Ist unsere Psyche bloß ein Spielball unserer Hormone?

Die Rolle von Hormonen im Körper darf definitiv nicht unterschätzt werden, aber: Es ist alles andere als einfach. Und das muss klargestellt werden, besonders im Hinblick auf psychische Störungen. Man weiß einiges über die Rolle von Hormonen im Stoffwechsel, in der Entwicklung des Fötus, der Geschlechtsreifung. Aber man weiß vergleichsweise wenig über die Schnittstellen zwischen dem Nervensystem und dem Hormonsystem. Eine dieser Schnittstellen ist lange bekannt: Der Hypothalamus, ein Teil des Gehirns, also Teil des zentralen Nervensystems und wichtiger Vertreter des vegetativen bzw. autonomen Nervensystems.

Das subjektive Erleben bei psychischen Störungen entsteht im Gehirn, denn dort liegt die Quelle unserer Gefühle, unserer Gedanken, unseres Verhaltens. Da das Hormonsystem aber in engem Kontakt mit unserem Gehirn steht (auch wenn man über die genaue Art dieses Kontakts erschreckend wenig weiß), ist es denkbar, dass eine Störung des Hormonhaushalts indirekt auch eine psychische Störung hervorrufen kann. Wie ich in den folgenden zwei Abschnitten beschreiben werde, gibt es tatsächlich aber nur wenige gute Belege für einen Zusammenhang zwischen Hormonen und psychischen Störungen. Beide Beispiele beziehen sich auf eine der häufigsten psychischen Störungen: Die Depression.

Überschuss an Cortisol

Ein anerkanntes Modell der Depression geht z. B. davon aus, dass die oben beschriebene Schnittstelle (der Hypothalamus, also ein Teil des Gehirns, der aber auch Hormone produziert) und die nachgeschalteten Instanzen im Körper (die Hypophyse und Nebennierenrinde, das sind Hormondrüsen) durch Traumata in der Kindheit (z. B. in Form von Missbrauch) überempfindlich und überaktiv wird. Dies mündet in eine Überausschüttung von Cortisol (genannt “Hypercortisolismus”), einem wichtigen Stresshormon, welches sich seinerseits wiederum negativ auf den Serotonin- und Noradrenalinhaushalt (das sind beides Neurotransmitter) des Gehirns auswirkt. Dies wiederum bedingt, vermittelt durch Fehlfunktionen bestimmter Hirnareale (Präfrontaler Cortex und Hippocampus), die depressive Symptomatik. Wie gesagt: Es ist ein Modell (und Modelle sind per Definition eine Vereinfachung der Realität), aber es ist in der Wissenschaft gut akzeptiert und wird durch zahlreiche Belege gestützt. So ist z.B. der Hypercortisolismus (also die Überausschüttung von Cortisol) ein sehr trennscharfes Merkmal zur Unterscheidung von leichten bis mittelgradigen Depressionen (die diesen nicht aufweisen) und schweren Depressionen, für die dieser ein charakteristisches Merkmal ist.

Schilddrüsenfehlfunktion

Unverkennbar ist auch die Rolle der Schilddrüse, einer ganz wichtigen Hormondrüse. Eine Unterfunktion („Hypothyreose“) kann typische depressive Symptome auslösen, weshalb eine solche immer medizinisch ausgeschlossen werden sollte, bevor man die Diagnose einer depressiven Episode stellt. Aber: Bei Weitem nicht jede Depression ist deshalb durch eine Störung des Hormonhaushalts bedingt!

Was bei vielen Formen von Depression gefunden werden kann, ist ein Ungleichgewicht von Serotonin und Noradrenalin (das sind beides Neurotransmitter, keine Hormone). Daran setzen die so genannten SSRIs bzw. SNRIs (diese Abkürzungen bezeichnen Wirkstoffklassen moderner Antidepressiva) an: Sie sorgen dafür, dass wieder mehr Serotonin bzw. Noradrenalin im synaptischen Spalt zwischen zwei Nervenzellen zur Verfügung steht, sodass die Weiterleitung zwischen den Nervenzellen wieder besser funktioniert. Nur: Ob dieser Mangel ursächlich ist für das Symptom-, Denk- und Gefühlsmuster von Depressiven oder aber eine Folge oder einfach eine Begleiterscheinung dessen, ist unklar. Man weiß in diesem Fall nicht, was die Henne und was das Ei ist.

Warum man so wenig wirklich weiß

Das mangelnde Wissen über den Zusammenhang mit Hormonen gilt gleichwohl für alle psychischen Störungen: Obwohl dahingehend in der Neuroendokrinologie viel geforscht wird, wurde bisher für fast keine psychische Störung ein spezifischer hormoneller Zustand gefunden (d. h. einer, der nur bei Störung X auftritt). Dies ist als klarer Hinweis darauf zu werten, dass Hormone eher nicht ursächlich mit psychischen Störungen verbunden sind. Dasselbe gilt für Hormone und allgemeines psychisches Erleben: Kaum ein psychischer Zustand kann bisher eindeutig mit einem spezifischen Hormon in Verbindung gebracht werden.

Dass in diesem Bereich die Forschungslage so dünn und unbefriedigend ist, liegt nicht etwa an der Faulheit seiner Forschenden. Es liegt hier auch nicht an den Pharmaunternehmen, die an solcher Forschung evtl. nicht interessiert sind. Sondern daran, dass es methodisch extrem schwierig (wenn nicht gar unmöglich) ist, die komplexen Beziehungen im Hormon- und Nervensystem hinreichend zu erforschen. Eins von vielen Problemen sei hier kurz skizziert: Um die Wirkung von Hormonen auf den Körper zu untersuchen, muss man sie von außen zufügen, weil man im Körper gebildete Hormone leider nicht mit einer Kamera durch den Körper begleiten kann. Diese wirken sich im Körper aber grundsätzlich anders aus als körpereigene und tun dies zudem so diffus und unspezifisch, dass man keine brauchbaren Schlüsse über ihre Wirkung ziehen kann.

Allerdings gilt natürlich: Nur weil man bisher nichts gefunden hat, muss das nicht heißen, dass es keine Zusammenhänge gibt. Fazit daher: Es besteht dringender Forschungsbedarf.

© Dr. Christian Rupp 2023