Typische Missverständnisse rund um die Psychotherapie – Teil 3: „Psychotherapie ist was für jeden“

Man könnte meinen, im ländlich geprägten Herzen Schleswig-Holsteins, wo ich praktiziere, wäre es noch erforderlich, Werbung für Psychotherapie zu machen, um die Menschen zu erreichen. Weit gefehlt – das Gegenteil ist der Fall. Pro Woche melden sich in meiner Praxis rund 25 Menschen und fragen nach einem Termin. An regelmäßigen wöchentlichen Therapieplätzen kann ich ca. 30 bieten, dazu im Schnitt zwei Erstgespräche pro Woche im Rahmen der Psychotherapeutischen Sprechstunde. Eine Kurzzeittherapie dauert ca. ein halbes Jahr. Man muss kein Mathematiker sein, um zu begreifen, dass die Gleichung nicht aufgeht. Die Konsequenzen daraus sind leider hart und beinhalten 1) lange Wartezeiten und 2) die Notwendigkeit, relativ früh schon eine Selektion durchzuführen. Grundlage dieser Selektion ist unter anderem der wichtige, aber selten kommunizierte Umstand, dass Psychotherapie eben nicht „etwas für jeden“ ist. Auf Basis des in Teil 2 beschriebenen Missverständnisses, beim Psychotherapeuten würde man „einfach mal reden“, hält sich in der Bevölkerung, aber auch in der Ärzteschaft teilweise hartnäckig der Irrtum, jede Patientin mit psychischen Problemen sei für eine Psychotherapie geeignet. Doch worin besteht der Irrtum? Er besteht darin, dass eine ganze Menge Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit eine Psychotherapie tatsächlich eine sinnvollen Behandlungsmaßnahme darstellt (oder, wie man sagt, damit die Indikation für eine Psychotherapie gegeben ist). Das Problem: Viele dieser Voraussetzungen werden nicht oder zu wenig beachtet. Und das ist ein Problem in einer Welt, in der Psychotherapie ein knappes Gut ist, denn allzu oft wird sie daher Menschen angeboten, bei denen sie gar nichts bringen kann, während die wirklich Bedürftigen auf der Strecke bleiben. Im Folgenden werde ich die wichtigsten Voraussetzungen kurz beschreiben.

Vorhandensein einer Diagnose

Vielen Menschen ist nicht klar, dass Psychotherapie die (Heil-)Behandlung von Störungen mit Krankheitswert bedeutet (siehe Teil 1). Das bedeutet, es muss eine im Diagnosesystem namens ICD-10 beschriebene psychische Störung, z. B. eine depressive Episode oder eine Angststörung, vorliegen. Insbesondere bei analytischen Psychotherapeuten (die auf Basis der Psychoanalyse arbeiten) finden sich teils aber noch Diagnosen, die überhaupt nicht in diesem verbindlichen Diagnosesystem stehen, z. B. solche Dinge wie „Ödipale Fixierung“ oder „Versorgungs-Autarkie-Konflikt“. Beides sind Begriffe, die aus der psychoanalytischen Theorie heraus die vorhandene Problematik einordnen und labeln – anders als das Diagnosesystem ICD-10 sind diese Beschreibungen aber eben nicht objektiv und für alle Therapieschulen gleichermaßen gültig.

Ähnliches gilt für den meiner Wahrnehmung nach inzwischen inflationär verwendeten Begriff des „Traumas“. Sicherlich kann man darüber diskutieren, ob ein Diagnosesystem wie das ICD-10 sich anmaßen darf, zu definieren, was ein Trauma ist und was nicht (was das ICD-10 tut), aber eines ist klar: Ein Trauma per se ist keine psychische Störung. Viele Menschen haben Traumata erlebt, aber nur ein kleiner Teil davon entwickelt im Verlauf des Lebens Traumafolgestörungen wie eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), eine Depression oder Angststörungen. Letztere stellen tatsächlich psychische Störungen dar – und somit eine Indikation für eine Psychotherapie, das Vorhandensein eines Traumas alleine aber nicht.

Hinzu kommt: Selbst wenn eine Diagnose vorliegt, ist bei Weitem nicht jede psychische Störung ein Anlass für Psychotherapie. Dies ist z. B. gemäß den geltenden Behandlungsleitlinien, die für psychische Störungen ebenso wie für körperliche Erkrankungen konkrete Behandlungsempfehlungen geben, bei akuter Schizophrenie oder einer Suchterkrankung der Fall – hier kommt ambulante Psychotherapie, wenn überhaupt, erst deutlich später im Verlauf ins Spiel.

Nicht oft, aber ab und zu erlebe ich es in Erstgesprächen, dass der Patient zwar Psychotherapie machen will, aber beim besten Willen für keine psychische Störung die diagnostischen Kriterien erfüllt sind. Manche freuen sich, wenn ich ihnen dies mitteile, andere sind beleidigt oder fallen zumindest aus allen Wolken. Wenn keine psychische Störung, aber ein greifbares Problem (z. B. Konflikte am Arbeitsplatz oder biographische Konflikte) vorliegt, kann man dies natürlich auch mit entsprechenden Methoden bearbeiten. Dies wäre dann jedoch per Definition keine Psychotherapie, sondern Coaching – und dafür zahlt (verständlicherweise) keine Krankenversicherung, wenn keine Krankheit vorliegt. Psychotherapie darf nach aktuell geltenden Gesetzen nämlich nicht prophylaktisch eingesetzt werden, um einer psychischen Störung vorzubeugen. Darüber, wie sinnvoll das ist, kann man allerdings definitiv diskutieren, wie ich finde.

Kognitive Fähigkeiten

Psychotherapie ist geistig anspruchsvolle Arbeit – für beide Seiten. Wenn, z. B. aufgrund einer hirnorganischen Erkrankung wie einer Demenz, kognitive Fähigkeiten wie das Denken, das Erinnern oder die Fähigkeit, die Inhalte der Sitzung in den Alltag zu übertragen und dort anzuwenden, zu stark beeinträchtigt sind, kann eine Psychotherapie nicht wirken und wird obendrein zu einem unbefriedigenden Erlebnis für den Patienten (und die Therapeutin). Eine gute Alternative stellt in solchen Fällen oft eine Sozio- oder Ergotherapie dar, die wiederum ein Psychotherapeut, aber auch eine Hausärztin oder ein anderer Facharzt verordnen kann.

Introspektionsfähigkeit

Hinter diesem wunderbaren Begriff verbirgt sich die Fähigkeit eines Menschen, in sein Innenleben hineinzuschauen, d. h. über seine Gefühle und Gedanken Auskunft zu geben. Manchmal begegne ich der impliziten Annahme, Psychotherapie sei dazu da, Introspektionsfähigkeit zu schaffen. Dem ist nicht so: Sie ist eine notwendige Voraussetzung dafür, dass sie gelingen kann. Stellen Sie sich einmal eine 50-minütige Sitzung vor, in der die Psychotherapeutin sich abmüht, die Patientin auf den unterschiedlichsten Wegen zu fragen, was sie in bestimmten Situationen denkt oder fühlt und warum sie bestimmte Dinge tut – und die Antwort der Patientin ist jedes Mal „Weiß nicht“ oder „Keine Ahnung“. Ich sage es Ihnen: Am Ende werden es für beide Seiten die frustrierendsten 50 Minuten des Tages gewesen sein.

Änderungsmotivation UND “cOMPLIANCE”

Eine Psychotherapie funktioniert und wird wirksam, wenn Psychotherapeutin und Patient gemeinsam am selben Ziel arbeiten, nämlich daran, dass es dem Patienten besser geht bzw. sich etwas an einem Problem verändert. Änderungsmotivation ist aber bei Weitem nicht automatisch gegeben, nur weil eine Diagnose besteht und der Patient unter den Beschwerden leidet. Wann immer, ob bewusst oder unbewusst, es Dinge im Patienten gibt, die einer Veränderung entgegenstehen, wird das Unterfangen schwierig. Zum einen liegt dies oft daran, dass Patienten nicht aus eigener Motivation einen Psychotherapeuten aufsuchen, sondern weil das Umfeld (Partnerin, Kind, Eltern, Hausarzt, Freundin) ihnen gesagt hat, sie sollten das tun. Natürlich gibt es auch die Personen, die bei der Psychotherapeutin gerne einfach mal jammern und sich darüber aufregen wollen, wie gemein und blöd der Rest der Menschheit ist. Tatsächlich war einmal der erste Satz eines Patienten im Erstgespräch bei mir: „Ich bin hier, weil ich die Schnauze voll habe, ständig was an mir zu ändern“ (Genau, es wurde keine Behandlung hieraus).

Zum anderen liegt es daran, dass psychische Probleme allzu oft „versteckte Vorteile“, oder wie wir auch sagen, „Funktionen“ haben. Nicht selten sind es genau diese Funktionen, die eine Störung am Leben halten – ein Aspekt, den am ehesten die Systemische Therapie in ihrer Denkweise aufgreift. Diese Funktionen können der Person bewusst, völlig unbewusst oder irgendwo dazwischen sein. So kann z. B. einer Agoraphobie, bei der eine betroffene Person aus Angst nicht mehr das Haus verlässt, mit der Zeit die Funktion zukommen, sich die Zuneigung der Menschen im eigenen Umfeld zu sichern und diese an sich zu binden. Ein Verlust der Agoraphobie würde also mit dem Risiko einhergehen, Zuneigung und Bindung einzubüßen, weshalb die ansonsten sehr wirksame Expositionstherapie hier mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nichts bringen wird. Andere Funktionen bestehen z. B. darin, dass die Person durch die Störung, z. B. eine Depression, andere große Probleme, z. B. einen ungelösten Paarkonflikt, vermeiden kann. Und bei Anorexie (Magersucht) besteht die oft übersehene Funktion sehr häufig darin, in einem von Fremdbestimmung geprägten Elternhaus Autonomie zu erlangen. Manche Funktionen kann man rechtzeitig entdecken und auflösen, aber generell stellen sie immer einen Faktor dar, der die Behandlung erschwert und die Prognose verschlechtert – besonders, wenn Patienten sie nicht erkennen (wollen).

Eine besondere Form der Funktion (ebenfalls irgendwo zwischen bewusst und unbewusst) liegt vor, wenn an das Fortbestehen der psychischen Störung ganz konkrete Vorteile geknüpft sind, wie dies beispielsweise bei einer länger bestehenden Arbeitsunfähigkeit, einer beantragten Erwerbsminderungsrente oder einem Grad der Behinderung der Fall ist. In allen Fällen bringt das Fortbestehen der Problematik Entlastung oder Vorteile, was mit dem Ziel einer Psychotherapie, den Zustand zu verbessern (und so natürlich auch Arbeitsfähigkeit wieder herzustellen oder weniger „behindert“ zu sein) natürlich nicht vereinbar ist. So sehr dies offensichtlich auf der Hand liegt, so wenig berücksichtigen das viele Patientinnen. Der einen Gruppe von Patientinnen, die hierüber vielleicht einfach nicht genug nachgedacht hat, kann ich das noch verzeihen. Aber bei der anderen Gruppe, die zu mir ins Erstgespräch kommt und als Anliegen formuliert, dass ich ihnen bitte eine (nicht bestehende) psychische Diagnose attestieren soll, damit sie in Rente gehen können, weil sie „keine Lust mehr haben“, ist eine rote Linie überschritten. Diesen Menschen sei gesagt, dass Rente 1) aus einem Topf bezahlt wird, in den (fast) alle Bundesbürger einzahlen und aus dem man sich nicht einfach bedienen kann und 2) für die Menschen gedacht ist, die wirklich nicht mehr arbeiten können – nicht für die, die von ihrem Arbeitgeber die Nase voll haben und „entschieden“ haben, dass sie keine Lust mehr auf Arbeit haben.

Mann kann daher ein Rentenbegehren, wenn es auf der Basis psychischer Probleme fußt, durchaus als Kontraindikation für eine Psychotherapie ansehen. Tatsächlich haben wissenschaftliche Studien gezeigt, dass Rentenbegehren bei z. B. Depressionen eher wenig zur Gesundung, sondern (im Gegenteil) massiv zu einer Chronifizierung beitragen, und zwar über die angestrebte Berentung hinaus. Zum einen liegt dies an der beschriebenen Funktion, die sich leider oft über die Berentung hinaus verselbstständigt, zum anderen am Dauerstress, den im Kontext eines Rentenbegehrens der typische „Krieg“ mit der Deutschen Rentenversicherung (Ablehnungen, Widersprüche, Klage, Gerichtsverfahren, mehrere Gutachten…) mit sich bringt.

Unabhängig davon, ob und warum die Änderungsmotivation zu gering ist, um die Therapie zum Erfolg zu führen, ist in Verbindung mit der Änderungsmotivation auch immer die so genannte Compliance mit heranzuziehen, wenn es darum geht, zu beurteilen, ob eine Psychotherapie gerade sinnvoll ist oder nicht. Gemeint ist hiermit, salopp übersetzt, wie gut der Patient in der Therapie “mitmacht”, also ob er zu den vereinbarten Sitzungen pünktlich erscheint, die therapeutischen Hausaufgaben erledigt, Gesprächsthemen in die Sitzungen mitbringt und das in den Sitzungen Erarbeitete in der Zeit zwischen den Sitzungen umsetzt (was wir als Transfer bezeichnen). Meist ist eine schlechte Compliance auf fehlende Änderungsmotivation zurückzuführen, manchmal liegt es aber auch an anderen Faktoren, wie z. B. schlichtweg der organisatorischen Unmöglichkeit, die Therapie in den viel zu vollen Alltag zu integrieren. Manche Patient*innen denken, es sei meine Aufgabe, ihnen zu zeigen, wie man alles unter einen Hut kriegt – ist es aber nicht. Erstens ist es meine Aufgabe, denen, die etwas an sich ändern wollen, dabei zu helfen, dies zu schaffen, und zweitens kann ich nicht zaubern. Ist der Alltag zu voll für eine Therapie (womit ich nämlich explizit nicht nur die eine Sitzung in der Woche meine, denn das Wesentliche passiert zwischen den Sitzungen), muss entweder etwas anderes weichen, oder eine Therapie ist schlichtweg nicht möglich und nicht sinnvoll. Manchmal geht eine geringe Compliance aber auch auf einen der bereits genannten anderen Faktoren zurück – oder auf eine schlechte therapeutische Beziehung.

Therapeutische Beziehung

Dieser Faktor, also die Frage, wie gut Patientin und Psychotherapeutin miteinander auskommen und ob „die Chemie stimmt“, betrifft natürlich nicht die generelle Frage, ob Psychotherapie sinnvoll wäre, sondern lediglich die Frage, ob diese zwei speziellen Menschen miteinander so arbeiten können, dass eine Besserung eintritt. Die Psychotherapieforschung hat immer wieder gezeigt, dass die Qualität der therapeutischen Beziehung ein sehr wichtiger Faktor für den Therapieerfolg ist. Dies ist einer der Gründe, warum ich sehr lange Erstgespräche von meist 100 Minuten Dauer durchführe: Am Ende habe ich einen ausreichend guten Eindruck, ob mein Gegenüber und ich zusammenpassen und ich mir vorstellen kann, das wir miteinander arbeiten können – oder ich zugunsten meines Gegenübers eher weiterverweise.

Welches Verfahren?

Selbst wenn alle oben genannten Voraussetzungen gegeben sind, kann es noch sein, dass ein Patient mit seinem Anliegen zwar für eine Psychotherapie im Allgemeinen geeignet ist, aber vielleicht nicht für eine verhaltenstherapeutische Behandlung (wie ich sie anbiete), sondern eher für eine systemische (weil einem z. B. ausgeprägte Funktionen ins Auge springen) oder eine tiefenpsychologische (weil der Eindruck entsteht, dass in der Biographie verwurzelte Konflikte die Problematik bedingen). Auch dies würde dazu führen, dass ich den betreffenden Patienten nicht für eine Behandlung bei mir auf die Warteliste nehme, sondern weiterverweise.

Was sich hieraus ergibt

Die Konsequenz aus all diesen Faktoren schmeckt nicht jeder und stößt sicherlich auch manch einen vor den Kopf, sie ist aber äußerst wichtig: Zum einen ist Psychotherapie denen vorbehalten, bei denen eine behandlungsbedürftige psychische Störung nach ICD-10 vorliegt, und zum anderen ist eine solche Diagnose (mit anderen Worten: dass es jemandem schlecht geht) bei Weitem nicht automatisch ein Anlass, eine ambulante Therapie zu beginnen – oder fortzuführen. Letzterer Punkt nimmt Bezug dazu, dass all die oben genannten Faktoren auch im Verlauf einer Psychotherapie laufend durch den Psychotherapeuten zu berücksichtigen sind. Dinge wie Compliance und Änderungsmotivation, aber auch kognitive Fähigkeiten, die Qualität der therapeutischen Beziehung oder die Art der Diagnose können sich im Verlauf einer Therapie ändern, was dazu führen kann, dass Behandlungen, z. B. bei der Frage nach einer Umwandlung von Kurz- in Langzeittherapie, nicht fortzuführen oder sogar im Verlauf zu beenden sind – entweder weil dank erfolgreicher Therapie keine behandlungsbedürftige Störung mehr vorliegt oder weil absehbar ist, dass (aufgrund von Veränderungen in den beschriebenen Faktoren) durch die Behandlung keine weitere Besserung mehr erzielt werden kann. Für alle gesetzlich Versicherten wird dieser Umstand sogar im SGB V geregelt, welches eindeutig beschreibt, dass jegliche von den Krankenkassen getragenen Heilbehandlung sowohl notwendig (d. h., es muss eine behandlungsbedürftige psychische Störung vorliegen) als auch zweckmäßig (d. h., es muss absehbar sein, dass die gewählte Heilbehandlung zur Besserung oder Heilung führt) sein muss.

Meiner auf Erfahrung basierenden Meinung nach würde es wahrscheinlich schon zu einer Verbesserung der psychotherapeutischen Versorgung beitragen, wenn diese Prinzipien von all meinen Kolleg*innen konsequent angewendet würden, sodass Psychotherapie seltener bei denen Anwendung findet, bei denen sie gar nicht wirken kann. Dabei ist es mir wichtig zu betonen, dass all diese Faktoren dynamisch sind und sich natürlich verändern können. So kann es sein, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt im Leben einer Patientin (und mit dem richtigen Therapeuten) die Voraussetzungen für den Erfolg einer Psychotherapie erfüllt sind, in einer anderen Lebensphase oder bei einer anderen Therapeutin hingegen nicht.

Ich hoffe, ich konnte mit dieser dreiteiligen Reihe dazu beitragen, ein realistischeres und korrekteres Bild davon zu vermitteln, was Psychotherapie ist – und für wen sie geeignet ist. Interessierte können hier gerne mehr über meine persönliche Arbeitsweise als Psychotherapeut erfahren.

© Dr. Christian Rupp 2021

Wirken alle Formen von Psychotherapie eigentlich gleich gut? Das Dodo-Bird-Verdict.

Zu dem folgenden Artikel wurde ich inspiriert durch einen am 3. Juni diesen Jahres in der taz veröffentlichten Zeitungsartikel zum Thema Psychotherapie. Eigentlich handelte er von den zahlreichen Hindernissen, die Patienten, die eine Psychotherapie in Anspruch nehmen möchten, in Deutschland überwinden müssen (aufgrund der chronischen Unterversorgung). Mitten im letzten Abschnitt fand sich aber dann eine These, die so, wie sie dort dargestellt wurde, definitiv nicht zutrifft. Diese lautete:

“Das am besten belegte Ergebnis der Psychotherapieforschung, auch als ‘Dodo Bird effect’ bekannt, ist nämlich, dass alle Therapien gleich gut wirken. Eine Überbetonung der Methode ist sogar eher kontraproduktiv.”

Zunächst einmal: Der Name “Dodo-Bird-Effect”, in der Forschung meist als “Dodo-Bird-Verdict” bezeichnet, ist, so seltsam er klingen mag, tatsächlich noch das Korrekteste in diesen ganzen zwei Sätzen. Der Begriff, der ursprünglich als Satire gemeint war, hat tatsächlich seinen Ursprung bei “Alice im Wunderland”, wo in einer Geschichte ein Dodo den Vorschlag macht, ein Rennen zu veranstalten, bei dem am Ende alle gewinnen, weil es kein Ziel gibt und auch die Zeit nicht gemessen wird. In der Psychotherapieforschung bezeichnet die Metapher derweil tatsächlich die These, dass alle Formen von Psychotherapie (eine Beschreibung der wichtigsten finden Sie hier) eigentlich gleich wirksam sind und es deshalb nicht auf spezifische Therapieinhalte (so genannte Interventionen) wie z.B. Konfrontationsübungen, kognitive Umstrukturierung (Veränderung von Denkmechanismen) oder ein Training sozialer Kompetenzen ankommt, sondern Psychotherapie ausschließlich über so genannte “unspezifische” Faktoren wirkt. Zu letzteren zählen vor allem die Qualität der therapeutischen Beziehung und das Ausmaß, in dem der Therapeut dem Patienten gegenüber empathisch ist, eine akzeptierende Haltung einnimmt und ihn  allgemein unterstützt.

Belege dafür

Dass eine nicht unwesentliche Zahl von Therapieforschern und praktisch tätigen Therapeuten die Sichtweise des Dodo-Bird-Verdict teilt, kommt nicht von ungefähr. Vermeintliche Belege hierfür stammen aus den Untersuchungen von Luborsky und Kollegen aus den Jahren 1975 und 2002. In beiden Artikeln trägt die Forschergruppe eine große Zahl von Studien zusammen, die systematisch jeweils zwei Therapieformen miteinander verglichen haben, z.B. kognitive Verhaltenstherapie und tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie. In solchen Studien wird dann der Unterschied der Wirksamkeit meist in der Einheit “Cohen’s d” (einem statistischen Effektstärkenmaß) angegeben. Zur Orientierung: Hierbei spiegeln d-Werte von 0,2 einen kleinen, solche von 0,5 einen mittleren und von 0,8 einen großen Unterschied wider. Schon 1975 konnte die Forschergruppe um Luborsky durch das Zusammentragen solcher Studien zeigen, dass bei den meisten dieser Studien nur sehr kleine und zudem statistisch nicht signifikante Unterschiede zwischen verschiedenen Therapieformen resultieren. 2002 berechnete dieselbe Forschergruppe dann im Rahmen einer Metaanalyse den mittleren Unterschied über sämtliche solche direkten Vergleichsstudien hinweg und kam auf einen Wert von 0,2. Die Schlussfolgerung war: Die Unterschiede zwischen verschiedenen Therapieformen sind so gering, dass sie zu vernachlässigen sind.

Kritik an den Luborsky-Studien

Allerdings kann man an sehr vielen Punkten Kritik an der Vorgehensweise dieser Forschergruppe üben. Die wesentlichsten Punkte seien hier kurz genannt:

  • Die Autoren differenzierten die Ergebnisse nicht nach der jeweiligen Störung, die behandelt wurde, sondern mittelten über alle Störungen hinweg.
  • Unterschiede innerhalb einer Therapieform (z.B. der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie) wurden ignoriert.
  • Es wurden viele Studien eingeschlossen, die die Therapieformen nicht an klinisch kranken Probanden verglichen, sondern an gesunden Probanden mit leichten psychischen Auffälligkeiten (so genannte Analogstichproben) – dies mindert die Aussagekraft.
  • Die Autoren schlossen viele Studien mit kleinen Stichprobenumfängen ein, was es aus statistischen Gründen stark erschwert, etwaige Unterschiede zwischen den Therapieformen überhaupt signifikant nachweisen zu können.
  • Durch die Einschränkung auf Studien, die zwei Therapieformen direkt miteinander verglichen haben, bleiben viele wichtige Befunde aus randomisierten kontrollierten Studien unberücksichtigt.

Belege dagegen

Spezifische Interventionen wirken über unspezifische Wirkfaktoren hinaus

Die Psychotherapieforschung hat zwei wesentliche Befunde vorzuweisen (die aber nicht mit der im taz-Artikel aufgestellten Behauptung übereinstimmen): Erstens, dass die oben beschriebenen unspezifischen Wirkfaktoren (vor allem die Qualität des therapeutischen Arbeitsbündnisses bzw. der therapeutischen Beziehung sowie Empathie & Akzeptanz auf Seiten des Therapeuten) tatsächlich stark mit dem Erfolg der Therapie zusammenhängen. Der Effekt dieser Faktoren auf den Therapieerfolg liegt, statistisch ausgedrückt, immerhin bei einem d-Wert von 0,5 (mittlerer Effekt), wie sich aus einer Vielzahl von Studien ergeben hat. Vor allem sind dies randomisierte kontrollierte Studien mit einer Placebo-Kontrollgruppe, wo die Behandlung in der Placebo-Gruppe eben ausschließlich darin besteht, dass der Therapeut diese unspezifischen Wirkfaktoren umsetzt. Diese Placebo-Behandlung zeigt gegenüber Kontrollgruppen ohne jegliche Behandlung bereits gute Therapieeffekte, aber: Sie sind gleichzeitig meist der Experimentalgruppe, die die Behandlung mit der spezifischen Intervention erhält, unterlegen. Um das ganze mit Leben zu füllen, soll ein kleines Beispiel herhalten: So könnte man z.B. bei Angststörungen drei Therapiebedingungen vergleichen: Eine Gruppe erhält gar keine Behandlung, die zweite eine Placebo-Behandlung (empathischer, aktiv zuhörender Therapeut, Vermittlung von Informationen über Angst, allgemeine Unterstützung) und die dritte eine Konfrontationstherapie (spezifische Intervention zusätzlich zu den auch hier vorhandenen unspezifischen Faktoren). Der Vergleich mit der Gruppe ohne Behandlung ergibt den Effekt wieder in der Einheit “Cohen’s d”: Es ergibt sich z.B. ein Effekt von 0,5 für die Placebogruppe, aber einer von 1,2 für die Konfrontationsgruppe (was durchaus realistische Zahlen sind). Fazit hier wäre (und dies entspricht der Realität): Unspezifische Faktoren verbessern die Angst, aber spezifische Interventionen verbessern sie mehr.

Wenn man nicht nur direkte Vergleiche betrachtet…

Und wenn man eben solche Studienergebnisse mit betrachtet und sich nicht auf direkte Vergleichsstudien einengt, dann ergeben sich durchaus betachtliche Unterschiede zwischen Therapieformen. So konnte z.B. in einer Metaanalyse von Hoffman und Smits (2008) gezeigt werden, dass bei der posttraumatischen Belastungsstörung eine traumafokussierte Psychotherapie (ebenso wie Eye Movement Desensitisation and Reprocessing, kurz EMDR) einer nicht-traumafokussierten Psychotherapie, die auf die Konfrontation mit dem Trauma verzichtet, deutlich überlegen ist. Anders als in den Luborsky-Studien beruhte dieses Ergebnis derweil nicht auf dem gemittelten Unterschied zahlreicher direkter Vergleichsstudien, sondern auf einer großen Zahl von pro Therapieform zusammengetragenen einzelnen randomisierten kontrollierten Studien.

Auf die Störung kommt es an

Dieser Aspekt ist der wohl wichtigste und für die Praxis relevanteste. Ob Therapieformen gleich gut wirken oder nicht, hängt ganz maßgeblich davon ab, welche Störung wir betrachten. Dies konnte sehr eindrucksvoll von Tolin (2010) gezeigt werden, der interessanterweise die gleiche Methode wie die Gruppe um Luborsky verwendete, sich also nur auf direkte Vergleiche beschränkte, und zwar auf direkte Vergleiche jeweils zwischen kognitiver Verhaltenstherapie (KVT) und anderen Therapieformen. Gemittelt kommt Tolin auch auf einen gemittelten Unterschied von 0,2. Aber: Der Unterschied ist für verschiedene Störungen unterschiedlich hoch (auch wieder gemessen in d-Einheiten). Während die Art der Therapie z.B. bei Essstörungen und Substanzabhängigkeiten tatsächlich kaum eine Rolle spielt (d=0,15 bzw. 0), liegt der gemittelte Unterschied bei der Depression im mittleren Bereich von 0,2, während er bei Persönlichkeits- und Angststörungen deutlich höher ausfällt, nämlich bei 0,34 bzw. 0,43 liegt. Letzteres Ergebnis stützt den Befund aus Therapiestudien, dass bei Angststörungen generell Therapien mit Konfrontationselementen solchen ohne bezüglich der Wirksamkeit überlegen sind. Die Ergebnisse sind also insgesamt so zu verstehen, dass andere Therapieformen der KVT entweder ebenbürtig (d=0) oder unterlegen (d>0) sind.

Die Unterschiede zeigen sich in der langfristigen Wirkung

Ein weiteres Ergebnis der Metaanalyse von Tolin betrifft die Unterschiede in der langfristigen Wirkung. Der gemittelte Unterschied von 0,2 bezieht sich lediglich auf den Vergleich der Symptomverbesserung direkt im Anschluss an die Therapie (“post-treatment“). Legt man hingegen die Messungen der Symptomschwere 6 bzw. 12 Monate nach Ende der Therapie zugrunde (so genannte follow-up-Messungen), so ergeben sich über alle Störungen hinweg gemittelte Unterschiede von 0,47 bzw. 0,34. Hieraus kann man den wichtigen Schluss ziehen, dass sich die Unterschiede in der Wirkung verschiedener Psychotherapieformen vor allem auf die nachhaltige Wirkung beziehen, wo gemäß der Metaanalyse von Tolin die KVT nachweislich besser abschneidet als andere Verfahren.

Spezifische Psychotherapie wirkt nicht bei jedem Problem gleich

Anhänger des Dodo-Bird-Verdicts führen, wie oben beschrieben, das Argument an, dass Psychotherapie alleinig über unspezifische Wirkfaktoren wirkt. Dass das nicht stimmt, belegen zwar bereits sämtliche randomisierten kontrollierten Studien mit einer Placebo-Kontrollgruppe (siehe oben), es spricht aber noch ein anderer konsistenter Befund dagegen: Nämlich der, dass eine Psychotherapie im intendierten Störungsbereich stärkere Effekte erzielt als in anderen. Konkret bedeutet dies, dass sich z.B. ein depressionsspezifisches Therapieelement stärker auf Depressivität als beispielsweise auf Angst auswirkt, was nicht so sein sollte, wenn laut Dodo-Bird-Anhängern jede Therapie gleich gut bei allem wirkt.

Fazit

Pauschal zu sagen, dass alle Therapieformen gleich wirken, ist gemäß der Befundlage nicht möglich. Es gibt unspezifische Wirkfaktoren, die nahezu bei jeder Therapieform gleich sind und die auch bereits einen nicht zu vernachlässigenden Effekt bewirken. Aber: Spezische Interventionen sind diesen bei vielen Störungen und vor allem bezüglich der Nachhaltigkeit der Wirkung überlegen, was erklärt, dass eben nicht alle Psychotherapieformen als gleich gut einzustufen sind. Und übrigens: Für den zweiten Teil der Aussage aus dem taz-Artikel (“Eine Überbetonung der Methode ist sogar eher kontraproduktiv.“) liegen noch viel weniger Belege vor. Mit anderen Worten: Auch bei der taz ist man vor nachlässiger Rechercheleistung nicht sicher.

© Christian Rupp 2013

Klinische Psychologie, Psychotherapie, Psychoanalyse: Wo gehört Freud nun hin?

Klinische Psychologie

Die Klinische Psychologie als Teilgebiet der Psychologie befasst sich (ebenso wie ihr medizinisches Pendant, die Psychiatrie) mit psychischen Störungen, aber auch mit den psychischen Einflüssen bei auf den ersten Blick rein körperlich bedingten Krankheiten, wie z.B. Kopf- und Rückenschmerzen oder dem Reizdarmsyndrom (wo psychischen und Verhaltensfaktoren eine große Bedeutung zukommt). Diese Richtung ist ganz eng verwandt mit dem medizinischen Fach der Psychosomatik, das sich ebenfalls dem Einfluss psychischer Faktoren auf körperliche Symptome widmet und Körper und Psyche schon lange nicht mehr als getrennte Einheiten, sondern als Bestandteile eines untrennbar miteinander verwobenen Systems betrachtet.

Die Klinische Psychologie ist somit eines der großen Anwendungsfächer im Psychologiestudium. Dass es nur eines von mehreren ist, möchte ich an dieser Stelle noch einmal ganz deutlich machen, denn in der Laiengesellschaft wird “Psychologie” oftmals mit “Klinischer Psychologie” gleichgesetzt bzw. auf diese reduziert. Konkret werden in der Klinischen Psychologie vor allem die Ursachen von psychischen Störungen erforscht und in Bezug auf die verschiedenen Störungen spezifische Modelle für deren Entstehung entwickelt. So werden z.B. in Längsschnittstudien (die die Versuchsteilnehmer über Jahre begleiten) Risikofaktoren (z.B. bestimmte Erlebnisse in der Kindheit, der Erziehungsstil der Eltern, kindliche Verhaltensstörungen, etc.) und Auslösefaktoren (z.B. stressreiche Lebensereignisse) für psychische Störungen erforscht. Ferner wird auch an großen Bevölkerungsstichproben die Häufigkeit psychischer Störungen und deren Verlauf (z.B. episodenweise oder chronisch) untersucht –  zusammengefasst wird dieser Bereich unter dem Begriff “Epidemiologie”. Ein weiteres Gebiet ist außerdem die Experimentelle Psychopathologie, die systematisch mit Hilfe typischer experimenteller Manipulationen Begleiterscheinungen (Korrelate) psychischer Störungen untersucht. Hierzu gehören z.B. die Befunde, dass schizophrene Patienten Beeinträchtigungen bei unbewussten, motorischen Lernprozessen (implizitem Sequenzlernen) aufweisen und ADHS-Patienten sich hinsichtlich bestimmter ereigniskorrelierter Potenziale wie der “P300” von gesunden Menschen unterscheiden. Befunde der experimentellen Psychopathologie tragen so auch dazu bei, die Ursachen psychischer Störungen besser zu verstehen, da sie Einsicht in Fehlfunktionen der Informationsverarbeitung und somit in “schief laufende” Gehirnprozesse ermöglichen.

Psychotherapie

Kognitive Verhaltenstherapie

Das für die Praxis relevanteste und wahrscheinlich inzwischen größte Teilgebiet der Klinischen Psychologie ist das der Psychotherapie. Hier werden einerseits, aus den Störungsmodellen abgeleitet, Psychotherapieverfahren (auch Interventionen genannt) entwickelt und andererseits diese im Rahmen kontrollierter Studien auf ihre Wirksamkeit überprüft (daher der Name Psychotherapieforschung). Die Formen von Psychotherapie, die sich aus der wissenschaftlichen Psychologie entwickelt haben und deren Wirksamkeit intensiv erforscht und belegt ist, werden heutzutage unter dem Sammelbegriff “Kognitive Verhaltenstherapie” (kurz KVT) zusammengefasst, die im deutschen Gesundheitssystem derweil nur als “Verhaltenstherapie” bezeichnet wird. Hierbei handelt es sich um eine sehr vielfältige Gruppe von erfolgreichen Verfahren, die darauf abzielen, psychische Störungen sowohl durch die Veränderung des Verhaltens, als auch durch die Veränderung kognitiver Strukturen (z.B. festgefahrener Gedankenmuster) zu behandeln. Die KVT ist dabei ein Therapieverfahren, das sich als Methode sowohl des therapeutischen Gesprächs als auch vieler Aktivitäten und Trainings zum Aufbau von Verhaltensweisen bedient, z.B. des Trainings sozialer Kompetenzen. Emotionen, wie z.B. die Traurigkeit oder Niedergeschlagenheit, die die Depression kennzeichnen, werden hierbei entweder als Konsequenz von Verhalten und Gedanken angesehen und indirekt beeinflusst oder aber in neueren Ansätzen auch direkt angegangen. So basiert die Emotionsfokussierte Therapie nach Greenberg z.B. unter anderem darauf, dass Emotionen intensiv durchlebt werden müssen, um sie zu bewältigen – ein Ansatz, den die Kognitive Verhaltenstherapie zuvor nur aus der Expositions- bzw. Konfrontationstherapie für Angststörungen kannte.

Gesprächspsychotherapie & Gestalttherapie

Neben der kognitiven Verhaltenstherapie gibt es eine zweite Richtung von Psychotherapie, die tatsächlich aus der Psychologie stammt, und das ist die humanistische Psychotherapie (auch klientenzentrierte oder Gesprächspsychotherapie genannt), die sich ausschließlich des Gesprächs bedient und dabei die Leitung des Gesprächs meist dem Patienten überlässt. Begründer dieser Therapierichtung war Carl Rogers, der als die drei Hauptwirkungsmechnismen der Therapie die empathische Grundhaltung und die bedingungslose Wertschätzung des Therapeuten dem Patienten (Rogers nennt ihn Klienten) gegenüber sowie die Echtheit des Therapeuten selbst beschreibt. Letzteres meint, dass der Therapeut sich dem Patienten gegenüber nicht verstellen, sondern authentisch verhalten soll. Ziel des Therapeuten ist es hierbei, dem Patienten keine Ratschläge zu geben, sondern die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass der Patient sein Problem selbst lösen kann. Eine Weiterentwicklung der Gesprächspsychotherapie nach Rogers ist übrigens die Gestalttherapie nach Perls, die sich allerdings in vielen Punkten von Rogers’ Vorgehen unterscheidet, z.B. darin, dass der Therapeut sehr viel mehr das Gespräch lenkt und auch konfrontativer vorgeht.

Obwohl die von Rogers vorgeschlagene Art der Psychotherapie nachgewiesenermaßen bereits beträchtliche Verbesserungen bewirken kann, ist sie insgesamt nicht so wirksam wie die Kognitive Verhaltenstherapie, in der aber grundsätzlich die Prinzipien der Gesprächsführung nach Rogers nach wie vor eine bedeutende Rolle spielen. An der Uni Münster z.B., wo ich studiere, gehört das praktische Erlernen dieser Gesprächsführungskompetenzen auch fest zum Psychologiestudium dazu, weshalb das Führen konstruktiver Gespräche und auch der Umgang mit schwierigen Gesprächssituationen im Prinzip auch eine Fähigkeit ist, die nahezu jeden Psychologen auszeichnen dürfte.

Psychoanalyse

Wie Sie vielleicht gemerkt haben, ist der Name “Freud” bisher nicht gefallen. Das liegt daran, dass ich bisher bewusst nur Psychotherapieformen beschrieben habe, die aus der Psychologie heraus entstanden sind. Freud derweil war Arzt, kein Psychologe, und daher auch keinesfalls der Begründer oder Vater der Psychologie. Er war dafür aber der Begründer der Psychoanalyse, der allerersten Form von Psychotherapie, die er vor über 100 Jahren entwickelte. Während man in der Gesprächspsychotherapie oder der Kognitiven Verhaltenstherapie als Patient dem Therapeuten gegenüber sitzt, legte Freud (und hier kehren wir zu dem Cliché schlechthin zurück) seine Patienten tatsächlich auf die Couch. Das hatte vor allem den Grund, dass Freud sich stark an der Hypnose orientierte, die damals schon bekannt und verbreitet war. Die klassische Psychoanalyse dauert sehr lange (mehrere Jahre bei mehreren Sitzungen pro Woche) und spült dem Therapeuten daher viel Geld in die Kasse. Während der Therapiesitzung liegt der Patient, während der Therapeut außerhalb des Sichtfeldes des Patienten sitzt und eine neutrale Person darstellt, die (ganz im Gegensatz zu Rogers Idee der Echtheit) nichts von sich selbst preisgibt. Während Patient und Therapeut sich in der KVT oder der Gesprächspsychotherapie auf Augenhöhe begegnen, steht der Psychoanalytiker hierarchisch über dem Patienten und hat die absolute Deutungshoheit über das, was der Patient sagt. Es handelt sich insgesamt um eine höchst unnatürliche Gesprächssituation, bei der der Therapeut das tut, was Psychologiestudierenden immer fälschlicherweise vorgeworfen wird: Er analysiert den Patienten bis in die tiefsten Tiefen und stellt dann irgendwann fest, was für ein Konflikt vorliegt.

Intrapsychische Konflikte und ganz viel Sex

Denn die Psychoanalyse erklärt psychische Störungen (ganz grob gesagt) durch intrapsychische Konflikte mit Ursache in der Kindheit, die dadurch geprägt sind, dass ein Bedürfnis oder Trieb (meist sexueller oder aggressiver Art), gesteuert vom so genannten Es, mit einer gesellschaftlichen Norm, repräsentiert durch das Über-ich, nicht vereinbar war oder ist. In der Gegenwart muss die aus diesem Konflikt resultierende Spannung durch irgendwelche ungünstigen Methoden abgewehrt werden, wodurch dann die Störung entsteht, die Freud als Neurose bezeichnet. Als Beispiel soll die Geschichte des “kleinen Hans” dienen, einer Fallbeschreibung Freuds vom einem kleinen Jungen mit der Angst vor Pferden. Laut Freud hatte der Junge den so genannten Ödipus-Konflikt nicht gelöst, der darin besteht, dass angeblich alle Jungen zwischen 4 und 6 Jahren sexuelles Verlangen (Es) nach ihrer Mutter verspüren, woraufhin sie aber, weil sie wissen, dass ihr Vater als Konkurrent stärker ist und das ganze auch irgendwie nicht so sein sollte (Über-Ich), Angst davor entwickeln, dass der Vater sie kastrieren wird (Kastrationsangst; hier erscheint mir die kleine Anmerkung nützlich, dass sich bei Freud eigentlich grundsätzlich alles um Sex dreht). Laut Freud entsteht das Symptom (die Angst vor Pferden) nun durch eine Verschiebung (einen von vielen verschiedenen Abwehrmechanismen) der Angst, die eigentlich auf den Vater gerichtet ist, auf Pferde. In der Fallbeschreibung wird übrigens auch kurz erwähnt, dass der kleine Hans kurz zuvor von einem Pferd getreten worden war. Aber warum sollte das schon relevant sein? Wäre ja eine viel zu naheliegende Erklärung.

Besserung ist nicht das Ziel

Sie können meinem Sarkasmus entnehmen, dass ich von dieser Therapieform nicht viel bis gar nichts halte, da sie sehr weitreichende und oft abstruse Annahmen macht, die durch keinerlei Befunde der Psychologie gestützt werden. Denn der Psychoanalyse mangelt es im Gegensatz zur Psychologie stark an Wissenschaftlichkeit: Ihr fehlt vor allem das Kriterium der Falsifizierbarkeit, was bedeutet, dass sie keine eindeutigen Aussagen liefert, die man derart überprüfen könnte, dass man je nach Ergebnis die Theorie entweder bestätigen oder verwerfen könnte. Mit anderen Worten. Zudem besitzt die Psychoanalyse die Fähigkeit, psychische Störungen zu verschlimmern, anstatt sie zu heilen. Wie schon der Psychologe Eysenck im Jahr 1952 in einer auf Krankenversicherungsdaten basierenden, zusammenfassenden Studie eindrucksvoll darlegt, liegt der Heilingserfolg der Psychoanalyse nahe 0 bzw. übersteigt nicht das, was durch Zufall zu erwarten wäre. Dies gab die Initialzündung dafür, dass vor ca. 60 Jahren immer mehr Psychotherapien tatsächlich innerhalb der wissenschaftlichen Psychologie entwickelt wurden und der Psychoanalyse zunehmend Konkurrenz machten. Der riesige Vorteil dieser neuen Verfahren war der, dass diese stets auf wissenschaftlichen Theorien basierten und die Wirksamkeitsüberprüfung im Selbstverständnis der Psychologen bereits fest verankert war. Seit damals hat sich die Psychoanalyse ziemlich stark gegen weitere Wirksamkeitsforschung gewehrt (wen wundert’s?), was aber auch auf einen wichtigen konzeptuellen Unterschied zu anderen Psychotherapieformen zurückzuführen ist: Anders als die Kognitive Verhaltenstherapie oder die Gesprächspsychotherapie verfolgt die Psychoanalyse auch gar nicht das Ziel, dass es dem Patienten am Ende besser geht, also sich die Symotome reduzieren. Das Ziel besteht darin, dem Patienten Einsicht in seine (vermeintlichen) intrapsychischen Konflikte zu geben, damit dieser sich selbst “besser verstehen” kann. Die Annahme ist, dass dies hinreichend zur Verbesserung ist. Die Realität sieht so aus, dass Patienten meist nach mehreren Jahren Analyse keinen Schritt weiter, sondern eher noch mehr belastet sind durch die Kenntnis über all die (angeblichen) ungelösten Konflikte, die sie mit sich herumtragen. An dieser Stelle sei der Unterschied zur KVT und zur Gesprächspsychotherapie noch einmal ganz deutlich gemacht: Diese Verfahren analysieren das Verhalten und Erleben des Patienten auch, aber auf andere Weise, als die Psychoanalyse es tut. Zum einen wird auf so bizarre Elemente wie den Ödipuskomplex, Kastrationsangst und intrapsychische Konflikte verzichtet, zum anderen orientiert sich die Analyse (von typischen, eingefahrenen Verhaltens- sowie Denkmustern) immer daran, was man in der Folge auch therapeutisch verändern kann, um eben nicht ewig auf der meist lange zurückliegenden Ursache der Störung herumzureiten, sondern nach vorne zu blicken und die Aufrechterhaltung der Störung zu durchbrechen.

Weiterentwicklung: Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie

Dass die Psychoanalyse, unter dem Label “Analytische Psychotherapie”, in Deutschland zu den Psychotherapieverfahren gehört, die von den Krankenkassen übernommen werden, liegt übrigens nicht etwa an ihrer wissenschaftlichen Basiertheit, sondern vor allem an der großen Lobby, die diese Richtung in Deutschland lange Zeit hatte. Die klassische Psychoanalyse ist heute nur noch sehr selten anzutreffen und ist hauptsächlich unter Ärzten (also hauptsächlich Psychiatern) noch relativ weit verbreitet, eben weil Freud selbst auch Arzt war. “Psychoanalyse” muss allerdings nicht zwangsweise bedeuten, dass die Lehre von Freud angewandt wird. Freud hatte viele Schüler, die im Laufe ihres Lebens ihre eigenen psychoanalytischen Theorien entwickelt und sich dabei größtenteils deutlich von Freuds Lehre distanziert haben – hierzu zählen z.B. Alfred Adler und Carl Gustav Jung. Abgesehen hiervon gibt es aber auch sehr moderne Weiterentwicklungen der Psychoanalyse, die unter dem Sammelbegriff der “Psychodynamischen Psychotherapie” oder der “Tiefenpsychologisch fundierten Therapie” (das ist der offizielle Name der Therapieform im deutschen Gesundheitssystem, die neben der Verhaltenstherapie und der Analytischen Psychotherapie von den Krankenkassen übernommen wird) zusammengefasst werden. Diese haben oft nur noch sehr rudimentäre Ähnlichkeit mit Freuds Ideen und sehen auch eine ganz andere, von mehr Empathie und Gleichberechtigung geprägte Interaktion zwischen Therapeut und Patient vor (unter anderem sitzt der Patient dem Therapeuten gegenüber und liegt nicht). Die Gemeinsamkeit beschränkt sich meist auf die Annahme von ungelösten Konflikten, die ihren Ursprung in der Kindheit haben. Im Gegensatz zur Psychoanalyse begnügt man sich aber nicht nur mit der Einsicht des Patienten, sondern strebt auch eine Veränderung an. In diesem Sinne sind viele moderne psychodynamische Therapieformen der KVT oder der Gesprächspsychotherapie zumindest oberflächlich gesehen recht ähnlich. Eine weitere Errungenschaft dieser weiterentwickelten Therapieform ist die Psychotherapieforschung, die die Wirksamkeit zumindest einiger dieser neuen Verfahren inzwischen belegt hat, was tvor allem auf einige manualisierte, psychodynamische Kurzzeittherapien zutrifft.

Die Begriffe noch einmal im Überblick

Um noch einmal die Begrifflichkeiten zusammenzufassen: Klinische Psychologen sind solche, die sich im Studium und in der darauf folgenden Berufstätigkeit auf psychische Störungen spezialisiert haben. Sie sind in der Regel Experten für das Erscheinungsbild und die Diagnostik psychischer Störungen und kennen sich mit den Ursachen aus. Auch von Psychotherapie haben sie normalerweise eine Menge Ahnung, dürfen diese aber nur im Rahmen einer postgradualen (d.h. nach dem Master- oder Diplomabschluss ansetzenden) Ausbildung zum Psychologischen Psychotherapeuten oder eben nach deren erfolgreichem Abschluss ausüben, d.h. nach Erteilung der Heilbefugnis (Approbation). Die meisten Klinischen Psychologen sind auch Psychotherapeuten, sodass sich eine große Überlappung ergibt. Psychotherapeuten können derweil entweder kognitiv-verhaltenstherapeutisch, psychoanalytisch, humanistisch oder systemisch (eine weitere, vor allem in der Kinder- und Familientherapie anzutreffende Richtung, auf deren Darstellung ich hier aus Sparsamkeitsgründen verzichtet habe) orientiert sein. Psychiater, die psychotherapeutisch tätig sind, haben derweil meist eine psychodynamische Orientierung.

Übrigens

Als Begründer der Psychologie als experimentell orientierte, empirische Wissenschaft wird Wilhelm Wundt (1832-1920) angesehen, der 1879 das erste “Institut für Experimentelle Psychologie” gründete, was oftmals als Geburtsstunde der Psychologie betrachtet wird. Wundt war sowohl durch die Physiologie als auch durch die Philosophie geprägt – was erklärt, dass die Psychologie bis heute mit beidem verwandt ist. Sigmund Freuds Verdienste habe ich derweil oben in Auszügen beschrieben. Was viele über ihn allerdings nicht wissen, ist, dass Freud stark kokainabhängig und ein extremer Kettenraucher war. Während er es zu Lebzeiten schaffte, vom Kokain loszukommen, blieb er bis zu seinem Tod stark nikotinabhängig und erkrankte vermutlich infolge dessen schwer an Kieferkrebs. Von dieser extrem qualvollen Erkrankung gezeichnet, setzte er 1939 im Londoner Exil (Freud war, obwohl atheistischer Religionskritiker, jüdischer Abstammung) seinem Leben ein Ende. So kann es eben leider auch enden. Und so endet auch die vierteilige Reihe von Artikeln darüber, was Psychologie ist und was nicht.