Klinische Psychologie, Psychotherapie, Psychoanalyse: Wo gehört Freud nun hin?

Klinische Psychologie

Die Klinische Psychologie als Teilgebiet der Psychologie befasst sich (ebenso wie ihr medizinisches Pendant, die Psychiatrie) mit psychischen Störungen, aber auch mit den psychischen Einflüssen bei auf den ersten Blick rein körperlich bedingten Krankheiten, wie z.B. Kopf- und Rückenschmerzen oder dem Reizdarmsyndrom (wo psychischen und Verhaltensfaktoren eine große Bedeutung zukommt). Diese Richtung ist ganz eng verwandt mit dem medizinischen Fach der Psychosomatik, das sich ebenfalls dem Einfluss psychischer Faktoren auf körperliche Symptome widmet und Körper und Psyche schon lange nicht mehr als getrennte Einheiten, sondern als Bestandteile eines untrennbar miteinander verwobenen Systems betrachtet.

Die Klinische Psychologie ist somit eines der großen Anwendungsfächer im Psychologiestudium. Dass es nur eines von mehreren ist, möchte ich an dieser Stelle noch einmal ganz deutlich machen, denn in der Laiengesellschaft wird “Psychologie” oftmals mit “Klinischer Psychologie” gleichgesetzt bzw. auf diese reduziert. Konkret werden in der Klinischen Psychologie vor allem die Ursachen von psychischen Störungen erforscht und in Bezug auf die verschiedenen Störungen spezifische Modelle für deren Entstehung entwickelt. So werden z.B. in Längsschnittstudien (die die Versuchsteilnehmer über Jahre begleiten) Risikofaktoren (z.B. bestimmte Erlebnisse in der Kindheit, der Erziehungsstil der Eltern, kindliche Verhaltensstörungen, etc.) und Auslösefaktoren (z.B. stressreiche Lebensereignisse) für psychische Störungen erforscht. Ferner wird auch an großen Bevölkerungsstichproben die Häufigkeit psychischer Störungen und deren Verlauf (z.B. episodenweise oder chronisch) untersucht –  zusammengefasst wird dieser Bereich unter dem Begriff “Epidemiologie”. Ein weiteres Gebiet ist außerdem die Experimentelle Psychopathologie, die systematisch mit Hilfe typischer experimenteller Manipulationen Begleiterscheinungen (Korrelate) psychischer Störungen untersucht. Hierzu gehören z.B. die Befunde, dass schizophrene Patienten Beeinträchtigungen bei unbewussten, motorischen Lernprozessen (implizitem Sequenzlernen) aufweisen und ADHS-Patienten sich hinsichtlich bestimmter ereigniskorrelierter Potenziale wie der “P300” von gesunden Menschen unterscheiden. Befunde der experimentellen Psychopathologie tragen so auch dazu bei, die Ursachen psychischer Störungen besser zu verstehen, da sie Einsicht in Fehlfunktionen der Informationsverarbeitung und somit in “schief laufende” Gehirnprozesse ermöglichen.

Psychotherapie

Kognitive Verhaltenstherapie

Das für die Praxis relevanteste und wahrscheinlich inzwischen größte Teilgebiet der Klinischen Psychologie ist das der Psychotherapie. Hier werden einerseits, aus den Störungsmodellen abgeleitet, Psychotherapieverfahren (auch Interventionen genannt) entwickelt und andererseits diese im Rahmen kontrollierter Studien auf ihre Wirksamkeit überprüft (daher der Name Psychotherapieforschung). Die Formen von Psychotherapie, die sich aus der wissenschaftlichen Psychologie entwickelt haben und deren Wirksamkeit intensiv erforscht und belegt ist, werden heutzutage unter dem Sammelbegriff “Kognitive Verhaltenstherapie” (kurz KVT) zusammengefasst, die im deutschen Gesundheitssystem derweil nur als “Verhaltenstherapie” bezeichnet wird. Hierbei handelt es sich um eine sehr vielfältige Gruppe von erfolgreichen Verfahren, die darauf abzielen, psychische Störungen sowohl durch die Veränderung des Verhaltens, als auch durch die Veränderung kognitiver Strukturen (z.B. festgefahrener Gedankenmuster) zu behandeln. Die KVT ist dabei ein Therapieverfahren, das sich als Methode sowohl des therapeutischen Gesprächs als auch vieler Aktivitäten und Trainings zum Aufbau von Verhaltensweisen bedient, z.B. des Trainings sozialer Kompetenzen. Emotionen, wie z.B. die Traurigkeit oder Niedergeschlagenheit, die die Depression kennzeichnen, werden hierbei entweder als Konsequenz von Verhalten und Gedanken angesehen und indirekt beeinflusst oder aber in neueren Ansätzen auch direkt angegangen. So basiert die Emotionsfokussierte Therapie nach Greenberg z.B. unter anderem darauf, dass Emotionen intensiv durchlebt werden müssen, um sie zu bewältigen – ein Ansatz, den die Kognitive Verhaltenstherapie zuvor nur aus der Expositions- bzw. Konfrontationstherapie für Angststörungen kannte.

Gesprächspsychotherapie & Gestalttherapie

Neben der kognitiven Verhaltenstherapie gibt es eine zweite Richtung von Psychotherapie, die tatsächlich aus der Psychologie stammt, und das ist die humanistische Psychotherapie (auch klientenzentrierte oder Gesprächspsychotherapie genannt), die sich ausschließlich des Gesprächs bedient und dabei die Leitung des Gesprächs meist dem Patienten überlässt. Begründer dieser Therapierichtung war Carl Rogers, der als die drei Hauptwirkungsmechnismen der Therapie die empathische Grundhaltung und die bedingungslose Wertschätzung des Therapeuten dem Patienten (Rogers nennt ihn Klienten) gegenüber sowie die Echtheit des Therapeuten selbst beschreibt. Letzteres meint, dass der Therapeut sich dem Patienten gegenüber nicht verstellen, sondern authentisch verhalten soll. Ziel des Therapeuten ist es hierbei, dem Patienten keine Ratschläge zu geben, sondern die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass der Patient sein Problem selbst lösen kann. Eine Weiterentwicklung der Gesprächspsychotherapie nach Rogers ist übrigens die Gestalttherapie nach Perls, die sich allerdings in vielen Punkten von Rogers’ Vorgehen unterscheidet, z.B. darin, dass der Therapeut sehr viel mehr das Gespräch lenkt und auch konfrontativer vorgeht.

Obwohl die von Rogers vorgeschlagene Art der Psychotherapie nachgewiesenermaßen bereits beträchtliche Verbesserungen bewirken kann, ist sie insgesamt nicht so wirksam wie die Kognitive Verhaltenstherapie, in der aber grundsätzlich die Prinzipien der Gesprächsführung nach Rogers nach wie vor eine bedeutende Rolle spielen. An der Uni Münster z.B., wo ich studiere, gehört das praktische Erlernen dieser Gesprächsführungskompetenzen auch fest zum Psychologiestudium dazu, weshalb das Führen konstruktiver Gespräche und auch der Umgang mit schwierigen Gesprächssituationen im Prinzip auch eine Fähigkeit ist, die nahezu jeden Psychologen auszeichnen dürfte.

Psychoanalyse

Wie Sie vielleicht gemerkt haben, ist der Name “Freud” bisher nicht gefallen. Das liegt daran, dass ich bisher bewusst nur Psychotherapieformen beschrieben habe, die aus der Psychologie heraus entstanden sind. Freud derweil war Arzt, kein Psychologe, und daher auch keinesfalls der Begründer oder Vater der Psychologie. Er war dafür aber der Begründer der Psychoanalyse, der allerersten Form von Psychotherapie, die er vor über 100 Jahren entwickelte. Während man in der Gesprächspsychotherapie oder der Kognitiven Verhaltenstherapie als Patient dem Therapeuten gegenüber sitzt, legte Freud (und hier kehren wir zu dem Cliché schlechthin zurück) seine Patienten tatsächlich auf die Couch. Das hatte vor allem den Grund, dass Freud sich stark an der Hypnose orientierte, die damals schon bekannt und verbreitet war. Die klassische Psychoanalyse dauert sehr lange (mehrere Jahre bei mehreren Sitzungen pro Woche) und spült dem Therapeuten daher viel Geld in die Kasse. Während der Therapiesitzung liegt der Patient, während der Therapeut außerhalb des Sichtfeldes des Patienten sitzt und eine neutrale Person darstellt, die (ganz im Gegensatz zu Rogers Idee der Echtheit) nichts von sich selbst preisgibt. Während Patient und Therapeut sich in der KVT oder der Gesprächspsychotherapie auf Augenhöhe begegnen, steht der Psychoanalytiker hierarchisch über dem Patienten und hat die absolute Deutungshoheit über das, was der Patient sagt. Es handelt sich insgesamt um eine höchst unnatürliche Gesprächssituation, bei der der Therapeut das tut, was Psychologiestudierenden immer fälschlicherweise vorgeworfen wird: Er analysiert den Patienten bis in die tiefsten Tiefen und stellt dann irgendwann fest, was für ein Konflikt vorliegt.

Intrapsychische Konflikte und ganz viel Sex

Denn die Psychoanalyse erklärt psychische Störungen (ganz grob gesagt) durch intrapsychische Konflikte mit Ursache in der Kindheit, die dadurch geprägt sind, dass ein Bedürfnis oder Trieb (meist sexueller oder aggressiver Art), gesteuert vom so genannten Es, mit einer gesellschaftlichen Norm, repräsentiert durch das Über-ich, nicht vereinbar war oder ist. In der Gegenwart muss die aus diesem Konflikt resultierende Spannung durch irgendwelche ungünstigen Methoden abgewehrt werden, wodurch dann die Störung entsteht, die Freud als Neurose bezeichnet. Als Beispiel soll die Geschichte des “kleinen Hans” dienen, einer Fallbeschreibung Freuds vom einem kleinen Jungen mit der Angst vor Pferden. Laut Freud hatte der Junge den so genannten Ödipus-Konflikt nicht gelöst, der darin besteht, dass angeblich alle Jungen zwischen 4 und 6 Jahren sexuelles Verlangen (Es) nach ihrer Mutter verspüren, woraufhin sie aber, weil sie wissen, dass ihr Vater als Konkurrent stärker ist und das ganze auch irgendwie nicht so sein sollte (Über-Ich), Angst davor entwickeln, dass der Vater sie kastrieren wird (Kastrationsangst; hier erscheint mir die kleine Anmerkung nützlich, dass sich bei Freud eigentlich grundsätzlich alles um Sex dreht). Laut Freud entsteht das Symptom (die Angst vor Pferden) nun durch eine Verschiebung (einen von vielen verschiedenen Abwehrmechanismen) der Angst, die eigentlich auf den Vater gerichtet ist, auf Pferde. In der Fallbeschreibung wird übrigens auch kurz erwähnt, dass der kleine Hans kurz zuvor von einem Pferd getreten worden war. Aber warum sollte das schon relevant sein? Wäre ja eine viel zu naheliegende Erklärung.

Besserung ist nicht das Ziel

Sie können meinem Sarkasmus entnehmen, dass ich von dieser Therapieform nicht viel bis gar nichts halte, da sie sehr weitreichende und oft abstruse Annahmen macht, die durch keinerlei Befunde der Psychologie gestützt werden. Denn der Psychoanalyse mangelt es im Gegensatz zur Psychologie stark an Wissenschaftlichkeit: Ihr fehlt vor allem das Kriterium der Falsifizierbarkeit, was bedeutet, dass sie keine eindeutigen Aussagen liefert, die man derart überprüfen könnte, dass man je nach Ergebnis die Theorie entweder bestätigen oder verwerfen könnte. Mit anderen Worten. Zudem besitzt die Psychoanalyse die Fähigkeit, psychische Störungen zu verschlimmern, anstatt sie zu heilen. Wie schon der Psychologe Eysenck im Jahr 1952 in einer auf Krankenversicherungsdaten basierenden, zusammenfassenden Studie eindrucksvoll darlegt, liegt der Heilingserfolg der Psychoanalyse nahe 0 bzw. übersteigt nicht das, was durch Zufall zu erwarten wäre. Dies gab die Initialzündung dafür, dass vor ca. 60 Jahren immer mehr Psychotherapien tatsächlich innerhalb der wissenschaftlichen Psychologie entwickelt wurden und der Psychoanalyse zunehmend Konkurrenz machten. Der riesige Vorteil dieser neuen Verfahren war der, dass diese stets auf wissenschaftlichen Theorien basierten und die Wirksamkeitsüberprüfung im Selbstverständnis der Psychologen bereits fest verankert war. Seit damals hat sich die Psychoanalyse ziemlich stark gegen weitere Wirksamkeitsforschung gewehrt (wen wundert’s?), was aber auch auf einen wichtigen konzeptuellen Unterschied zu anderen Psychotherapieformen zurückzuführen ist: Anders als die Kognitive Verhaltenstherapie oder die Gesprächspsychotherapie verfolgt die Psychoanalyse auch gar nicht das Ziel, dass es dem Patienten am Ende besser geht, also sich die Symotome reduzieren. Das Ziel besteht darin, dem Patienten Einsicht in seine (vermeintlichen) intrapsychischen Konflikte zu geben, damit dieser sich selbst “besser verstehen” kann. Die Annahme ist, dass dies hinreichend zur Verbesserung ist. Die Realität sieht so aus, dass Patienten meist nach mehreren Jahren Analyse keinen Schritt weiter, sondern eher noch mehr belastet sind durch die Kenntnis über all die (angeblichen) ungelösten Konflikte, die sie mit sich herumtragen. An dieser Stelle sei der Unterschied zur KVT und zur Gesprächspsychotherapie noch einmal ganz deutlich gemacht: Diese Verfahren analysieren das Verhalten und Erleben des Patienten auch, aber auf andere Weise, als die Psychoanalyse es tut. Zum einen wird auf so bizarre Elemente wie den Ödipuskomplex, Kastrationsangst und intrapsychische Konflikte verzichtet, zum anderen orientiert sich die Analyse (von typischen, eingefahrenen Verhaltens- sowie Denkmustern) immer daran, was man in der Folge auch therapeutisch verändern kann, um eben nicht ewig auf der meist lange zurückliegenden Ursache der Störung herumzureiten, sondern nach vorne zu blicken und die Aufrechterhaltung der Störung zu durchbrechen.

Weiterentwicklung: Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie

Dass die Psychoanalyse, unter dem Label “Analytische Psychotherapie”, in Deutschland zu den Psychotherapieverfahren gehört, die von den Krankenkassen übernommen werden, liegt übrigens nicht etwa an ihrer wissenschaftlichen Basiertheit, sondern vor allem an der großen Lobby, die diese Richtung in Deutschland lange Zeit hatte. Die klassische Psychoanalyse ist heute nur noch sehr selten anzutreffen und ist hauptsächlich unter Ärzten (also hauptsächlich Psychiatern) noch relativ weit verbreitet, eben weil Freud selbst auch Arzt war. “Psychoanalyse” muss allerdings nicht zwangsweise bedeuten, dass die Lehre von Freud angewandt wird. Freud hatte viele Schüler, die im Laufe ihres Lebens ihre eigenen psychoanalytischen Theorien entwickelt und sich dabei größtenteils deutlich von Freuds Lehre distanziert haben – hierzu zählen z.B. Alfred Adler und Carl Gustav Jung. Abgesehen hiervon gibt es aber auch sehr moderne Weiterentwicklungen der Psychoanalyse, die unter dem Sammelbegriff der “Psychodynamischen Psychotherapie” oder der “Tiefenpsychologisch fundierten Therapie” (das ist der offizielle Name der Therapieform im deutschen Gesundheitssystem, die neben der Verhaltenstherapie und der Analytischen Psychotherapie von den Krankenkassen übernommen wird) zusammengefasst werden. Diese haben oft nur noch sehr rudimentäre Ähnlichkeit mit Freuds Ideen und sehen auch eine ganz andere, von mehr Empathie und Gleichberechtigung geprägte Interaktion zwischen Therapeut und Patient vor (unter anderem sitzt der Patient dem Therapeuten gegenüber und liegt nicht). Die Gemeinsamkeit beschränkt sich meist auf die Annahme von ungelösten Konflikten, die ihren Ursprung in der Kindheit haben. Im Gegensatz zur Psychoanalyse begnügt man sich aber nicht nur mit der Einsicht des Patienten, sondern strebt auch eine Veränderung an. In diesem Sinne sind viele moderne psychodynamische Therapieformen der KVT oder der Gesprächspsychotherapie zumindest oberflächlich gesehen recht ähnlich. Eine weitere Errungenschaft dieser weiterentwickelten Therapieform ist die Psychotherapieforschung, die die Wirksamkeit zumindest einiger dieser neuen Verfahren inzwischen belegt hat, was tvor allem auf einige manualisierte, psychodynamische Kurzzeittherapien zutrifft.

Die Begriffe noch einmal im Überblick

Um noch einmal die Begrifflichkeiten zusammenzufassen: Klinische Psychologen sind solche, die sich im Studium und in der darauf folgenden Berufstätigkeit auf psychische Störungen spezialisiert haben. Sie sind in der Regel Experten für das Erscheinungsbild und die Diagnostik psychischer Störungen und kennen sich mit den Ursachen aus. Auch von Psychotherapie haben sie normalerweise eine Menge Ahnung, dürfen diese aber nur im Rahmen einer postgradualen (d.h. nach dem Master- oder Diplomabschluss ansetzenden) Ausbildung zum Psychologischen Psychotherapeuten oder eben nach deren erfolgreichem Abschluss ausüben, d.h. nach Erteilung der Heilbefugnis (Approbation). Die meisten Klinischen Psychologen sind auch Psychotherapeuten, sodass sich eine große Überlappung ergibt. Psychotherapeuten können derweil entweder kognitiv-verhaltenstherapeutisch, psychoanalytisch, humanistisch oder systemisch (eine weitere, vor allem in der Kinder- und Familientherapie anzutreffende Richtung, auf deren Darstellung ich hier aus Sparsamkeitsgründen verzichtet habe) orientiert sein. Psychiater, die psychotherapeutisch tätig sind, haben derweil meist eine psychodynamische Orientierung.

Übrigens

Als Begründer der Psychologie als experimentell orientierte, empirische Wissenschaft wird Wilhelm Wundt (1832-1920) angesehen, der 1879 das erste “Institut für Experimentelle Psychologie” gründete, was oftmals als Geburtsstunde der Psychologie betrachtet wird. Wundt war sowohl durch die Physiologie als auch durch die Philosophie geprägt – was erklärt, dass die Psychologie bis heute mit beidem verwandt ist. Sigmund Freuds Verdienste habe ich derweil oben in Auszügen beschrieben. Was viele über ihn allerdings nicht wissen, ist, dass Freud stark kokainabhängig und ein extremer Kettenraucher war. Während er es zu Lebzeiten schaffte, vom Kokain loszukommen, blieb er bis zu seinem Tod stark nikotinabhängig und erkrankte vermutlich infolge dessen schwer an Kieferkrebs. Von dieser extrem qualvollen Erkrankung gezeichnet, setzte er 1939 im Londoner Exil (Freud war, obwohl atheistischer Religionskritiker, jüdischer Abstammung) seinem Leben ein Ende. So kann es eben leider auch enden. Und so endet auch die vierteilige Reihe von Artikeln darüber, was Psychologie ist und was nicht.

Depression – Teil 1: Modeerscheinung oder ernst zu nehmende Störung?

“Depression – wenn ich das schon höre! Die Leute müssen sich einfach mal mehr zusammenreißen, dann tut sich das von alleine!”

“Das sind doch die, die sich dann irgendwann vor die Schienen werfen!”

“Als ob das ne Krankheit wäre – mir geht‘s auch manchmal beschissen, und ich jammere nicht so rum.”

All das sind Vorurteile über die zweithäufigste aller psychischen Störungen – die Depression. Ich möchte gerne mit diesem Artikel dazu beitragen, über diese schwerwiegende Krankheit aufzuklären und so dazu beitragen, das Stigma ein wenig zu lösen, das auf ihr lastet. Gleichzeitig ist es mir ein Anliegen, deutlich zu machen, dass „Depression“ eine sehr spezifische Störung beschreibt, deren Diagnose ein genaues Nachfragen und weitere Diagnostik erfordert – und es sich nicht um eine diffuse Sammelkategorie für psychische Probleme handelt.

Die Depression ist die häufigste der so genannten Affektiven Störungen, d.h. Störungen, die die Stimmung und die Gefühlswelt betreffen. In diesem Artikel beschränke ich mich auf die so genannte Unipolare Depression (auch genannt: Major Depression) und klammere die weitaus selteneren Bipolaren Störungen aus, die sich durch eine Mischung aus depressiver und übersteigert guter Stimmung (Manie/Hypomanie) auszeichnen. Auch auf die Dysthyme Störung (grob gesagt: leichtere Form der Depression, die dafür aber über Jahre hinweg andauert) werde ich in diesem Beitrag nicht weiter eingehen, weil dies den Rahmen sprengen würde.

Häufigkeit & typischer Verlauf

Fakt ist: Das Risiko eines Menschen, in seinem gesamten Leben an einer Depression zu erkranken, liegt bei ca. 10-15 %. Das bedeutet: Von zehn Menschen in einem Raum wird durchschnittlich mindestens einer in seinem Leben eine depressive Episode durchlaufen. Von der Weltgesundheitsorganisation WHO wurde 1996 eine Studie durchgeführt, in der der das Ausmaß an Beeinträchtigung ermittelt wurde, das die verschiedenen „Volkskrankheiten“ bei den Betroffenen verursachen. Die Unipolare Depression rangierte mit großem Abstand auf Platz 1, gefolgt von Alkoholmissbrauch. Erst auf Platz 3 findet sich mit der Osteoarthritis eine organische Krankheit. Darüber hinaus ist Depression auch eine der tödlichsten Krankheiten. 10-15% der Betroffenen sterben durch Suizid; ca. 50% aller Suizide kann man auf Depression zurückführen. Der Grund, warum das alles so tragisch ist, ist, dass Depression eine so gut behandelbare Störung ist. Im Durchschnitt werden zwei Drittel der Erkrankten wieder völlig gesund, ein Drittel immerhin teilweise. 50% der Patienten erleben allerdings irgendwann in ihrem Leben eine erneute depressive Episode. Daran erkennt man schon: Depression ist eine phasenhaft verlaufende Störung, d.h., die depressive Symptomatik tritt in Form von Episoden auf, zwischen denen es den Betroffenen oft über viele Jahre, manchmal aber auch nur wenige Monate wieder gut und manchmal leider nur ein wenig besser geht (man spricht entsprechend von „Teil- oder Vollremission im Intervall“). Wenn jemand mindestens schon die zweite depressive Episode erlebt, lautet die Diagnose dann „Rezidivierende (= wiederkehrende) depressive Störung“.

Woran man eine Depression erkennt und warum man diese Diagnose niemals leichtfertig stellen sollte

Es ist sehr wichtig zu wissen, dass Depression mehr als nur Niedergeschlagenheit oder Traurigkeit ist. Es ist mehr als lediglich „schlechte Stimmung“. Und es gibt offizielle Diagnosekriterien, von denen eine bestimmte Anzahl (gemäß dem Diagnosesystem ICD-10 z. B. zwei Haupt- und zwei Nebensymptome) erfüllt sein müssen, damit man die Diagnose stellen kann. Und je nach Anzahl und Schwere der Symptomatik unterscheidet man dann eine leichte, mittelschwere oder schwere depressive Episode. Diesen Punkt betone ich deshalb so sehr, weil es leider im Gesundheitssystem zu häufig vorkommt, dass die Diagnose „Depressive Episode“ voreilig und mitunter leichtfertig gestellt wird, ohne dass man überhaupt ausreichend viele Fragen zu den Symptomen und deren Schwere und Dauer gestellt hat. Teilweise liegt das zumindest in der Ärzteschaft meiner Erfahrung nach daran, dass psychische Störungen im Medizinstudium sehr stiefmütterlich behandelt werden, was oft zum Ergebnis hat, dass bei den jungen Ärztinnen und Ärzten hängen bleibt: „Wenn der Patient was Psychisches berichtet, dann…‘Depression‘ aufschreiben“.

Jeder, der bei mir schon einmal ein Erstgespräch wegen einer depressiv anmutenden Symptomatik hatte, weiß, dass ich hier grundsätzlich sehr genau nachfrage. Und das hat gute Gründe: Erstens macht es einen Unterschied für die Behandlung, die sich nämlich an offiziellen Behandlungsleitlinien orientieren sollte. Bei Anpassungsstörungen (hiervon spricht man, wenn eine depressiv oder ängstlich anmutende Symptomatik besteht, die jedoch die Kriterien für eine Depression eben nicht erfüllt und in Reaktion auf ein besonders belastendes Ereignis entstand) oder leichten depressiven Episoden sollte man z. B. auf ein Antidepressivum (also ein Medikament) verzichten, während man bei einer schweren depressiven Episode unbedingt eines geben sollte. Zweitens hat diese Inflation der mitunter gar nicht gerechtfertigten Depressionsdiagnosen gravierende Folgen auf gesellschaftlicher Ebene. Zum einen ergibt sich, wenn bei psychischen Problemen zu wenig differenziert wird und voreilig eine gar nicht pathologische Problematik das Label „Depression“ erhält, fälschlicherweise in der Gesellschaft das Bild, quasi alles Psychische sei Depression. Das wiederum hat fatale Folgen für die Einstellung der Gesellschaft zu diesem Thema und nährt Vorurteile, wie ich sie am Anfang dieses Artikels aufgelistet habe – mit dem Ergebnis, dass die Menschen, die wirklich an einer Depression leiden, wiederum erst recht nicht ernst genommen werden. Zum anderen hat diese Entwicklung direkte Folgen für unseren Sozialstaat. Ja, eine mittelgradige depressive Episode ist eine super Diagnose für eine längere Krankschreibung, und ja, es ist „hilfreich“ für einen Antrag auf Schwerbehinderung oder Erwerbsminderungsrente, wenn man noch eine Depressionsdiagnose „oben drauf“ stellt. Aber man bedenke bitte auch, dass die Gesellschaft als Gesamtheit die Kosten dafür zahlt, wenn Behandler*innen ihren Patient*innen einen gut gemeinten Gefallen tun wollen. Und umgekehrt kommt es immer wieder bei gerade jungen Patient*innen vor, dass sie auf sehr unangenehme Weise die direkten negativen Folgen einer vorschnell gestellten Depressionsdiagnose zu spüren bekommen. Nämlich dann, wenn sie eine Berufsunfähigkeits- oder private Krankenversicherung abschließen oder verbeamtet werden wollen. Wenn dann der Hausarzt, als man mal vor fünf Jahren wegen Erschöpfung und ein paar diffusen Nebenbeschwerden bei ihm war, mal eben so in die Patientenakte eine mittelgradige depressive Episode eingetragen hat (und das habe ich leider viel zu oft erlebt), wird es bei vielen Versicherungen oder der Verbeamtung (die wollen nämlich oft alle Befunde der letzten 10 Jahre kennen) nämlich heißen: „Computer sagt Nein“. Ich vertrete den Standpunkt, dass all dies triftige Gründe sind, warum man lieber ein mal zu viel als einmal zu wenig nachfragen und zudem gut überlegen sollte, bevor man diese Diagnose stellt – denn es ist keine leichte, sondern eine schwerwiegende.

Was sind nun die Symptome einer Depression?

Die folgende Darstellung der Symptome einer Depression orientiert sich an der aktuellen Klassifikation psychischer Störungen der WHO, der so genannten ICD-10. In Deutschland sind alle Psychotherapeuten und Ärzte verpflichtet, ihre Diagnosen nach diesem System zu stellen.

Die drei Hauptsymptome der Depression:

  • Depressive (also dauerhaft niedergeschlagene) Verstimmung, bei schweren depressiven Episoden auch Gefühllosigkeit/Gefühl der inneren Leere
  • Verlust des Interesses an sonst als angenehm bewerteten Aktivitäten (z.B. Hobbies) und Verlust der Fähigkeit, Freude (oder auch andere Gefühle wie Trauer) zu empfinden
  • Antriebsmangel und Ermüdbarkeit bis hin zur Antriebshemmung, bei der es den Betroffenen kaum mehr gelingt, alltäglichen Routinen wie der Körperpflege nachzukommen

Zusatzsymptome der Depression:

  • Gesteigerter oder verminderter Appetit (typisch: vermindert, gleiches gilt für Veränderungen des Gewichts)
  • Vermehrter („Insomnie“) oder verminderter („Hypersomnie“) Schlaf, sowohl in Form von Ein- als auch Durchschlafstörungen
  • Psychomotorische Verlangsamung oder Agitiertheit (bedeutet: entweder ist der Patient stark verlangsamt und träge in allen seinen Handlungen oder er ist zappelig-unruhig und kann auch innerlich nicht zur Ruhe kommen)
  • Konzentrations- und Entscheidungsschwierigkeiten
  • Müdigkeits- und Erschöpfungsempfinden
  • Minderwertigkeitsgefühle und/oder (unangemessene) Schuldgefühle
  • Ins Negative verzerrtes Denken, z. B. eine pessimistische Sicht der Zukunft mit Hilf- und Hoffnungslosigkeitserleben, eine negativ-misstrauische Sicht auf andere Menschen und die Tendenz, immer vom Schlimmsten auszugehen
  • Suizidgedanken oder Suizidversuche

Um eine leichte depressive Episode diagnostizieren, müssen zwei Haupt- und zwei Zusatzsymptome erfüllt sein – und das bedeutet, dass sie über zwei Wochen am Stück (!) bestanden haben müssen. Allein an diesem Zeitkriterium würden viele der ungerechtfertigterweise gestellten Depressionsdiagnosen wahrscheinlich scheitern. Bei einer mittelgradigen Episode müssen zwei Haupt- und drei bis vier Zusatzsymptome vorliegen, bei einer schweren Episode drei Haupt- und fünf Zusatzsymptome. Ich glaube, es wird deutlich, wie aufwendig die Diagnosestellung wirklich ist, und dabei haben wir noch gar nicht darüber gesprochen, was vor der Diagnosestellung eigentlich alles ausgeschlossen werden sollte (die so genannte „Ausschluss- oder Differenzialdiagnostik“, siehe unten).

Es gibt noch weitere Symptome, die im Zuge einer Depression auftreten können, jedoch bewusst nicht bei den Symptomen gelistet werden, die die Depression definieren. Es gibt welche, die noch relativ spezifisch für Depression sind, und andere, die genau so gut im Rahmen einer anderen Störung auftreten können.

Spezifische weitere Symptome:

  • Grübeln, definiert als eine Art des gedanklichen Sich-im-Kreis-Drehens und zu verstehen als ein erfolgloser Versuch, ein Problem zu lösen
  • Frühmorgendliches Erwachen, d. h. deutlich früheres Erwachen als üblich
  • Morgentief: Die depressiven Symptome sind vormittags deutlich ausgeprägter als während des restlichen Tages

Eher unspezifische weitere Symptome:

  • Angstzustände bis hin zu Panikattacken
  • Schmerzen jeglicher Art
  • Körperliche Symptome wie Übelkeit, Zittern, Schwindel, etc. pp.

Das Problem mit diesen drei Symptomen ist folgendes: Sie werden oft, obwohl gar nicht genug Haupt- und Zusatzsymptome vorhanden sind, als Zeichen für eine versteckte (man sprach in der veralteten psychiatrischen Lehre von der „larvierten“) Depression gesehen. Es gibt Ärzte und teilweise auch Psychotherapeuten, die das bis heute so sehen und im Grunde meinen, das letztlich alles (außer Psychosen) Depression sei, die sich nur sehr unterschiedlich äußere. Der Meinung kann man sein, jedoch ist sie nicht mit dem aktuellen Stand der Wissenschaft zu vereinbaren. Eine gute Orientierung bietet folgende einfache Regel: Wenn eine ausreichende Anzahl depressiver Haupt- und Nebensymptome erfüllt ist und obendrein (und nur im Zuge der depressiven Phase, nicht außerhalb derer!) Ängste, Schmerzen oder andere Körpersymptome auftreten, so kann man davon ausgehen, dass diese wahrscheinlich mit durch die Depression bedingt sind. Panikattacken können Symptom einer Depression sein, und Depressionen können Körpersymptome oder Schmerzen verstärken und manchmal sogar verursachen. Wenn aber gar keine richtigen Depressionssymptome vorliegen, sondern nur Ängste, Schmerzen oder Körpersymptome, dann sollte man die Depressionsdiagnose verwerfen (ich weiß, es wäre anders so schön einfach) und über eine Angststörung oder somatoforme Störung nachdenken, denn die gibt es auch und man würde sie zumindest psychotherapeutisch anders behandeln als eine Depression.

Die Ausschlussdiagnostik: Das sollte vor der Diagnosestellung (eigentlich) alles überprüft werden

Bevor man eine Depression diagnostiziert, ist es wichtig, einige körperliche Ursachen für die vorliegenden Beschwerden auszuschließen. Das Problem: Es gibt diesbezüglich sehr viele Dinge. Das „eigentlich“ verweist deshalb auf den Umstand, dass es in unserem Gesundheitssystem kaum umsetzbar ist, wirklich alle Aspekte zu überprüfen. Wohlwissend, dass die Welt kein Ponyhof ist, wird meiner Meinung nach dennoch manchmal zu wenig an Ausschlussdiagnostik betrieben, und der Pat. wird vorschnell zum Psychotherapeuten geschickt. Im Folgenden findet sich eine sicherlich nicht vollständige Liste der Dinge, die man besser einmal untersuchen könnte, bevor im schlimmsten Fall ein Patient ungerechtfertigterweise das „Psycho“-Label und die entsprechende Überweisung bekommt:

  • Ist die depressive Symptomatik Folge des Konsums eines Rauschmittels (Alkohol, Drogen) oder die Nebenwirkung eines anderen Medikaments, z. B. eines blutdrucksenkenden Mittels (gerade bei älteren Menschen nicht selten)?
  • Ist die Depressivität Teil einer anderen übergeordneten Diagnose wie z.B. Demenz, Parkinson, etc., oder Folge einer Infektion, einer Herz-Kreislauf-Erkrankung, einer Immunerkrankung (z. B. Krebs, Allergien) oder einer hormonellen Störung (Diabetes, Wechseljahre bei Frauen)?
  • Im Blut sollte man folgende Parameter anschauen, die immer wieder sehr heiße Kandidaten für depressiv anmutende Symptome sind:
    • TSH, das Schilddrüsenhormon
    • Eisenwerte (durchaus auch inkl. des Ferritinwerts oder der Transferrinsättigung)
    • B-Vitamine, v. a. Vitamin B12 (oft leider eine IGEL, die selbst gezahlt werden muss)
    • Vitamin D3 (auch meist eine IGEL)
  • Liegt eine versteckte Fructoseintoleranz vor?

Ich verstehe, dass diese Ausschlussdiagnostik aufwendig ist, keine Frage. Aber der Nutzen wiegt hier meiner Meinung und Erfahrung nach die Kosten auf, denn allzu oft stellt sich heraus, dass Psychotherapie oder ein Antidepressivum eigentlich unnötig waren, und dann hat die Krankenkasse nicht nur unnötig Geld ausgegeben (und wir erinnern uns: das trifft alle, zumindest alle gesetzlich Versicherten), sondern ein Patient hat auch unnötigerweise gewaltige Strapazen auf sich genommen – dabei war z. B. einfach nur der Vitamin D-Wert im Keller.

Hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen Depressivität und Fructoseintoleranz bzw. allgemein zwischen psychischen und psychosomatischen Problematiken wie Depression oder auch dem Reizdarmsyndrom, dem Erleben von Stress und unserem Darm (d. h. dessen Nervensystem und dessen Darmflora, also der Gesamtheit der in ihm lebenden Bakterien) möchte ich darauf verweisen, dass die Forschung in diesem Bereich sehr spannend und vielversprechend, jedoch noch zu jung und zu wenig eindeutig ist, um schon konkrete Behandlungsmöglichkeiten daraus abzuleiten. Dinge wie Stuhltransplantationen oder die gezielte Einnahme förderlicher Bifido- und Milchsäurebakterien werden durchaus in verschiedenen Bereichen schon durchgeführt, jedoch sind sie noch unausgereift und wissen wir noch zu wenig darüber, welche Bakterien genau im Darm z. B. dabei helfen könnten, Depressivität oder die Symptome eines Reizdarmsyndroms zu lindern. So rasant, wie die Forschung dort voranschreitet, kann ich mir aber gut vorstellen, dass in 10-20 Jahren die Behandlung mit bestimmten „guten“ Bakterien eine etablierte Alternative oder Ergänzung zu Antidepressiva sein wird. Wer hier mehr wissen will, sollte unbedingt die überarbeitete und aktualisierte Ausgabe des Buchs “Darm mit Charme” der Gastroenterologin Giulia Enders lesen (v. a. das letzte Kapitel).

Und was ist nun „Burnout?“

Spätestens seitdem die No Angels sich getrennt haben, ist diese scheinbare Diagnose in aller Munde. „Ausgebrannt sein“, sich “ innerlich leer fühlen“, „total erschöpft und ausgelaugt“ sind dann typische Attribute, die im medialen Alltag gerne fallen. Von fachlicher Seite ist hierbei aber große Vorsicht geboten. „Burnout“ ist, anders als Depression, tatsächlich mehr ein Modebegriff als eine offizielle Diagnose. In keinem der aktuellen Diagnosesysteme taucht sie, wenn man einmal inhaltlich verwandte Begriffe wie die “Erschöpfungsdepression” außer Acht lässt, auf, und das aus gutem Grund: „Burnout“ ist von der Symptomatik her nicht eindeutig von einer (leichten) depressiven Episode zu trennen – denn wir erinnern uns: Müdigkeit und Erschöpfungserleben sind depressive Symptome (siehe oben). Anders gesagt: „Burnout“ ist im Grunde ein anderer Begriff für Depression und klingt etwas salonfähiger, was aber das Stigma auf Depression eher verstärkt als abmildert. Daher muss auch explizit davor gewarnt werden, einen scheinbaren „Burnout“ auf die leichte Schulter zu nehmen. Um es auf den Punkt zu bringen: Die „Erfindung“ dieses Syndroms ist deshalb kritisch zu bewerten, weil so die Gefahr wächst, dass eine manifeste Depression übersehen – und folglich falsch oder gar nicht behandelt wird. Einen ausführlichen Artikel zum Thema „Burnout“ finden Sie außerdem  hier.

Im zweiten Teil dieses Artikels wird es darum gehen, was die Ursachen einer Depression sind – und wie eine Depression behandelt werden kann.

© Dr. Christian Rupp 2020

Psychopath, Soziopath & Co: Unterschiede, Ursachen & Therapie

“Der ist doch ein Psychopath!” – Wer hat das nicht schon einmal gehört und dabei nicht das Bild eines gefährlichen, “irren” und skrupellosen Mannes im Kopf gehabt? Dabei sind die Begriffe “Psychopath” und “Soziopath” keineswegs Diagnosen, die sich in den etablierten Diagnosesystemen für psychische Störungen, dem DSM-IV (Diagnostisches und Statistisches Manual, vierte Auflage) und der ICD-10 (International Classification of Diseases, 10. Auflage) finden. Daran lässt sich bereits erkennen, dass über sie wenig Einigkeit herrscht.

Einordnung & Merkmale: Was ist was?

Trotzdem kann man die Begriffe einordnen. Psychopathie ist der Begriff, der früher in der Psychiatrie für das verwendet wurde, was man heutzutage als Persönlichkeitsstörung bezeichnet, d.h. als tiefgreifende psychische Störung, die das gesamte Verhalten der Person in sämtlichen Lebensbereichen beeinflusst, in der Jugend oder im frühen Erwachsenenalter beginnt und sich in erster Linie in interaktionellen, d.h. zwischenmenschlichen Problemen niederschlägt. Von den Persönlichkeitsstörungen gibt es – je nachdem, welches Beziehungsmotiv und welche entsprechenden fehlangepassten Verhaltensweisen dominieren – einen ganzen “Zoo”. Da wären z.B. die narzisstische, die histrionische, die zwanghafte, die selbstunsicher-vermeidende, die schizoide und die schizotype Persönlichkeitsstörung (nicht zu verwechseln mit der Schizophrenie, einer psychotischen Störung!) sowie die relativ bekannte Borderline-Persönlichkeitsstörung, die auch unter dem Namen “emotional instabile Persönlichkeitsstörung” bekannt ist. Und dann gibt es eben die antisoziale oder manchmal auch als dissoziale bezeichnete Persönlichkeitsstörung, deren Kernmerkmal in einem “tiefgreifenden Muster von Missachtung und Verletzung der Rechte anderer” (DSM-IV) besteht. Gekennzeichnet ist diese Störung z.B. dadurch, dass der betroffene Mensch sich nicht in soziale Gemeinschaften integrieren kann und andererseits auch geringes Interesse an sozialen Beziehungen hat, nicht die Perspektive anderer Menschen übernehmen kann (es bestehen Beeinträchtigungen bezüglich der sozio-emotionalen Kompetenz und der Theory of Mind), kein Gespür für angemessenes Vehalten in sozialen Situationen aufweist, oder aber bewusst anderen Menschen Schaden zufügt (z.B. durch Diebstahl oder Gewalt). Gesellschaftliche Normen werden meist ignoriert oder bewusst verletzt, es kommt zu verantwortungslosem Verhalten sich selbst und anderen gegenüber, und es besteht generell ein geringes Schuldbewusstsein. Lügen und Betrügen sind ebenso typische Verhaltensweisen wie aggressive Gewaltexzesse und impulsives, wenig vorausschauendes Verhalten. So, und eben diese Art von Persönlichkeitsstörung wird bisweilen auch als “Soziopathie” bezeichnet. Bestimmte psychiatrische Schulen der Vergangenheit prägten diesen Begriff, Eingang in DSM-IV und ICD-10 fand aber die antisoziale/dissoziale Persönlichkeitsstörung, die im Prinzip genau dasselbe beschreibt.

Antisoziale Denk- und Verhaltensmuster manifestieren sich meistens schon relativ früh in der Kindheit: So entwickelt besonders ein Großteil derjenigen Kinder, die schon vor dem 10. Lebensjahr eine Störung mit oppositionellem Trotzverhalten oder eine Störung des Sozialverhaltens aufweisen, im weiteren Entwicklungsverlauf eine antisoziale Persönlichkeitsstörung. Ähnlich häufig kommt es im Erwachsenenalter zu Abhängigkeitserkrankungen und aggressivem sowie delinquentem Verhalten, was gleichsam häufige Begleiterscheinungen der antisozialen Persönlichkeitsstörung sind, die übrigens deutlich häufiger bei Männern auftritt als bei Frauen.

Exkurs: “Weibliche” und “männliche” Gewalt

Einige Wissenschaftler zweifeln allerdings daran, dass aggressiv-antisoziales Verhalten bei Frauen tatsächlich seltener auftritt als bei Männern. Dies begründen sie damit, dass antisoziales Verhalten meist nur in Form der für Männer typischen körperlichen Gewaltakte (“draufhauen”) und Verhaltensweisen wie Diebstahl oder Lügen erfasst wird. Diese sind jedoch nur die eine Seite der Medaille. Die andere Seite sind die eher indirekten, aber keineswegs weniger folgeschweren Formen von Gewalt. Oft fallen in diesem Zusammenhang die Begriffe “soziale Gewalt” oder “relationale Gewalt”. Gemeint ist hiermit, dass dem Opfer nicht durch direkte körperliche Gewalt Schaden zugefügt wird, sondern über die soziale Gruppe. Hierzu gehören der soziale Ausschluss des Opfers, üble Nachrede (“Lästern”), verbale Beschimpfungen und öffentliche Demütigungen. Diese Form von Gewalt, ist, wie einige Studien belegen, unter Mädchen und Frauen sehr viel weiter verbreitet als unter Jungen und Männern. Daher bleibt die Frage offen, ob der scheinbare Häufigkeitsunterschied zwischen Männern und Frauen nicht eventuell einfach nur darauf zurückzuführen ist, dass in den Studien, die diesen Unterschied berichten, antisoziales Verhalten auf die “männliche Definition” reduziert wurde.

Um die oben beschriebenen Begrifflichkeitsprobleme noch zu verkomplizieren, findet sich z.B. leider in der ICD-10 zur Erläuterung der antisozialen Persönlichkeitsstörung der Begriff “psychopathisch”, sodass man leider zugeben muss, dass selbst die Fachliteratur die Begriffe “Soziopath” und “Psychopath” heutzutage nicht konsistent und manchmal durchaus gleichbedeutend verwendet. Übrigens: Man ersetzte im Fachsprachgebrauch deshalb “Psychopathie” durch “Persönlichkeitsstörung”, weil “Psychopath” inzwischen zu einem gern genutzten Schimpfwort verkommen ist und bevorzugt degradierend und stigmatisierend (für jemanden, der einem unberechenbar und “irre” vorkommt) verwendet wird – d.h. jenseits seiner eigentlichen Bedeutung.

Thema Ursache: Wie kann es dazu kommen?

Eine ebenso verständliche wie schwierig zu beantwortende Frage ist, wie Menschen sich zu derart unangenehmen Zeitgenossen entwickeln können. Basierend auf Forschungsbefunden lassen sich im Wesentlichen drei verschiedene Gruppen von Erklärungsmodellen unterscheiden, die meiner Einschätzung nach alle einen eigenständigen und plausiblen Beitrag zur Erklärung einer antisozialen Entwicklung leisten, also keineswegs so zu verstehen sind, dass sie einander ausschließen.

Neurowissenschaftliche und lerntheoretische Befunde: Grundlegende Defizite

Die neurowissenschaftliche Perspektive stellt, neben einigen Theorien, die einen Mangel an Serotonin (einem Neurotransmitter, der als wichtig für soziales Verhalten angesehen wird) vermuten, eine Fehlfunktion des Frontallappens (vorderster und evolutiv jüngster Teil des Gehirns) ins Zentrum. Er wird vor allem mit den so genannten exekutiven Funktionen in Verbindung gebracht, worunter u.a. die Ausrichtung der Aufmerksamkeit, das Filtern von Informationen in wichtige und unwichtige sowie (ganz zentral) die Kontrolle über die Initiierung und Hemmung von Verhalten fallen. Laut Blair (2011) besteht bei Personen mit antisozialer Persönlichkeitsstörung ein Defizit der Art, dass Handlungen nicht adäquat an Signale aus der Umwelt angepasst werden können und die für gesunde Menschen völlig natürliche Orientierung des Verhaltens an seinen Konsequenzen erschwert wird. Hinzu komme außerdem eine Veränderung des neuronalen Furchtsystems in der Form, dass Betroffene grundsätzlich deutlich weniger Furcht empfinden und somit negative Konsequenzen ihres Verhaltens nicht als ausreichend schwerwiegend wahrgenommen werden, um zukünftiges Verhalten zu beeinflussen. Zusätzlich bestehe ein Defizit der sozio-emotionalen Kompetenz, ausgehend von Befunden, die zeigen, dass Menschen mit antisozialer Persönlichkeitsstörung eine verringerte Reaktion auf emotionale Äußerungen anderer zeigen und eine deutliche Beeinträchtigung aufweisen bzgl. der Fähigkeit, bei anderen Menschen Emotionen zu identifizieren.

Zusammengenommen könnte dies z.B. erklären, warum Menschen mit antisozialer Persönlichkeitsstörung wenig vorausschauendes Verhalten zeigen, d.h. nur wenige Aspekte bei dessen Planung berücksichtigen. Zudem wird hierdurch klar, warum diese, völlig ungeachtet der Konsequenzen ihres Verhaltens (ich meine hier explizit auch schwerwiegende Konsequenzen wie Gefängnisstrafen), immer “weitermachen”. Die sozio-emotionalen Beeinträchtigungen können ferner als Erklärung für die “Kaltblütigkeit” und Skrupellosigkeit des Verhaltens herangezogen werden: Wo “gesunde” Menschen aus Mitleid mit bzw. Empathie gegenüber dem Opfer aufhören (z.B. weil das Opfer weint und um Gnade bittet), schlagen Menschen mit antisozialer Persönlichkeitsstörung eher noch weiter zu.

Die Frage bei diesen neurowissenschaftlichen Theorien ist immer die, ob die von ihnen postulierten Defizite als angeboren oder als durch Lernerfahrungen erworben angesehen werden. Von Haus aus haftet diesen Theorien meist eher die “angeboren”-Perspektive an, doch dieser Schluss ist keineswegs gerechtfertigt, da inzwischen vieles darauf hinweist, dass Lernerfahrungen hinsichtlich ihres Einflusses auf die Entwicklung psychischer Störungen lange Zeit eher unterschätzt wurden und weil mittlerweile klar geworden ist, dass Lernerfahrungen neuronale Prozesse ebenso beeinflussen können wie unsere Gene – und dass es in den allermeisten Fällen in der Tat eine komplexe Interaktion von Genen und Lernerfahrungen bzw. Umwelt ist (die so genannte Gen-Umwelt-Interaktion), die als Ursache einer Störung angesehen werden kann.

Persönlichkeitsmodelle: Kaltherzig oder dauerhaft unterstimuliert?

Bei den Persönlichkeitsmodellen gibt es zwei, die jeweils unterschiedliche – als weitgehend angeboren betrachtete – Persönlichkeitsmerkmale (traits) postulieren, die als Grundlage der antisozialen Persönlichkeitsstörung angesehen werden. Quay (1965) geht davon aus, dass Menschen mit antisozialer Persönlichkeitsstörung ein ungewöhnlich hohes Befürfnis nach Stimulation haben bzw. eine generelle Unterstimulation/ein geringes physiologisches Aktivierungsniveau aufweisen. Dies hat zur Folge, dass die betreffenden Menschen extrem riskantes Verhalten an den Tag legen, da nur dieses sie in einen angenehmen Aktivierungszustand versetzen, d.h. ihnen den “Kick” geben kann. Aufgrund des drängenden Bedürfnisses nach solcher Stimulation hat sich in diesem Kontext der Begriff sensation seeking eingebürgert. Funktionale, wenn auch nicht minder gefährliche Wege, dieses Bedürfnis zu befriedigen, sind z.B. entsprechende Sportarten wie Bungee Jumping, Fallschirmspringen, Wildwasser-Rafting, etc. Nicht funktionale Wege sind derweil aggressives Verhalten und kriminelle Handlungen, wie sie bei der antisozialen Persönlichkeitsstörung auftreten.

Frick (1998) beschreibt derweil eine andere Charaktereigenschaft als Basis der antisozialen Persönlichkeitsstörung, und zwar den callous trait (callous = abgestumpft/gleichgültig), der auch als unemotional trait bezeichnet wird. Gemeint ist hiermit etwas, das bereits bei den neurowissenschaftlichen Theorien angeklungen ist, nämlich eine generelle Abwesenheit von Empathie und einem grundlegenden Schuldempfinden.

“Schwieriges” Temperament

Eine weitere Perspektive betrifft die der frühkindlichen Temperamentseigenschaften, die – im Gegensatz zu den sich erst deutlich später herausbildenden Persönlichkeitseigenschaften – als größtenteils angeboren und durch grundlegende physiologische Prozesse bestimmt angesehen werden. Daher sind diese auch bereits im Säuglingsalter ersichtlich und zeigen sich z.B. dadurch, wie häufig und intensiv das Kind negative (Schreien, Weinen, generelle Unzufriedenheit) oder auch positive Emotionen (Lächeln, Freude am Spiel) äußert, wie regelmäßig sein Schlaf-Wach-Rhythmus ist, wie regelmäßig es Hunger verspürt und ob es fremden Situationen gegenüber eher gehemmt ist oder ihnen offenherzig begegnet. Es gilt inzwischen als relativ gut belegt, dass diese Eigenschaften weitgehend angeboren sind – und dass die weitere Entwicklung der Persönlichkeit des Kindes bzw. einer psychischen Störung in der Folge vor allem davon abhängt, wie angemessen Eltern auf das Temperament des Kindes reagieren können und in der Lage sind, dessen Emotionsausbrüche zu regulieren. Das heißt, auch hier haben wir es mit einer ganz klassischen Gen-Umwelt-Interaktion zu tun: Eltern eines Kindes mit einem “schwierigen Temperament” (gekennzeichnet u.a. durch viel negative Emotionalität, gehemmtes Annäherungsverhalten in fremdartigen Situationen und unregelmäßige biologische Rhyhtmen) haben es sicherlich in der Erziehung schwerer und müssen sich sicherlich viele tolle “Ratschläge” von anderen Eltern anhören, aber ihr Kind ist aufgrund seines Temperaments sicherlich nicht automatisch zum Scheitern oder gar zu einer psychischen Störung verurteilt.

Umwelteinflüsse: Gewalt in der Kindheit & Co.

Im Abschnitt über neurowissenschaftliche Theorien hatte ich schon einige lerntheoretische Aspekte genannt, dennoch möchte ich hier noch einen Abschnitt den Umwelterfahrungen, d.h. vor allem den Lernerfahrungen in der Kindheit, widmen. Es ist einerseits eine Binsenweisheit, dass Kinder von Eltern, die Gewalt anwenden, überzufällig häufig (was heißt: keineswegs immer!) auch Gewalt gegenüber ihren eigenen Kindern und anderen Menschen anwenden, andererseits ist dies tatsächlich auch wissenschaftlich belegt worden. Dies erklärt sich dadurch, dass Kinder natürlich am Modell ihrer Eltern lernen, dass man sich mittels Gewalt durchsetzt, Probleme löst und sich somit Respekt durch “Gefürchtetwerden” verschafft – mit anderen Worten: Sie erlernen gewaltsames Verhalten als Bewältigungsstrategie. Es besteht aber noch ein weiterer Zuammenhang: So wird von vielen Forschern postuliert, dass Kinder, die häufig körperliche Gewalterfahrungen machen, in gewisser Weise “abgehärtet” werden. Da sie so unempfindlicher für entsprechende Schmerzen werden, sinkt somit die Hemmschwelle, selbst auch Gewalt gegen andere anzuwenden.

Natürlich aber können Gewalt bzw. aggressives Verhalten von Seiten der Umwelt auch direkt verstärkt, d.h. belohnt, werden. Dies ist bei Kindern z.B. dann der Fall, wenn sie durch aggressive Wutausbrüche  bei ihren Eltern immer wieder ihr Ziel erreichen (“ihren Willen bekommen”) – ebenso wie wenn Eltern solchen Wutausbrüchen tatenlos zusehen, da das Kind auf diese Weise lernt, dass solches Verhalten akzeptiert wird. Ähnlich verhält es sich mit Lernprozessen im weiteren Leben, wenn das Kind oder der Jugendliche z.B. innerhalb von Gleichaltrigengruppen die Erfahrung macht, dass es oder er sich durch antisoziales Verhalten Vorteile (z.B. Respekt der anderen, erpresstes Geld, keinerlei Bedrohung, etc.) verschaffen kann. Das Endergebnis ist immer dasselbe: Das antisoziale Verhalten wird bestärkt und aufrecht erhalten.

Therapie: Resignation oder Hoffnung?

Man muss es offen zugeben: Im Allgemeinen besteht größtenteils Pessimismus bezüglich der Behandlung dieser Form von Persönlichkeitsstörung. Auch wenn es in den letzten 10-20 Jahren enorme Fortschritte hinsichtlich der Behandlung von Persönlichkeitsstörungen gegeben hat (nicht zuletzt durch die Schematherapie nach Young und, vor allem im deutschsprachigen Raum, durch die Klärungsorientierte Therapie nach Sachse), ist die Bilanz bei der antisozialen Persönlichkeitsstörung eher mager.

Dies ist jedoch wenig überraschend, wenn man einmal die Umstände berücksichtigt, unter denen hier in der Regel Therapie stattfindet. Da die Betroffenen in aller Regel keine eigene Motivation besitzen, sich in Behandlung zu begeben (weil das Problem, wenn es überhaupt ein Problembewusstsein gibt, grundsätzlich bei anderen Menschen verortet wird), findet die Therapie erst dann statt, wenn es im Grunde schon “zu spät” ist, d.h. wenn die Betreffenden sich im Strafvollzug befinden und die Therapie im Rahmen dessen unter Zwang stattfindet. Dies sind, psychotherapeutisch und motivationspsychologisch betrachtet, die denkbar ungünstigsten Voraussetzungen für nachhaltige therapeutische Veränderung. Hinzu kommt, dass zum aktuellen Zeitpunkt keine evidenzbasierten Behandlungsmethoden vorliegen und es auch keine “Standardtherapie” gibt.

Lichtblick

2002 veröffentlichte Salekin allerdings eine Metaanalyse, die unerwarteten Optimismus weckte. Sie fasste die Ergebnisse von über 30 Studien mit insgesamt über 800 Patienten zusammen, die mit unterschiedlichsten Therapiemethoden (von Psychoanalyse bis zu kognitiver Verhaltenstherapie war alles dabei) behandelt worden waren. Tatsächlich ergaben sich hier Erfolgsraten (d.h. Anteil der Patienten, die durch die Behandlung eine deutliche Veränderung erlebten) zwischen 17 und 88%, was deutlich mehr ist, als man erwartet hätte.

Festzuhalten bleibt dennoch, dass es sich bei der antisozialen Persönlichkeitsstörung um eine sehr schwerwiegende, schwer behandelbare und – im Gegensatz zu anderen psychischen Störungen – vor allem für das Umfeld der Person (bzw. für die gesamte Gesellschaft) nicht ungefährliche und sehr beeinträchtigende Störung handelt.

© Christian Rupp 2014