Das „Burnout-Syndrom“: Erfundene Diagnose oder echte Krankheit? (Update aus 2023)

Das „Burnout-Syndrom“ oder kurz „Burnout“ ist in aller Munde und aus dem alltäglichen Sprachgebrauch nicht wegzudenken. Doch worum handelt es sich dabei? Gerade wenn man bedenkt, wie oft Menschen berichten, sie seien wegen „Burnout“ krankgeschrieben, erscheint es mir wichtig, mit dem bedeutenden Hinweis einzusteigen, dass entgegen dem landläufigen Eindruck „Burnout“ nach wie vor kein offiziell diagnostizierbares Störungs- bzw. Krankheitsbild ist und somit auch nicht als Diagnose gestellt werden kann. In der 5. Auflage des Diagnostischen und Statistischen Manuals Psychischer Störungen (DSM-5) existiert die Diagnose ebenso wie in den vorherigen Auflagen nicht, und in der von der WHO herausgegebenen und für das deutsche Gesundheitssystem verbindlichen Internationalen Klassifikation von Krankheiten taucht „Burnout“ in der neusten Version (ICD-11) und in der Vorgängerversion (ICD-10, bis heute im Gebrauch) jeweils nicht als Diagnose auf, die eine Behandlung begründen kann, sondern wird in beiden Fällen weiterhin nur im Kapitel „Faktoren, die den Gesundheitszustand beeinflussen“ gelistet – quasi als „Nebenfaktor“ (ICD-10-Code: Z73), aber nicht als Diagnose, die eine Behandlung oder eine Krankschreibung begründen könnte. Auf letzterer findet sich als tatsächliche Diagnose, obwohl dem Patienten nicht selten mündlich „Burnout“ mitgeteilt wird, übrigens oft entweder die Diagnose einer depressiven Episode (ICD-10-Code: F32) oder aber die (Verlegenheits-)Diagnose der so genannten Neurasthenie (ICD-10-Code: F48.0), die letztlich auf ziemlich schwammige Weise einen umfassenden Erschöpfungszustand beschreibt, wobei ironischerweise in der ICD-10 beschrieben wird, dass Neurasthenie und das „Burnout-Syndrom“ (Z73) sich gegenseitig ausschließen. Oft habe ich übrigens auch schon gesehen, dass auf einer Krankschreibung Neurasthenie und eine depressive Episode standen. Das ist, wenn man dem Patienten gegenüber von „Burnout“ spricht, nicht nur Etikettenschwindel, sondern auch inhaltlich unsinnig, da die beiden Diagnosen sich gegenseitig ausschließen: Man kann nicht beides haben.

Und trotz dieser Faktenlage ist „Burnout“ inzwischen ein etablierter Begriff im Gesundheitssystem – Anlass genug, einmal zu schauen, wo die Wurzeln dieses Begriffs liegen und was er uns trotz der gegen ihn sprechenden Sachlage bringen könnte.

Die Geschichte des Begriffs

Während der Begriff „Burnout“ („Ausgebranntsein“) heute eher mit der profit- und leistungsorientierten Gesellschaft in Verbindung gebracht wird, bezeichnete er in den 70er Jahren ursprünglich vielmehr den Zustand der Erschöpfung, Ernüchterung und Resignation unter Angehörigen von Berufsgruppen, die sich als an ihren hohen ideellen (nicht materiellen) Zielen gescheitert sahen, z. B. Sozialarbeiter, Pflegekräfte oder Ärztinnen.
Heute hingegen werden Leute, die an „Burnout“ leiden, tendenziell eher als Opfer der Konsum- und Leistungsgesellschaft angesehen, und „Burnout“ selbst hat vielerorts in der Gesellschaft den Status eines „Verwundetenabzeichens“ erhalten: Die Symptomatik ist gesellschaftlich verzeihbar geworden, denn schließlich hat man der Leistungsgesellschaft gedient und sich „kaputt gearbeitet“.

Die vermeintliche Ursache: Stress am Arbeitsplatz

Zweifelsohne: Die Arbeitswelt hat sich verändert. Sie ist schnelllebiger geworden und setzt auf optimierte Kommunikation und permanente Erreichbarkeit. Vor allem E-Mails stellen einen permanenten Stressor dar, der den Arbeitsfluss erheblich behindert. Einer Studie zufolge kann eine deutsche Führungskraft nur durchschnittlich 11 Minuten ununterbrochen arbeiten, bevor eine neue E-Mail reinkommt, das Telefon klingelt, ein Messenger quakt oder es an der Tür klopft. Der Leistungsdruck ist in der Arbeitswelt allgegenwärtig: Der Anteil der Arbeitnehmer, die sich laut der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin in ihrem Job überfordert fühlen, stieg in den letzten zwei Jahrzehnten deutlich an, und die Folgen dessen sind ziemlich eindeutig.

Was Stress mit unserem Gehirn macht

Dauerhafter Stress führt zur übermäßigen Ausschüttung von Cortisol, einem so genannten Stresshormon. Dieses bewirkt, dass der Präfrontale Cortex (stark beteiligt an wichtigen kognitiven Funktionen wie Entscheiden und logischem Denken) und der Hippocampus (wichtige Funktion für das Gedächtnis und Geburtsstätte neuronaler Stammzellen) ihre Aktivität reduzieren und messbar an Volumen verlieren, während die Amygdala (das Angstzentrum) stärker aktiv wird. Das Ergebnis dieser Prozesse ist das, was man in der klinischen Psychologie und Psychiatrie schon lange kennt – allerdings nicht als „Burnout“, sondern schlichtweg als Depression.

„Burnout“ vs. Depression

Fakt ist: Symptomatisch ist das „Burnout-Syndrom“ so gut wie gar nicht von der Depression zu unterscheiden. In beiden Fällen sind die Leitsymptome gedrückte Stimmung, Freudlosigkeit, Erschöpfung, Konzentrationsschwäche und verminderte Leistungsfähigkeit (siehe auch mein Artikel zum Thema Depression). Wissenschaftlich ist eine Trennung der beiden Konzepte nicht haltbar.

Wenn man Depression und „Burnout“ nicht anhand der Symptome unterscheiden kann, dann vielleicht anhand der Ursache? Bei „Burnout“ hat es schließlich den Anschein, als wäre der übermäßige Stress die alleinige Ursache. Eigentlich ist es aber nicht der Stress selbst, sondern der Umgang der Person damit, der krank macht. Außerdem gilt wie bei Depression: Stress löst im Allgemeinen nur in Kombination mit bereits bestehender Vorbelastung eine psychische Störung aus. Auch hier möchte ich auf meinen Artikel zu Depression und das dort dargestellte “Vulnerabilitäts-Stress-Modell” verweisen. Dort findet sich eine Aufzählung sämtlicher Faktoren, die in diese Vorbelastung („Vulnerabilität“) eingehen. Insgesamt kann man sich aber merken: Dass von zwei Personen, die objektiv gesehen gleich viel Stress am Arbeitsplatz haben, nur eine eine Depression (oder einen vermeintlichen „Burnout“) entwickelt, erklärt sich dadurch, dass die beiden Personen unterschiedlich stark vorbelastet sind. Dies soll aber ganz ausdrücklich nicht bedeuten, dass der Stress am Arbeitsplatz keine Rolle spielt: Dass dieser in der Vergangenheit zugenommen hat, ist relativ unstrittig und zu großen Teilen in der Veränderung der Arbeitskultur zu sehen, in der wir jedoch ganz aktuell erfreuliche Entwicklungen einer Gegenbewegung sehen (mehr Flexibilität bei Teilzeitarbeit, Vier-Tage-Woche, weniger Pendeln dank Home Office, etc.).

Die Chance, die uns trotz allem der neue Begriff bietet

Depression ist eine schwerwiegende Erkrankung, die mit erheblichen Beeinträchtigungen im Leben einhergeht und leider auch viel zu häufig im Suizid endet. In jedem Augenblick leidet rund einer von 20 Menschen an einer Depression (die so genannte „Punktprävalenz“). Das Risiko, in seinem Leben jemals an Depression zu erkranken, kann mit ca. 10-15 % beziffert werden. Es ist also alles andere als ein seltenes Störungsbild.
Das Problem liegt darin, dass die wenigsten Patienten eine Behandlung erhalten, weil auf dieser Erkrankung ein so großes Stigma liegt. Die Menschen schämen sich, denken, sie seien selbst schuld an ihrer Erkrankung, und gehen nicht zum Arzt. Warum? Weil diese Gerüchte in der Gesellschaft fest verankert sind: Wer an Depression leidet, muss eine schwache Persönlichkeit haben, sollte sich einfach mal aufraffen und sich nicht so anstellen. Studien zufolge begeben sich aufgrund dessen nur rund 60 % der an Depression Erkrankten in Behandlung. Das ist viel zu wenig. Mal abgesehen davon, dass dann nur ein Bruchteil von ihnen angemessen behandelt wird, aber das ist ein anderes Thema.

Das Interessante ist nun, dass die Verbreitung des weniger stigmatisierenden Begriffs „Burnout“ dazu zu führen scheint, dass Menschen sich ihre Probleme eher eingestehen und Hilfe aufsuchen. Immer häufiger kommt es vor, dass jemand mit dem Anliegen namens „Burnout“ einen Psychotherapeuten aufsucht und nach den ersten 20 Minuten die tatsächliche Diagnose gestellt werden kann: Depression.

Sollte man nun vielleicht doch diese Diagnose offiziell machen, damit mehr Leuten geholfen werden kann? Für diese Idee spricht zusätzlich, dass durch diese „Legitimierung“ eventuell langfristig die Arbeitswelt dahingehend unter Druck geraten könnte, ihre Arbeitsbedingungen zu verbessern – ein erfreulicher Trend, der seit einigen Jahren, gerade im Zuge des Mangels an Arbeitskräften deutlich zu beobachten ist. Es sprechen allerdings auch eine ganze Reihe von Faktoren dagegen. Es ist genauso gut möglich, dass „Burnout“, wenn die Diagnose einmal „offiziell“ ist, seinen Reiz als Stigma-freie Erkrankung verliert, weil die Menschen beginnen, sich in genau gleichem Ausmaß dafür zu schämen, sodass wir nichts gewonnen hätten. Zudem sollten sich die offiziellen Diagnosesysteme am Stand der wissenschaftlichen Forschung orientieren und sich nicht dem Druck der Öffentlichkeit beugen (Nach dem Motto: „Wir machen zur Diagnose, was der Volksmund für eine Diagnose hält“). Letztlich wäre dies auch keine wahre Maßnahme gegen die Stigmatisierung von Depression, sondern man würde eine relativ beliebige Zweiteilung („Burnout“/Depression) bestätigen, die schlichtweg nicht zutrifft. Viel wichtiger wäre oder ist es, die Bevölkerung mehr über den Begriff der Depression und ihre Ursachen aufzuklären.

Mein Fazit

Meiner Einschätzung nach trägt der Begriff „Burnout“ eher zu einem Etikettenschwindel bei und erweist der Depression als tatsächlicher Erkrankung in Sachen Entstigmatisierung einen ziemlichen Bärendienst. Für viel wichtiger als die Diskussion über „Burnout“ als anerkannte Krankheit halte ich es, über Depression als schwerwiegende, aber gut behandelbare Erkrankung aufzuklären und gleichzeitig Arbeitgeber dazu zu bewegen, nachhaltiger mit ihren „Human Resources“ umzugehen – was gegenwärtig passiert und in eine erfreuliche Richtung geht.

© Dr. Christian Rupp 2023

Das Burnout-Syndrom: Erfundene Diagnose oder echte Krankheit?

Zu diesem Artikel gibt es eine neuere Version, die Sie hier finden.