Autismus & das Asperger-Syndrom – Teil 2: Über die rätselhafte Zunahme der Häufigkeit und Autismus im Erwachsenenalter

Häufigkeit & Verlauf: Das Rätsel der wachsenden Diagnosenzahl

Was würden Sie schätzen, wie häufig der Autismus und das Asperger-Syndrom vorkommen? Nun, die Antwort hierauf ist stark abhängig vom Zeitpunkt, den man heranzieht. Aktuelle wissenschaftliche Schätzungen aus dem Jahr 2001 (Chakrabarti & Fombonne) gehen davon aus, dass etwa 0,63% aller Kinder zwischen 2 und 6 von einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung (als Oberbegriff für frühkindlichen Autismus und Asperger-Syndrom) betroffen sind, das entspricht 63 von 10000 Kindern. Davon entfallen 0,17% der Diagnosen auf den frühkindlichen Autismus (17 von 10000 Kindern), 0,08% auf das Asperger-Syndrom (8 von 10000 Kindern), und mehr als die Hälfte der Diagnosen aus dem Bereich der tiefgreifenden Entwicklungsstörungen entfällt auf die Kategorie „nicht näher bezeichnet“, d.h. es liegt eine tiefgreifende Entwicklungsstörung vor, die aber nicht genau einer der zwei Kategorien „Autismus“ oder „Asperger-Syndrom“ zugeordnet werden kann. Jungen sind dabei drei- bis viermal häufiger von frühkindlichem Autismus betroffen als Mädchen, beim Asperger-Syndrom kommen auf ein betroffenes Mädchen sogar 9 betroffene Jungen. Bei Mädchen zeigt sich im Gegenzug allerdings meist eine deutlich schwerere Symptomatik.

Der interessante Fund in Bezug auf die Häufigkeit tiefgreifender Entwicklungs-störungen ist nun, dass die Zahl der gestellten Diagnosen seit 1975 exponentiell angestiegen ist. Besagten Häufigkeitsschätzungen damals noch, dass ca. 1 von 5000 Kindern (= 0,02%) betroffen wären, nehmen aktuelle Schätzungen, wie gerade dargestellt, ca. das Dreißigfache an.

Wie kann man sich diesen Zuwachs erklären? Weintraub (2011) gibt einen guten Überblick über die möglichen Ursachen für diesen Befund, basierend auf diversen Studien, die den Erklärungsanteil verschiedener Faktoren untersucht haben. Hiernach lassen sich ca. 15% des Zuwachses dadurch erklären, dass die Aufmerksamkeit für diese Störungsbilder durch die intensive wissenschaftliche Forschung sowohl bei (Kinder)ärzten als auch bei Eltern und in der Allgemeinbevölkerung enorm zugenommen hat und hierdurch heute weniger betroffene Kinder „unentdeckt“ bleiben als früher.

Umgang mit der Diagnose

25%, so Weintraub, sind darauf zurückzuführen, dass die Diagnosen von Ärzten immer häufiger und auch früher vergeben werden, z.B. zusätzlich oder anstelle der Diagnose einer geistigen Behinderung oder dann, wenn eigentlich nur eine Verdachtsdiagnose angemessen wäre, weil mit der Diagnose einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung oft auch der Anspruch auf Therapie- und Frühförderungsmaßnahmen verbunden ist, der den betroffenen Kindern sonst nicht zustünde. Auch fällt hierunter, dass sich in den letzten Jahrzehnten die Kriterien, die für die Diagnose einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung erfüllt sein müssen, mehrfach deutlich verändert haben, und dass mit der Zeit immer bessere Möglichkeiten zur Stellung der Diagnose entwickelt wurden, z.B. der „ADOS“ (Abkürzung für „Autism Diagnostic Observation Schedule), ein standardisiertes psychologisches Testverfahren, welches sehr gut die relevanten Symptombereiche erfassen kann.

Ältere Eltern

Weitere 10% gehen nach Weintraub darauf zurück, dass das durchschnittliche Alter der Eltern in den letzten 35 Jahren stetig gestiegen ist: Heutzutage sind sowohl Mütter als auch Väter bei der Geburt des ersten Kindes im Durchschnitt deutlich älter als noch in den 1970er Jahren, und wie viele Studien zeigen, steigt sowohl mit dem Alter der Mutter als auch mit dem des Vaters das Risiko, dass das Kind von einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung betroffen ist.

Geographische Ballung

4% des Zuwachses führt Weintraub auf die skurril anmutende Tatsache zurück, dass in bestimmten Gegenden (ein prominentes Beispiel sind die Hollywood Hills) die Zahl der Diagnosen viel höher ausfällt als in anderen Regionen. Frühere Hypothesen gingen von Giftstoffen im Trinkwasser und ähnlichen Umweltfaktoren aus, diese gelten heute aber als eindeutig widerlegt. Sehr wahrscheinlich ist dieses Phänomen darauf zurückzuführen, dass, wenn in einer bestimmten Gegend durch Zufall eine höhere Zahl autistischer Kinder wohnt, dies eine Dynamik in Gang setzt, die dazu führt, dass zunehmend spezialisierte Kinderärzte in diese Gebiete ziehen und folglich sehr viel mehr Fälle von Autismus und dem Asperger-Syndrom entdeckt werden als in anderen Gegenden – sodass die Region an sich gar keine ursächliche Wirkung auf die Diagnosenzahl ausübt.

Der Rest: ungeklärt

Wichtig ist an Weintraubs Überblick der Befund, dass somit ca. 46% der Zunahme der Diagnosenhäufigkeit nicht erklärt werden können. Ob und inwiefern tatsächlich die „reale“ Zahl der betroffenen Kindern zugenommen hat und heute eben nicht nur mehr betroffene Kinder entdeckt werden, ist noch völlig ungeklärt. So ist es z.B. durchaus denkbar, dass bestimmte Veränderungen in der Umwelt, z.B. Ernährung, Schadstoffe, Lebensweise, etc. eine Rolle spielen. So wurden vor einigen Monaten z.B. in der New York Times einige Wissenschaftler zitiert, die glauben, die Zunahme der Diagnosen zumindest teilweise darauf zurückführen zu können, dass wir Menschen in immer sterileren Umgebungen leben (Sagrotan & Co. lassen grüßen). Autismus habe eine enge Verbindung mit Entzündungsherden im Mutterleib, da durch solche das Autismus-Risiko beim Kind stark erhöht werde. Diese Entzündungsherde kämen durch Autoimmunerkrankungen bzw. ein schwaches Immunsystem zustande, was letztendlich auf eine zu sterile Umgebung zurückzuführen sei, die die Entstehung eines intakten Immunsystems behindere. Diese Idee klingt auf den ersten Blick plausibel und prangert wunderbar die oft kritisierte „Hygieniker-Mutter“ des 21. Jahrhunderts (oder fairerweise den „Hygieniker-Vater“) an, ist aber meiner Meinung nach nicht umsonst in der wissenschaftlichen Gemeinschaft weitgehend unbeachtet geblieben, klammert sie doch zentrale Befunde wie die sehr hohe Erblichkeit der Störungsbilder weitgehend aus. Insgesamt muss man also sagen, dass eindeutige Befunde zu der Frage nach dem Einfluss von Umweltfaktoren bisher noch nicht vorliegen, sodass dieser Bereich in Zukunft noch intensiv beforscht werden wird.

Autismus im Erwachsenenalter

Als Leser werden Sie sich jetzt vielleicht fragen, warum immer nur von Kindern und Jugendlichen die Rede ist – zurecht. Dadurch dass auch in den Medien Autismus und das Asperger-Syndrom meist mit dem jüngsten Teil unserer Gesellschaft in Verbindung gebracht wird, entsteht leicht der Eindruck, dass Erwachsene nicht betroffen sind, was natürlich unlogisch ist, es sei denn autistische Kinder würden alle vorher sterben oder die Symptomatik würde sich „auswachsen“. Da beides nicht oder nur in geringem Ausmaß der Fall ist, gibt es selbstverständlich auch Erwachsene mit Autismus und dem Asperger-Syndrom, die, abhängig vom Schweregrad der Störung, mehr oder weniger gut in der Lage sind, ein eigenständiges Leben zu führen. Dementsprechend ist es, insbesondere wenn schon früh in der Kindheit mit Fördermaßnahmen begonnen wurde, durchaus möglich, dass Menschen mit high-functioning Autismus oder dem Asperger-Syndrom ein annähernd „normales“ Leben führen können, weil sie Dinge, die für uns selbstverständlich sind (z.B. Emotionen in Gesichtern zu lesen und somit soziale Situationen zu verstehen) durch Training mühsam gelernt haben. Genau so gibt es aber auch die Fälle, wo eine solche frühe Förderung nicht möglich oder wenig erfolgreich war (low-functioning Autismus) und wo die Betroffenen in betreuten Wohngruppen leben, weil sie durch ihre Symptomatik zu stark in der Lebensführung eingeschränkt sind. Dass die erwachsene Form dieser Störungsbilder bisher kaum Teil des gesellschaftlichen Bewusstseins ist, liegt wahrscheinlich auch daran, dass das Störungsbild bis vor 35 Jahren in der Bevölkerung nahezu unbekannt war und selten diagnostiziert wurde, sodass es derzeit noch nicht viele Fälle von Menschen gibt, bei denen damals bereits die Diagnose korrekt gestellt wurde.

Im dritten Teil geht es schließlich um die Frage nach dem Warum: Was weiß man über die Ursache von tiefgreifenden Entwicklungsstörungen? Welchen Beitrag leisten die Gene, welchen die Umwelt? Und worin unterscheidet sich das „autistische“ Gehirn von einem „nicht-autistischen“?

© Christian Rupp