniskorrelierter Potenziale wie der “P300” von gesunden Menschen unterscheiden. Befunde der experimentellen Psychopathologie tragen so auch dazu bei, die Ursachen psychischer Störungen besser zu verstehen, da sie Einsicht in Fehlfunktionen der Informationsverarbeitung und somit in “schief laufende” Gehirnprozesse ermöglichen.

Psychotherapie

Kognitive Verhaltenstherapie

Das für die Praxis relevanteste und wahrscheinlich inzwischen größte Teilgebiet der Klinischen Psychologie ist das der Psychotherapie. Hier werden einerseits, aus den Störungsmodellen abgeleitet, Psychotherapieverfahren (auch Interventionen genannt) entwickelt und andererseits diese im Rahmen kontrollierter Studien auf ihre Wirksamkeit überprüft (daher der Name Psychotherapieforschung). Die Formen von Psychotherapie, die sich aus der wissenschaftlichen Psychologie entwickelt haben und deren Wirksamkeit intensiv erforscht und belegt ist, werden heutzutage unter dem Sammelbegriff “Kognitive Verhaltenstherapie” (kurz KVT) zusammengefasst, die im deutschen Gesundheitssystem derweil nur als “Verhaltenstherapie” bezeichnet wird. Hierbei handelt es sich um eine sehr vielfältige Gruppe von erfolgreichen Verfahren, die darauf abzielen, psychische Störungen sowohl durch die Veränderung des Verhaltens, als auch durch die Veränderung kognitiver Strukturen (z.B. festgefahrener Gedankenmuster) zu behandeln. Die KVT ist dabei ein Therapieverfahren, das sich als Methode sowohl des therapeutischen Gesprächs als auch vieler Aktivitäten und Trainings zum Aufbau von Verhaltensweisen bedient, z.B. des Trainings sozialer Kompetenzen. Emotionen, wie z.B. die Traurigkeit oder Niedergeschlagenheit, die die Depression kennzeichnen, werden hierbei entweder als Konsequenz von Verhalten und Gedanken angesehen und indirekt beeinflusst oder aber in neueren Ansätzen auch direkt angegangen. So basiert die Emotionsfokussierte Therapie nach Greenberg z.B. unter anderem darauf, dass Emotionen intensiv durchlebt werden müssen, um sie zu bewältigen – ein Ansatz, den die Kognitive Verhaltenstherapie zuvor nur aus der Expositions- bzw. Konfrontationstherapie für Angststörungen kannte.

Gesprächspsychotherapie & Gestalttherapie

Neben der kognitiven Verhaltenstherapie gibt es eine zweite Richtung von Psychotherapie, die tatsächlich aus der Psychologie stammt, und das ist die humanistische Psychotherapie (auch klientenzentrierte oder Gesprächspsychotherapie genannt), die sich ausschließlich des Gesprächs bedient und dabei die Leitung des Gesprächs meist dem Patienten überlässt. Begründer dieser Therapierichtung war Carl Rogers, der als die drei Hauptwirkungsmechnismen der Therapie die empathische Grundhaltung und die bedingungslose Wertschätzung des Therapeuten dem Patienten (Rogers nennt ihn Klienten) gegenüber sowie die Echtheit des Therapeuten selbst beschreibt. Letzteres meint, dass der Therapeut sich dem Patienten gegenüber nicht verstellen, sondern authentisch verhalten soll. Ziel des Therapeuten ist es hierbei, dem Patienten keine Ratschläge zu geben, sondern die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass der Patient sein Problem selbst lösen kann. Eine Weiterentwicklung der Gesprächspsychotherapie nach Rogers ist übrigens die Gestalttherapie nach Perls, die sich allerdings in vielen Punkten von Rogers’ Vorgehen unterscheidet, z.B. darin, dass der Therapeut sehr viel mehr das Gespräch lenkt und auch konfrontativer vorgeht.

Obwohl die von Rogers vorgeschlagene Art der Psychotherapie nachgewiesenermaßen bereits beträchtliche Verbesserungen bewirken kann, ist sie insgesamt nicht so wirksam wie die Kognitive Verhaltenstherapie, in der aber grundsätzlich die Prinzipien der Gesprächsführung nach Rogers nach wie vor eine bedeutende Rolle spielen. An der Uni Münster z.B., wo ich studiere, gehört das praktische Erlernen dieser Gesprächsführungskompetenzen auch fest zum Psychologiestudium dazu, weshalb das Führen konstruktiver Gespräche und auch der Umgang mit schwierigen Gesprächssituationen im Prinzip auch eine Fähigkeit ist, die nahezu jeden Psychologen auszeichnen dürfte.

Psychoanalyse

Wie Sie vielleicht gemerkt haben, ist der Name “Freud” bisher nicht gefallen. Das liegt daran, dass ich bisher bewusst nur Psychotherapieformen beschrieben habe, die aus der Psychologie heraus entstanden sind. Freud derweil war Arzt, kein Psychologe, und daher auch keinesfalls der Begründer oder Vater der Psychologie. Er war dafür aber der Begründer der Psychoanalyse, der allerersten Form von Psychotherapie, die er vor über 100 Jahren entwickelte. Während man in der Gesprächspsychotherapie oder der Kognitiven Verhaltenstherapie als Patient dem Therapeuten gegenüber sitzt, legte Freud (und hier kehren wir zu dem Cliché schlechthin zurück) seine Patienten tatsächlich auf die Couch. Das hatte vor allem den Grund, dass Freud sich stark an der Hypnose orientierte, die damals schon bekannt und verbreitet war. Die klassische Psychoanalyse dauert sehr lange (mehrere Jahre bei mehreren Sitzungen pro Woche) und spült dem Therapeuten daher viel Geld in die Kasse. Während der Therapiesitzung liegt der Patient, während der Therapeut außerhalb des Sichtfeldes des Patienten sitzt und eine neutrale Person darstellt, die (ganz im Gegensatz zu Rogers Idee der Echtheit) nichts von sich selbst preisgibt. Während Patient und Therapeut sich in der KVT oder der Gesprächspsychotherapie auf Augenhöhe begegnen, steht der Psychoanalytiker hierarchisch über dem Patienten und hat die absolute Deutungshoheit über das, was der Patient sagt. Es handelt sich insgesamt um eine höchst unnatürliche Gesprächssituation, bei der der Therapeut das tut, was Psychologiestudierenden immer fälschlicherweise vorgeworfen wird: Er analysiert den Patienten bis in die tiefsten Tiefen und stellt dann irgendwann fest, was für ein Konflikt vorliegt.

Intrapsychische Konflikte und ganz viel Sex

Denn die Psychoanalyse erklärt psychische Störungen (ganz grob gesagt) durch intrapsychische Konflikte mit Ursache in der Kindheit, die dadurch geprägt sind, dass ein Bedürfnis oder Trieb (meist sexueller oder aggressiver Art), gesteuert vom so genannten Es, mit einer gesellschaftlichen Norm, repräsentiert durch das Über-ich, nicht vereinbar war oder ist. In der Gegenwart muss die aus diesem Konflikt resultierende Spannung durch irgendwelche ungünstigen Methoden abgewehrt werden, wodurch dann die Störung entsteht, die Freud als Neurose bezeichnet. Als Beispiel soll die Geschichte des “kleinen Hans” dienen, einer Fallbeschreibung Freuds vom einem kleinen Jungen mit der Angst vor Pferden. Laut Freud hatte der Junge den so genannten Ödipus-Konflikt nicht gelöst, der darin besteht, dass angeblich alle Jungen zwischen 4 und 6 Jahren sexuelles Verlangen (Es) nach ihrer Mutter verspüren, woraufhin sie aber, weil sie wissen, dass ihr Vater als Konkurrent stärker ist und das ganze auch irgendwie nicht so sein sollte (Über-Ich), Angst davor entwickeln, dass der Vater sie kastrieren wird (Kastrationsangst; hier erscheint mir die kleine Anmerkung nützlich, dass sich bei Freud eigentlich grundsätzlich alles um Sex dreht). Laut Freud entsteht das Symptom (die Angst vor Pferden) nun durch eine Verschiebung (einen von vielen verschiedenen Abwehrmechanismen) der Angst, die eigentlich auf den Vater gerichtet ist, auf Pferde. In der Fallbeschreibung wird übrigens auch kurz erwähnt, dass der kleine Hans kurz zuvor von einem Pferd getreten worden war. Aber warum sollte das schon relevant sein? Wäre ja eine viel zu naheliegende Erklärung.

Besserung ist nicht das Ziel

Sie können meinem Sarkasmus entnehmen, dass ich von dieser Therapieform nicht viel bis gar nichts halte, da sie sehr weitreichende und oft abstruse Annahmen macht, die durch keinerlei Befunde der Psychologie gestützt werden. Denn der Psychoanalyse mangelt es im Gegensatz zur Psychologie stark an Wissenschaftlichkeit: Ihr fehlt vor allem das Kriterium der Falsifizierbarkeit, was bedeutet, dass sie keine eindeutigen Aussagen liefert, die man derart überprüfen könnte, dass man je nach Ergebnis die Theorie entweder bestätigen oder verwerfen könnte. Mit anderen Worten. Zudem besitzt die Psychoanalyse die Fähigkeit, psychische Störungen zu verschlimmern, anstatt sie zu heilen. Wie schon der Psychologe Eysenck im Jahr 1952 in einer auf Krankenversicherungsdaten basierenden, zusammenfassenden Studie eindrucksvoll darlegt, liegt der Heilingserfolg der Psychoanalyse nahe 0 bzw. übersteigt nicht das, was durch Zufall zu erwarten wäre. Dies gab die Initialzündung dafür, dass vor ca. 60 Jahren immer mehr Psychotherapien tatsächlich innerhalb der wissenschaftlichen Psychologie entwickelt wurden und der Psychoanalyse zunehmend Konkurrenz machten. Der riesige Vorteil dieser neuen Verfahren war der, dass diese stets auf wissenschaftlichen Theorien basierten und die Wirksamkeitsüberprüfung im Selbstverständnis der Psychologen bereits fest verankert war. Seit damals hat sich die Psychoanalyse ziemlich stark gegen weitere Wirksamkeitsforschung gewehrt (wen wundert’s?), was aber auch auf einen wichtigen konzeptuellen Unterschied zu anderen Psychotherapieformen zurückzuführen ist: Anders als die Kognitive Verhaltenstherapie oder die Gesprächspsychotherapie verfolgt die Psychoanalyse auch gar nicht das Ziel, dass es dem Patienten am Ende besser geht, also sich die Symotome reduzieren. Das Ziel besteht darin, dem Patienten Einsicht in seine (vermeintlichen) intrapsychischen Konflikte zu geben, damit dieser sich selbst “besser verstehen” kann. Die Annahme ist, dass dies hinreichend zur Verbesserung ist. Die Realität sieht so aus, dass Patienten meist nach mehreren Jahren Analyse keinen Schritt weiter, sondern eher noch mehr belastet sind durch die Kenntnis über all die (angeblichen) ungelösten Konflikte, die sie mit sich herumtragen. An dieser Stelle sei der Unterschied zur KVT und zur Gesprächspsychotherapie noch einmal ganz deutlich gemacht: Diese Verfahren analysieren das Verhalten und Erleben des Patienten auch, aber auf andere Weise, als die Psychoanalyse es tut. Zum einen wird auf so bizarre Elemente wie den Ödipuskomplex, Kastrationsangst und intrapsychische Konflikte verzichtet, zum anderen orientiert sich die Analyse (von typischen, eingefahrenen Verhaltens- sowie Denkmustern) immer daran, was man in der Folge auch therapeutisch verändern kann, um eben nicht ewig auf der meist lange zurückliegenden Ursache der Störung herumzureiten, sondern nach vorne zu blicken und die Aufrechterhaltung der Störung zu durchbrechen.

Weiterentwicklung: Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie

Dass die Psychoanalyse, unter dem Label “Analytische Psychotherapie”, in Deutschland zu den Psychotherapieverfahren gehört, die von den Krankenkassen übernommen werden, liegt übrigens nicht etwa an ihrer wissenschaftlichen Basiertheit, sondern vor allem an der großen Lobby, die diese Richtung in Deutschland lange Zeit hatte. Die klassische Psychoanalyse ist heute nur noch sehr selten anzutreffen und ist hauptsächlich unter Ärzten (also hauptsächlich Psychiatern) noch relativ weit verbreitet, eben weil Freud selbst auch Arzt war. “Psychoanalyse” muss allerdings nicht zwangsweise bedeuten, dass die Lehre von Freud angewandt wird. Freud hatte viele Schüler, die im Laufe ihres Lebens ihre eigenen psychoanalytischen Theorien entwickelt und sich dabei größtenteils deutlich von Freuds Lehre distanziert haben – hierzu zählen z.B. Alfred Adler und Carl Gustav Jung. Abgesehen hiervon gibt es aber auch sehr moderne Weiterentwicklungen der Psychoanalyse, die unter dem Sammelbegriff der “Psychodynamischen Psychotherapie” oder der “Tiefenpsychologisch fundierten Therapie” (das ist der offizielle Name der Therapieform im deutschen Gesundheitssystem, die neben der Verhaltenstherapie und der Analytischen Psychotherapie von den Krankenkassen übernommen wird) zusammengefasst werden. Diese haben oft nur noch sehr rudimentäre Ähnlichkeit mit Freuds Ideen und sehen auch eine ganz andere, von mehr Empathie und Gleichberechtigung geprägte Interaktion zwischen Therapeut und Patient vor (unter anderem sitzt der Patient dem Therapeuten gegenüber und liegt nicht). Die Gemeinsamkeit beschränkt sich meist auf die Annahme von ungelösten Konflikten, die ihren Ursprung in der Kindheit haben. Im Gegensatz zur Psychoanalyse begnügt man sich aber nicht nur mit der Einsicht des Patienten, sondern strebt auch eine Veränderung an. In diesem Sinne sind viele moderne psychodynamische Therapieformen der KVT oder der Gesprächspsychotherapie zumindest oberflächlich gesehen recht ähnlich. Eine weitere Errungenschaft dieser weiterentwickelten Therapieform ist die Psychotherapieforschung, die die Wirksamkeit zumindest einiger dieser neuen Verfahren inzwischen belegt hat, was tvor allem auf einige manualisierte, psychodynamische Kurzzeittherapien zutrifft.

Die Begriffe noch einmal im Überblick

Um noch einmal die Begrifflichkeiten zusammenzufassen: Klinische Psychologen sind solche, die sich im Studium und in der darauf folgenden Berufstätigkeit auf psychische Störungen spezialisiert haben. Sie sind in der Regel Experten für das Erscheinungsbild und die Diagnostik psychischer Störungen und kennen sich mit den Ursachen aus. Auch von Psychotherapie haben sie normalerweise eine Menge Ahnung, dürfen diese aber nur im Rahmen einer postgradualen (d.h. nach dem Master- oder Diplomabschluss ansetzenden) Ausbildung zum Psychologischen Psychotherapeuten oder eben nach deren erfolgreichem Abschluss ausüben, d.h. nach Erteilung der Heilbefugnis (Approbation). Die meisten Klinischen Psychologen sind auch Psychotherapeuten, sodass sich eine große Überlappung ergibt. Psychotherapeuten können derweil entweder kognitiv-verhaltenstherapeutisch, psychoanalytisch, humanistisch oder systemisch (eine weitere, vor allem in der Kinder- und Familientherapie anzutreffende Richtung, auf deren Darstellung ich hier aus Sparsamkeitsgründen verzichtet habe) orientiert sein. Psychiater, die psychotherapeutisch tätig sind, haben derweil meist eine psychodynamische Orientierung.

Übrigens

Als Begründer der Psychologie als experimentell orientierte, empirische Wissenschaft wird Wilhelm Wundt (1832-1920) angesehen, der 1879 das erste “Institut für Experimentelle Psychologie” gründete, was oftmals als Geburtsstunde der Psychologie betrachtet wird. Wundt war sowohl durch die Physiologie als auch durch die Philosophie geprägt – was erklärt, dass die Psychologie bis heute mit beidem verwandt ist. Sigmund Freuds Verdienste habe ich derweil oben in Auszügen beschrieben. Was viele über ihn allerdings nicht wissen, ist, dass Freud stark kokainabhängig und ein extremer Kettenraucher war. Während er es zu Lebzeiten schaffte, vom Kokain loszukommen, blieb er bis zu seinem Tod stark nikotinabhängig und erkrankte vermutlich infolge dessen schwer an Kieferkrebs. Von dieser extrem qualvollen Erkrankung gezeichnet, setzte er 1939 im Londoner Exil (Freud war, obwohl atheistischer Religionskritiker, jüdischer Abstammung) seinem Leben ein Ende. So kann es eben leider auch enden. Und so endet auch die vierteilige Reihe von Artikeln darüber, was Psychologie ist und was nicht.