Typische Missverständnisse rund um die Psychotherapie – Teil 2: „Einfach mal reden“

Nachdem ich in Teil 1 die diversen Missverständnisse rund um die verschiedenen „Psycho“-Berufe aufgeklärt habe, möchte ich mich in diesem Artikel der Frage widmen, was in einer (guten) Psychotherapie eigentlich passiert oder zumindest passieren sollte. Dass mir dies ein Anliegen ist, liegt daran, dass nicht selten Patienten zu mir in der Erwartung kommen, eine Psychotherapie diene dazu, „einfach mal zu reden“. Nicht selten berichten Patientinnen auch, ihr Hausarzt habe Ihnen zu einer Psychotherapie geraten, um sich „einfach mal alles von der Seele zu reden“, wofür in der Hausarztpraxis mit ihrer engen zeitlichen Taktung wahrscheinlich nicht genug Zeit ist. Nun ist dieser Mythos vom „Reden und Zuhören“ nicht völlig falsch, denn natürlich gehört das empathische, aktive Zuhören und das Bestreben, den Patienten wirklich in seiner Sichtweise und Problematik zu verstehen, zum ureigenen Rüstzeug jedes Psychotherapeuten und jeder Psychotherapeutin. Als alleinigen Wirkfaktor aber kann man dieses „Reden und Zuhören“ nicht auffassen – und ganz ehrlich: Wäre dies so, müsste man als Psychotherapeut wohl kaum eine insgesamt acht bis zehn Jahre dauernde Ausbildung absolvieren (siehe Teil 1). Die einzige Therapieschule, die dies in der Tat postuliert, ist die klientenzentrierte Gesprächspsychotherapie nach Rogers, der jedoch genau wegen ihrer begrenzten Wirksamkeit nicht umsonst die wissenschaftliche Anerkennung entzogen wurde und die deshalb auch nicht von den gesetzlichen Krankenkassen bezahlt wird (Fairerweise muss man allerdings sagen, dass unter Zugrundelegung der wissenschaftlich belegten Wirksamkeit die Tiefenpsychologische und die Analytische Therapie auch nicht bezahlt werden dürften, aber das ist ein anderes Thema – Interessierte finden hier einen interessanten Artikel zur Wirksamkeit verschiedener Therapieverfahren). Tatsächlich wird die klientenzentrierte Gesprächspsychotherapie in Studien, die die Wirksamkeit verschiedener Arten von Psychotherapie untersuchen, genau deswegen oft als Placebo-Bedingung eingesetzt, gegenüber der das jeweils andere Verfahren seine Überlegenheit zeigen muss.

Um es auf den Punkt zu bringen: Gute Psychotherapie ist sehr viel mehr, als die Patientin 50 Minuten reden zu lassen und dann wieder nach Hause zu schicken. Aber was ist Psychotherapie dann? Eine oft zitierte und weitgehend anerkannte Definition von Psychotherapie wurde von Hans Strotzka bereitgestellt, die Interessierte aufgrund ihrer Länge gerne bei Wikipedia nachlesen können. Auf drei Dinge, die auch Hans Strotzka erwähnt, möchte ich hier den Fokus legen.

Erstens ist Psychotherapie als etwas definiert, das nur zur Behandlung psychischer Störungen eingesetzt werden soll – und nicht (was viele Menschen immer noch umhaut) zur Behandlung von Problemen, die gar keinen Krankheitswert haben. Da sich Teil 3 maßgeblich mit diesem Punkt auseinandersetzen wird, gehe ich hier nicht weiter auf ihn ein.

Zweitens sollte Psychotherapie auf Basis der informierten Einwilligung (auf Englisch bekannt als „informed consent“) der Patientin stattfinden. Mit anderen Worten: Bevor die Therapie beginnt, muss der Patient wissen, worauf er sich einlässt. Das bedeutet, er muss von der Psychotherapeutin über ziemlich vieles aufgeklärt werden, wobei seine Diagnose, der Ablauf der Therapie und die voraussichtlich zur Anwendung kommenden Techniken, seine Erfolgsaussichten sowie mögliche Nebenwirkungen (ja, auch Psychotherapie kann unerwünschte Nebenwirkungen, wie z. B. eine Trennung von einem Partner, mit sich bringen) nur einige dieser Aspekte sind. Patienten, die mich aufsuchen, kennen das: In der ersten Sitzung nach der Wartezeit ist eine halbe Stunde nur für diese Aufklärung reserviert, und am Ende frage ich sehr bewusst, ob sich mein Gegenüber immer noch mit mir auf den Weg namens „Therapie“ machen will. Diese Aufklärung ist übrigens nicht optional, sondern eine aus der Berufsordnung für Psychotherapeuten hervorgehende Berufspflicht, die für alle Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten verbindlich ist – ähnlich wie auch die Dokumentationspflicht, die zum Führen einer Akte verpflichtet, oder die sehr wichtige Schweigepflicht.

Drittens, und das ist ganz besonders wichtig, sollte beiden Beteiligten, also Patientin und Psychotherapeut, immer das Ziel der gemeinsamen Arbeit klar sein. Eine Psychotherapie ohne klar kommuniziertes und am besten gemeinsam vereinbartes Ziel wabert quasi im luftleeren Raum herum und wird eher keine langfristigen Veränderungen nach sich ziehen. Je nach Therapierichtung kann dieses Ziel anders lauten, wobei es (außer in Ausnahmefällen, siehe Teil 3) wohl fast immer darum gehen dürfte, dass es der Patientin besser geht.

In der Verhaltenstherapie geht es meist sehr konkret um einerseits Verringerung von Symptomen und andererseits Veränderung von Verhaltens- und Denkweisen, in der Systemischen Therapie darum, die Rolle der Symptomatik im System, also im Umfeld der Patientin zu verstehen, und in der tiefenpsychologischen Therapie darum, intrapsychische Konflikte aus der Biographie des Patienten zu lösen. Als Psychotherapeut, der zwar maßgeblich von der Verhaltenstherapie geprägt wurde, aber auch Elemente der Systemischen und der Tiefenpsychologischen Therapie in seine Arbeit integriert, würde ich persönlich sagen, dass es in einer guten Psychotherapie immer um zwei große Säulen geht: Erstens darum, in vielschichtiger Weise zu verstehen, wodurch eine Problematik bedingt wird (biographische Prägungen, Funktionen der Problematik im Umfeld, eigene Verhaltensmuster), und zweitens darum, aktiv etwas hieran zu verändern, z. B. indem man neue Verhaltens- und Denkweisen erlernt. Beispiele für konkrete Übungen (man nennt sie auch „Interventionen“), die in der Verhaltenstherapie zum Einsatz kommen können, sind u. a. die Anwendung von Strategien zum Infragestellen ungünstiger Gedanken (auch genannt „kognitive Umstrukturierung“), Rollenspielübungen zum Erproben neuer Verhaltensweisen oder Expositionsübungen zum Verlernen von Ängsten. Der langfristige Effekt kommt dann vor allem dadurch zustande, dass diese neuen Verhaltens- und Denkweisen konsequent geübt werden. Denn neue Dinge zu lernen, bedeutet auf Ebene des Gehirns, dass neue Verknüpfungen erzeugt oder, symbolisch gesprochen, neue „Pfade plattgetreten“ werden. Da alte Denk- und Verhaltensmuster aber im Gehirn auch als „Pfad“ erhalten bleiben, müssen die neuen „Pfade“ besonders häufig benutzt und dadurch „ausgetreten“ werden, sonst nimmt man im Alltag doch wieder die alten. Daher gilt auch hier: „Übung macht den Meister“, was auch erklärt, warum eine gute Psychotherapie kaum ohne Hausaufgaben für die Zeit zwischen den Sitzungen auskommen wird.

In Teil 3 werde ich schließlich die Frage kritisch unter die Lupe nehmen, ob Psychotherapie wirklich etwas für jeden ist, und beschreiben, unter welchen Voraussetzungen eine Psychotherapie sinnvoll ist – und unter welchen nicht.