Flug 4U9525: Hypothesen im Hinblick auf das scheinbar Unerklärliche

Auch wenn es ein ebenso trauriger wie tragischer Anlass ist, habe ich mich entschieden, den Absturz von Flug 4U9525 zum Anlass für einen neuen Blogartikel zu nehmen, nachdem über ein halbes Jahr berufsbedingte Funkstille herrschte. Dazu bewogen haben mich letztendlich die mehr als fragwürdigen Umstände, die gemäß der gestern veröffentlichten Ermittlungen zu dem Unglück geführt haben, und die damit verbundene Fassungslosigkeit bezüglich des Verhaltens des Copiloten.

Wie wir nun wissen, hat sehr wahrscheinlich der Copilot den Absturz der Maschine bewusst und vermutlich auch absichtlich herbeigeführt. Mit anderen Worten: Im Raum steht derzeit der begründete Verdacht, dass der Copilot sich selbst suizidiert und damit rund 150 unbeteiligte Menschen mit in den Tod gerissen hat. Dies ist für alle Beteiligten – und dabei beziehe ich mich neben den Angehörigen der Passagiere und Crewmitglieder auch auf die Familie des Copiloten – ein nur schwer nachzuvollziehender und noch schwerer zu akzeptierender Umstand, erzeugt er doch ein ungeheures Maß an Wut und Hilflosigkeit. Und hiermit verbunden ist (und auch dies ist absolut verständlich) immer auch relativ automatisch die Frage „Wie konnte so etwas passieren?“. Bei der großen Mehrzahl der Flugzeugunglücke richtet sich diese Frage auf technische Defizite, Sicherheitslücken und ggf. menschliches Versagen. Doch im Falle von Flug 4U9525 ist es anders: Hier richtet sich die Frage eher in die Richtung der fragwürdigen psychischen Verfassung des Copiloten, und ziemlich schnell wurden in den Medien auch die psychologischen Tests der Lufthansa aufs Korn genommen, die alle angehenden Piloten durchlaufen und bestehen müssen.

Typischerweise beinhalten diese Tests die Erfassung zentraler für die Tätigkeit als Pilot relevanten Persönlichkeitsmerkmale wie z.B. Stressresistenz, Gewissenhaftigkeit oder auch allgemeine Intelligenz. In der Tat hat insbesondere das Auswahlverfahren der Lufthansa einen sehr guten Ruf, und die Tatsache, dass möglicherweise nun erstmalig ein Kandidat „durchs Raster gefallen“ ist, spricht im Grunde eher für als gegen das psychologische Testverfahren, da es bisher offenbar ziemlich verlässlich in der Bewerberauswahl war. Dass psychologische Tests jedoch niemals eine 100% sichere Vorhersage über das spätere Verhalten eines Bewerbers machen können, liegt zum einen in den Eigenschaften psychologischer Tests per se begründet (hier und hier nachzulesen), zum anderen aber natürlich auch darin, dass sich Menschen im Laufe der Zeit verändern, wobei zum Zeitpunkt der psychologischen Untersuchung keinerlei Vorboten für solche (z.B. charakterlichen) Veränderungen erkennbar sein müssen. Doch was wären nun – auf Basis des aktuellen Erkenntnisstands – mögliche psychologische Erklärungen für das für die meisten so derart unfassbare Verhalten des Copiloten? Ich habe mir hierüber einige Gedanken gemacht und würde gerne einige Möglichkeiten näher erläutern. Bei den folgenden Darstellungen möchte ich allerdings noch einmal betonen, dass es sich hierbei um Erklärungsansätze handelt, die auf der Annahme beruhen, dass Ursache des Unglücks tatsächlich kein technisches Versagen, sondern die intentionale Handlung einer einzelnen Person war, die wiederum nicht im klassischen Sinne terroristisch motiviert war.

Möglichkeit 1: Psychose & Depression

Eine mögliche Erklärung für das durchaus „wahnsinnig“ anmutende Verhalten des Copiloten, ist, dass er tatsächlich unter einer akuten psychotischen Erkrankung wie der Schizophrenie oder aber einem verwandten Störungsbild wie beispielsweise einer schizoaffektiven oder einer wahnhaften Störung litt. Kennzeichnend für diese Gruppe von Störungsbildern sind im Wesentlichen der Verlust des Realitätsbezugs im Sinne einer Verkennung der Realität (Wahn) sowie Halluzinationen, die alle fünf Sinneskanäle betreffen können. Typisch für letzteres ist das Hören von Stimmen, die beispielsweise bestimmte Befehle erteilen. In Bezug auf Flug 4U9525 wäre also eine mögliche Erklärung für das Verhalten des Copiloten, dass er aufgrund eines akuten Wahns (Überzeugung, aus irgendeinem Grund das Flugzeug abstürzen lassen zu müssen) oder aufgrund von Stimmen, die ihm ebendies befohlen haben, entsprechend handelte. Hierdurch ließe sich auf jeden Fall das aus unseren Augen verantwortungslose Handeln erklären, da im Rahmen eines akuten psychotischen Zustands ein Hinterfragen der Wahninhalte und der Halluzinationen unmöglich wird – und somit auch die Übernahme einer anderen Perspektive wie z.B. der der Passagiere.

Es gibt jedoch mehrere Aspekte, die gegen diese Hypothese sprechen. Es gibt zwar den seltenen Fall, dass eine Schizophrenie oder eine wahnhafte Störung plötzlich und ohne „Vorwarnung“ (so genannte Prodromalsymptome) auftritt, doch es wäre dennoch mehr als ungewöhnlich. Denkbar wäre hier ggf. noch eine auf organische Ursachen (akute Erkrankungen des Gehirns wie z.B. eine Gehirnblutung) zurückgehende Psychose, jedoch sind auch diese vergleichsweise selten. Zudem gehen psychotische Erkrankungen in der Regel mit einer ziemlich allumfassenden Störung kognitiver Funktionen einher, d.h. mit zumeist derart starken Konzentrations- und Auffassungsstörungen, dass es eher unwahrscheinlich erscheint, dass ein solcher Zustand unbemerkt bleibt und ein Copilot so ins Cockpit gelangt. Dagegen spricht ferner das Alter des Copiloten, der meines Wissens nach 28 Jahre alt war – denn das typische Ersterkrankungsalter für psychotische Störungen liegt bei Männern ca. im Bereich zwischen dem 19. und 24. Lebensjahr. Auch für die Möglichkeit einer schweren Depression, die oft mit Suizidgedanken, -impulsen und -handlungen einhergeht, spricht aus meiner Sicht eher wenig, da auch diese in der Regel mit derart starken Symptomen wie Antriebsminderung und Konzentrationsschwäche einhergeht, dass das Ausüben des Pilotenberufs unmöglich wird. Zudem sind bei (reinen) Depressionen derart appellative Suizide (Erläuterung siehe unten) eher untypisch. Ähnliches gilt für den Fall, dass der Entschluss zum Suizid durch die Diagnose einer schweren und ggf. tödlich verlaufenden Erkrankung getroffen wird: Auch hier wäre es bei Vorliegen einer „gesunden“ Persönlichkeitsstruktur eher sehr ungewöhnlich, dass Unbeteiligte mit in den Tod gerissen werden.

Möglichkeit 2: Persönlichkeitsstörung

Die andere mögliche (psychologische) Erklärung für das Verhalten des Copiloten wäre, dass er an einer Persönlichkeitsstörung litt. Hierbei handelt es sich um tiefgreifende Störungen des menschlichen Interaktionsverhaltens vor dem Hintergrund einer extremen Ausprägung bestimmter Persönlichkeitsmerkmale, die in der Regel zu massiven Problemen zwischen der betroffenen Person und ihrer Umwelt führen (daher auch der eigentlich passendere Begriff der Beziehungsstörung). Kennzeichnend ist hierbei, dass Betroffene selbst eine Persönlichkeitsstörung meistens nicht als das eigentliche Problem sehen (man sagt daher, eine Persönlichkeitsstörung ist ich-synton) – in der Regel sehen Betroffene daher vorrangig die Schuld für ihre interaktionellen Probleme bei den Menschen in ihrer Umwelt.

Nun gibt es eine ganze Reihe verschiedener Persönlichkeitsstörungen, die sich am ehesten anhand des jeweiligen zwischenmenschlichen Motivs (bzw. Bedürfnisses) unterscheiden lassen, das die Betroffenen auf exzessive Weise und unter Anwendung problematischer Verhaltensweisen (z.B. Lügen, Manipulation, etc.) versuchen zu befriedigen. So könnte man z.B. sagen, dass bei der dependenten Persönlichkeitsstörung das Bedürfnis nach zwischenmenschlicher Nähe und bei der zwanghaften Persönlichkeitsstörung dasjenige nach Sicherheit und Verbindlichkeit in jeweils extremer Weise realisiert werden, wobei das, was die Störung zur Störung macht, die wachsenden negativen Konsequenzen und Einschränkungen sind, die die Person dadurch erleidet – und die (wenn überhaupt) meist den eigentlichen Grund für das Aufsuchen einer Behandlung darstellen.

Auf Basis der mir bekannten Umstände bzgl. des Absturzes der Germanwings-Maschine kämen aus meiner Sicht drei Persönlichkeitsstörungen in Frage. Zum einen ließe sich derart verantwortungsloses und im Grunde aggressives Verhalten durch eine antisoziale Persönlichkeitsstörung erklären, die u.a. auch durch einen Mangel an Empathie und Mitgefühl für die Opfer gekennzeichnet ist. Dagegen spricht allerdings erstens, dass Menschen mit antisozialer Persönlichkeitsstruktur in der Regel kaum einen Bildungsweg absolvieren, der schließlich zum Beruf des Piloten führt, und dass derartige Verhaltens- und Denkmuster in einer psychologischen Testung wie der der Lufthansa sehr wahrscheinlich aufgefallen wären. Zweitens spricht dagegen, dass Menschen mit antisozialer Persönlichkeitsstruktur zwar typischerweise anderen Menschen Schaden zufügen, jedoch kaum sich selbst, d.h. eher nicht den eigenen Tod mit in Kauf nehmen würden. In Frage käme darüber hinaus außerdem eine emotional-instabile Persönlichkeitsstörung (besser bekannt als Borderline-Störung), die durch eine Instabilität der Emotionen, Beziehungen und des Selbstbilds gekennzeichnet ist und mit Selbstverletzungen und Suizidversuchen einhergeht, die häufig appellativen Charakter haben, d.h. auf dramatische Weise die eigene Hilfsbedürftigkeit deutlich machen sollen. Hierzu würde zwar die Gestaltung des vermeintlichen Suizids des Copiloten passen, jedoch spricht hiergegen, dass Menschen mit emotional-instabiler Persönlichkeitsstörung selten in der Lage sind, ein so geordnetes Leben zu führen, dass sie eine Pilotenlaufbahn einschlagen und beibehalten können.

Hypothese: Appellativer Suizid nach narzisstischer Kränkung

Für die wahrscheinlichste Antwort auf die psychologische Frage nach dem „Warum“ halte ich eine narzisstische Persönlichkeitsstörung. Das zentrale zwischenmenschliche Motiv, um das sich Menschen mit dieser Art von Persönlichkeitsstörung unablässlich drehen, ist das nach Anerkennung und Bewunderung. Wie der bekannte Psychotherapeut Rainer Sachse herausstellte, ist das, worunter diese Menschen im Grunde leiden, ein unauflöslicher Konflikt zwischen einem sehr negativen Selbstkonzept („Ich bin ein inkompetenter Versager, der zu nichts in der Lage ist“) und einem übermäßig positiven Selbstkonzept („Ich bin sowieso der Beste, alle anderen sind nur neidisch auf mich“), das der Betroffene entwickelt, um das negative Selbstkonzept zu kompensieren. Dadurch – und vor dem Hintergrund des riesigen Bedürfnisses nach Bewunderung – erklären sich viele Verhaltensweisen von Narzissten. In der Regel haben sie eine Reihe von Größenphantasien im Kopf, die sich nicht selten darum drehen, wie sie im Mittelpunkt einer großen Menschenmenge stehen und als Gewinner  gefeiert werden. Menschen mit narzisstischer Persönlichkeitsstörung sind zudem meist äußerst wettkampforientiert und stabilisieren ihr positives Selbstkonzept häufig, indem sie andere Menschen massiv abwerten („Der kann doch nichts, der ist völlig inkompetent, der kann mir doch nie das Wasser reichen“). Kennzeichnend ist zudem ein Mangel an emotionaler Empathie (d.h. Narzissten können sich emotionale Zustände rational gut erschließen, emotional fühlen sie jedoch kaum mit) und eine damit zusammenhängende Tendenz zu manipulativem Verhalten, das letztendlich immer darauf abzielt, sich selbst in ein gutes Licht – und möglichst auch in den Mittelpunkt der kollektiven Aufmerksamkeit zu rücken. Vielleicht hat jetzt der ein oder andere Leser ein gewisses Aha-Erlebnis, weil er nun einen Begriff für manch eine Person hat, die ihn stets zur Weißglut treibt.

Das, was Menschen mit narzisstischer Persönlichkeitsstörung bisweilen unberechenbar und daher auch in einem gewissen Maß gefährlich macht, ist das, was passiert, wenn das positive Selbstbild durch Ereignisse in der Umwelt ins Wanken gebracht und das negative aktiviert wird – ein Prozess, der auch als narzisstische Kränkung bezeichnet wird. Diese kann aus unbeteiligter Sicht durch relative Lappalien ausgelöst werden, etwa durch eine vergleichsweise harmlose Kritik seitens eines Vorgesetzten, oder aber durch größere Einschnitte wie eine Kündigung oder eine vom Partner ausgesprochene Trennung. Nicht selten geraten Narzissten in diesem Moment wahrhaftig außer Kontrolle und versuchen, die Kränkung durch hasserfüllte Abwertung der Umwelt („Wie konnte das Miststück mir das nur antun?!“) und das Üben von Rache zu kompensieren. Letzteres ist das gefährlichste, denn Rache im Sinne eines Narzissten bedeutet, der Umwelt (und hierbei wird der Hass oft von der eigentlich verursachenden Person auf andere Menschen ausgeweitet) in dem Maße „wehzutun“, wie diese (in der subjektiven Sicht der gekränkten Person) auch ihm „wehgetan“ hat. Mit anderen Worten: Es ist möglich, dass ein derart gestrickter Mensch nach einer Kränkungserfahrung eine derartige Wut und einen solch ausgeprägten Hass entwickelt, dass diese sich schnell auf die gesamte Umwelt ausweiten („Die denken doch alle, sie könnten mit mir machen, was sie wollen – aber da haben die sich geschnitten“) und ein großes Bedürfnis nach Rache entsteht. Und eben diese Konstellation kann das zur Folge haben, was (wie oben schon angerissen) auch als appellativer oder demonstrativer Suizid bezeichnet wird – womit wir es übrigens auch häufig bei Amokläufen zu tun haben, denen nicht selten ebenfalls eine massive Kränkung des Täters vorausgeht, z.B. durch Mobbing. Werden (wie wahrscheinlich im Fall von Flug 4U9525) unbeteiligte Personen mit hineingezogen, spricht man zudem auch vom erweiterten Suizid oder vom Mitnahmesuizid.

Ein solcher appellativer Suizid beruht meist auf zwei Annahmen: Erstens, dass die gekränkte Person durch einen derart Aufmerksamkeit erregenden Tod der Welt „einen Denkzettel verpassen“ kann, da dieser somit vor Augen geführt wird, was sie der Person alles „angetan“ hat – und zweitens, dass sie durch das Mitreißen von im Grunde unbeteiligten Menschen zumindest zum Teil „Rache an der Menschheit“ nehmen kann, die sich gemäß der Wahrnehmung der gekränkten Person kollektiv gegen sie gerichtet hat. Mir ist bewusst, dass derartige Gedankengänge sehr erschreckend und beängstigend wirken können; dennoch sind sie ebenso Teil der Realität wie die Menschen, zu denen sie gehören. Das Gefährliche hieran ist dabei leider auch, dass Menschen mit narzisstischer Persönlichkeitsstörung häufig sehr gut darin sind, derartige Denkmuster zu verbergen, und sich oft nach außen hin sehr adäquat verhalten, was erklären könnte, dass entsprechende Persönlichkeitsmerkmale selbst in psychologischen Untersuchungen mitunter unentdeckt bleiben. Zudem ist es anders als bei den anderen beiden diskutierten Persönlichkeitsstörungen so, dass Betroffene in der Regel einen hohen Bildungserfolg aufweisen und so z.B. auch Zugang einer Pilotenausbildung erhalten.

Korrekterweise muss ich an dieser Stelle herausstellen, dass es sich bei dem, was ich im vergangenen Abschnitt beschrieben habe, um eine Extremform der narzisstischen Persönlichkeitsstörung handelt, die in der Mehrzahl der Fälle nicht zu derarzt verheerenden Handlungen führt wie soeben beschrieben. In Bezug auf das aktuelle Flugzeugunglück ist hierdurch jedoch eine mögliche Erklärung für das Verhalten des Copiloten von Flug 4U9525 gegeben, die mir auf Basis des aktuellen Erkenntnisstands und meines psychologischen Wissens zumindest plausibel erscheint. Ich erhebe dabei nicht den Anspruch, hiermit die richtige Erklärung gefunden zu haben. Mein Hauptanliegen hierbei ist, die Fassungslosigkeit der Menschen aufzugreifen und deutlich zu machen, wie es tatsächlich doch dazu kommen kann, dass Menschen in einer Art und Weise handeln, wie sie für die meisten von uns völlig unverständlich – und durchaus auch beängstigend ist.

 © Christian Rupp 2015