Insgesamt stellen psychische Störungen heute den Hauptgrund für Behandlungen im Krankenhaus dar und sind der häufigste Grund für Erwerbsminderungrenten. Speziell Burnout ist die Basis unzähliger Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen. Dabei handelt es sich bei dem in Öffentlichkeit und Medien wohl bekannten „Burnout-Syndrom“ (oder eben kurz „Burnout“) um keine in den offiziellen Diagnosesystemen (ICD-10/DSM-IV) enthaltene Diagnose, darf also offiziell nicht vergeben werden.
Die Geschichte des Begriffs
Während der Begriff „Burnout“ („Ausgebranntsein“) heute eher mit der profit- und leistungsorientierten Gesellschaft in Verbindung gebracht wird, bezeichnete er in den 70er Jahren vielmehr den Zustand der Erschöpfung, Ernüchterung und Resignation unter Angehörigen von Berufsgruppen, die sich als an ihren hohen ideellen (nicht materiellen) Zielen gescheitert sahen (z.B. SozialarbeiterInnen, Krankenschwestern, Ärzte).
Heute hingegen werden Leute, die an Burnout leiden, eher als Opfer der Konsum- und Leistungsgesellschaft angesehen, und Burnout selbst hat vielerorts in der Gesellschaft den Status eines „Verwundetenabzeichens“ erhalten: man kann stolz auf ihn sein, auf seinen Burnout, denn schließlich hat man der Leistungsgesellschaft gedient und sich kaputt gearbeitet.
Die vermeintliche Ursache: Stress am Arbeitsplatz
Zweifelsohne: die Arbeitswelt hat sich verändert. Sie ist schnelllebiger geworden und setzt auf optimierte Kommunikation und permanente Erreichbarkeit. Vor allem Emails stellen einen permanenten Stressor dar, der den Arbeitsfluss erheblich behindert. Einer Studie zufolge kann eine deutsche Führungskraft nur durchschnittlich 11 Minuten ununterbrochen arbeiten, bevor eine neue Email reinkommt, das Telefon klingelt, der Instant Messenger nervt oder es an der Tür klopft.
Der Leistungsdruck ist in der Arbeitswelt allgegenwärtig: Der Anteil der Arbeitnehmer, die sich laut der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin in ihrem Job „eher überfordert“ fühlten, stieg in den vergangenen 10 Jahren von knapp 5 auf über 17 %.
Was Stress mit unserem Gehirn macht
Dauerhafter Stress führt zur übermäßigen Ausschüttung von Cortisol, einem so genannten Stresshormon. Dieses bewirkt, dass der Präfrontale Cortex (stark beteiligt an wichtigen kognitive Funktionen wie Entscheiden und logischem Denken) und der Hippocampus (wichtige Funktion für das Gedächtnis und Geburststätte neuronaler Stammzellen) ihre Aktivität reduzieren und messbar an Volumen verlieren, während die Amygdala (das Angstzentrum) stärker aktiv wird. Das Ergebnis dieser Prozesse ist das, was man in der klinischen Psychologie und Psychiatrie schon lange kennt, allerdings nicht als Burnout, sondern schlichtweg als Depression.
Burnout vs. Depression
Fakt ist: Symptomatisch ist das Burnout-Syndrom so gut wie gar nicht von der Depression zu unterscheiden. In beiden Fällen sind die Leitsymptome depressive Stimmung, Erschöpfung, Lustlosigkeit, Konzentrationsschwäche und verminderte Leistungsfähigkeit (siehe auch mein Artikel zum Thema Depression). Wissenschaftlich ist eine Trennung der beiden Konzepte nicht haltbar. Auch die meisten praktisch tätigenden Psychotherapeuten und Ärzte sehen keinen Anlass, Burnout als neues Störungsbild einzuführen.
Wenn man Depression und Burnout nicht anhand der Symptome unterscheiden kann, dann vielleicht anhand der Ursache? Bei Burnout hat es schließlich den Anschein, als wäre der übermäßige Stress die alleinige Ursache. Eigentlich ist es aber nicht der Stress selbst, sondern der Umgang der Person damit, der krank macht. Außerdem gilt wie bei Depression: Stress löst nur in Kombination mit bereits bestehender Vorbelastung eine psychische Störung aus. Auch hier möchte ich auf meinen Artikel zu Depression und das dort dargestellte “Vulnerabilitäts-Stress-Modell” verweisen. Dort findet sich eine Aufzählung sämtlicher Faktoren, die in diese Vorbelastung („Vulnerabilität“) eingehen. Insgesamt kann man sich aber merken: dass von zwei Personen, die objektiv gesehen gleich viel Stress am Arbeitsplatz haben, nur eine eine Depression (oder einen vermeintlichen Burnout) entwickelt, erklärt sich dadurch, dass die beiden Personen unterschiedlich stark vorbelastet sind. Dies soll aber ganz ausdrücklich nicht bedeuten, dass der Stress am Arbeitsplatz keine Rolle spielt: dass er in der Vergangenheit zugenommen hat, sind im Wesentlichen die Unternehmen mit dem von ihnen forcierten Leistungsdruck schuld.
Die Chance, die uns trotz allem der neue Begriff bietet
Depression ist eine schwerwiegende Erkrankung, die in 15-20% zum Suizid führt und mit erheblichen Beeinträchtigungen im Leben einhergeht. In jedem Augenblick leiden ca. 5% aller Menschen an einer Depression. Das Risiko, in seinem Leben jemals an Depression zu erkranken, kann mit ca. 10-15% beziffert werden. Es ist also alles andere als ein seltenes Störungsbild.
Das Problem liegt darin, dass die wenigsten Patienten eine Behandlung erhalten, weil auf dieser Erkrankung ein so großes Stigma liegt. Die Menschen schämen sich, denken, sie seien selbst schuld an ihrer Erkrankung und gehen nicht zum Arzt. Warum? Weil diese Gerüchte in der Gesellschaft fest verankert sind: Wer an Depression leidet, muss eine schwache Persönlichkeit sein, sollte sich einfach mal aufraffen und sich nicht so anstellen. Einer Studie zufolge begeben sich aufgrund dessen nur rund 60% der an Depression Erkrankten in Behandlung. Das ist viel zu wenig. Mal abgesehen davon, dass dann nur ein Bruchteil von ihnen angemessen behandelt wird, aber das ist ein anderes brisantes Thema.
Das Interessante ist nun, dass die Verbreitung des weniger stigmatisierenden Begriffs „Burnout“ dazu zu führen scheint, dass Menschen sich ihre Probleme eher eingestehen und Hilfe aufsuchen. Immer häufiger kommt es vor, dass jemand mit der selbst gestellten Diagnose „Burnout“ geradezu selbstbewusst einen Arzt oder Psychotherapeuten aufsucht und nach den ersten 20 Minuten die tatsächliche Diagnose gestellt werden kann: Depression.
Sollte man nun vielleicht doch diese Diagnose offiziell machen, damit mehr Leuten geholfen werden kann? Dafür spricht, dass durch diese „Legitimierung“ eventuell die Arbeitgeber unter Druck gesetzt werden, ihre Arbeitsbedingungen zu verbessern. Volkswagen ist mit der Regelung, dass seine Arbeitnehmer zwischen 18 und 7 Uhr keine Email mehr auf ihr Smartphone erhalten sollen, geradezu fortschrittlich. Es sprechen allerdings eine ganze Reihe von Faktoren dagegen. Es ist möglich, dass Burnout, wenn er einmal „offiziell“ ist, seinen Reiz als Stigma-freie Erkrankung verliert, weil die Menschen beginnen, sich ebenso dafür zu schämen, und wir nichts gewonnen hätten. Zudem sollten sich die offiziellen Diagnosesysteme am Stand der wissenschaftlichen Forschung orientieren und sich nicht dem Druck der Öffentlichkeit beugen. Letztlich wäre dies auch keine wahre Maßnahme gegen die Stigmatisierung der Depression, sondern man würde eine relativ beliebige Zweiteilung (Burnout/Depression) bestätigen, die schlichtweg nicht zutrifft. Viel wichtiger wäre oder ist es, die Bevölkerung mehr über den Begriff der Depression und ihre Ursachen aufzuklären. Schließlich gäbe es auch Nutznießer einer solchen Änderung der Diagnosesysteme: die Pharmaunternehmen. Sie würden gut daran verdienen, wenn die Zahl der sich in Behandlung begebenden Patienten deutlich ansteigen würde.
Mein Fazit
Über Depression aufzuklären und Unternehmen dazu zu bewegen, nachhaltiger mit ihren „Human Resources“ umzugehen, ist viel wichtiger, als über Burnout als neue Krankheit zu diskutieren.
© Christian Rupp 2013