Im Jahre 2006 wurde eine Studie von Hammad und Kollegen veröffentlicht, die in der Fachwelt einschlug wie eine Bombe. Die Studie hatte sogar die explizite Warnung der US-amerikanischen Gesundheitsbehörde FDA zur Folge, die dringend davon abriet, in der Behandlung von Depression bei Kindern und Jugendlichen (ja, das gibt es leider auch schon in diesen Altersklassen) unbedingt auf Antidepressiva (also die Form von Psychopharmaka, die sich als wirksam bei Depression erwiesen hat) zu verzichten.
Was hatten Hammad und Kollegen in ihrer Studie herausgefunden?
Nun, der Aufbau der Studie war praktisch sehr aufwändig, ist aber leicht nachzuvollziehen. Es wurde, vereinfacht gesagt, verglichen, wie sich das Risiko für Suizid („Selbstmord“) in Abhängigkeit von einer Behandlung mit verschiedenen Antidepressiva verändert. Betrachtet wurden unter anderem SSRIs (Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer), die modernere Form der Antidepressiva, sowie die älteren, mit mehr Nebenwirkungen behafteten tryzyklischen Antidepressiva (insgesamt wurden 9 verschiedene verglichen).
So, nun könnte man denken, die Wissenschaftler hätten einfach zwei randomisierte (d.h. zufällig zusammen gewürfelte) Gruppen von depressiven Jugendlichen genommen, der einen Gruppe Medikamente verabreicht, der anderen nicht, und am Ende geguckt, in welcher Gruppe sich mehr Patienten suizidieren. Auch wenn dieses Studiendesign eine eindeutige Antwort geliefert hätte, ist es natürlich so nicht abgelaufen. Aus ethischer Sicht wäre dies völlig unvertretbar gewesen, zumal Medikamentenstudien mit Minderjährigen nicht durchgeführt werden. Außerdem ist es gesetzlich festgeschrieben, dass die vorrangige abhängige Variable (also das, was in der Studie hauptsächlich ermittelt/gemessen wird) niemals die Anzahl von Suiziden sein darf.
Was wurde also stattdessen gemacht?
Hammad und Kollegen entschieden sich, bereits aus früheren kontrollierten Studien vorliegende Patientenakten zu untersuchen. D.h., es wurde auf Datenbanken nach Krankheitsverläufen gesucht, in denen in irgendeiner Form von Suizid die Rede war. Dann wurde, vereinfacht gesagt, geschaut, wie viele von diesen Patienten mit Antidepressiva behandelt worden waren.
Die abhängige Variable war aber nun nicht die Zahl der Suizide, sondern die (anhand der Dokumentation in den Patientenakten ermittelte) Anzahl von laut geäußerten Suizidgedanken, d.h. Gedanken daran, sich das Leben zu nehmen. Betrachtet worden waren in den von Hammad und Kollegen zusammengefassten Studien außerdem folgende antidepressive Wirkstoffe: Fluoxetin, Paroxetin, Citalopram, Sertralin und Fluvoxamin (selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, kurz SSRIs) sowie Bupropion und Venlafaxin als selektive Serotonin- und Noradrenalinwiederaufnahmehemmer und Mirtazapin als neuartiges Antidepressivum, das noch spezifischer auf das Serotonin-System wirkt.
Das Ergebnis der Studie von Hammad sah wie folgt aus: unabhängig von der genauen Sorte des Medikaments hatten die Jugendlichen mit Medikation ein ca. doppelt so hohes (um den Faktor 1,95 erhöhtes) Risiko für suizidale Gedanken wie jene ohne Medikation. Das Ergebnis war statistisch signifikant, d.h. nicht durch Zufall erklärbar. In anderen Worten: Die Einnahme von Antidepressiva war offenkundig begleitet von mehr Gedanken daran, sich das Leben zu nehmen, als der Verzicht auf sie. Betrachtete man nur die Studien zu SSRIs, ergab sich übrigens ein um den Faktor 1,66 erhöhtes Risiko. Dieses Ergebnis hatte den oben beschriebenen Aufschrei und die damit verbundene Warnung als Folge. Nach 2006 brach die Anzahl der an depressive Kinder und Jugendliche verschriebenen Medikamente massiv ein.
Aber…
Nach 2006 nahm die Zahl der Befunde, die die Ergebnisse von Hammad und Kollegen in Frage stellten, enorm zu. Die im Folgenden genannten Ergebnisse beziehen sich allerdings ausschließlich auf SSRIs, nicht auf die anderen Medikamentengruppen. So zeigten Mann und Kollegen 2006 anhand einer Autopsie-Studie, dass nur wenige jugendliche Suizidopfer Antidepressiva (SSRIs) eingenommen hatten.
Korrelative (=Zusammenhangs-) Studien wie die von Gibbons und Kollegen aus den Jahren 2005 und 2007 zeigten, dass die Suizidraten von jugendlichen Patienten anstiegen, während die Zahl der Verschreibungen von SSRIs abnahm. Aber Achtung: Das lässt keine eindeutigen Rückschlüsse darauf zu, was Ursache und was Wirkung ist. Es ist theoretisch auch möglich, dass Ärzte angesichts steigender Suizidraten noch vorsichtiger bezüglich der Verordnung von Medikamenten waren. Allerdings ergab sich in diesen Studien ein Anstieg der Suizidrate unter Jugendlichen um 14% bis 49% (verschiedene Länder wurden betrachtet), was als beträchtlich eingestuft werden kann. Zudem konnten Simon und Kollegen 2006 sogar zeigen, dass die höchste Suizidrate kurz vor Beginn der Behandlung mit SSRIs beobachtet werden konnte. Valuck und Kollegen wiesen 2004 nach, dass eine sechsmonatige Behandlung mit Antidepressiva gegenüber einer zweimonatigen Behandlung das Suizidrisiko senkt.
Alarmierend ist auch der Befund, dass nach 2006 ein Rückgang der Diagnose „Depression“ bei Jugendlichen um 30% zu verzeichnen war. Sehr wahrscheinlich schreckte man allgemein vor der Diagnose zurück, weil man nicht wusste, wie die Behandlung danach aussehen sollte: Medikamente galten ja als gefährlich, und bezüglich Psychotherapie herrschte (und herrscht) im Kinder- und Jugendbereich massive Unterversorgung.
Und erinnern wir uns doch kurz an die Studie von Hammad: Dort wurden lediglich Suizidgedanken(!) ermittelt, nicht tatsächliche Suizidfälle mit einbezogen. Es wird z.B. die plausible Möglichkeit diskutiert, ob Antidepressiva eventuell die durchaus positive Wirkung haben, dass suizidale Gedanken überhaupt erst geäußerst werden. Dies ist immerhin die Voraussetzung dafür, dass therapeutisch auf diese Gedanken eingegangen werden kann. Mehr zu der Frage, wie Antidepressiva sich (indirekt) auf tatsächliche Suizidversuche auswirken können, finden hier.
Insgesamt lässt sich also auf Basis des heutigen Kenntnisstands das Fazit ziehen, dass Antidepressiva (vor allem SSRIs) bei Kindern und Jugendlichen eher das Suizidrisiko senken als es zu erhöhen. 2007 wurden daher die Warnung der Gesundheitsbehörden revidiert und die Warnhinweise auf den Medikamentenpackungen entfernt. Anzumerken ist dennoch, dass aus ethischen Gründen keine Psychopharmaka (genau wie irgendwelche anderen Medikamente) an Kindern oder Jugendlichen getestet werden, sondern immer nur an erwachsenen Probanden. Da somit die Folgen der Einnahme bei dieser jungen Patientengruppe relativ unbekannt sind, ist bei der Verschreibung immer Vorsicht geboten.
© Christian Rupp 2013