Typische Missverständnisse rund um die Psychotherapie – Teil 4: „Wer zum Psychotherapeuten geht, ist bekloppt“

Über die Ursachen und Lösungsmöglichkeiten für die Stigmatisierung psychischer Störungen – und warum wir als Therapeuten oft die Falschen behandeln.

Vor Kurzem wurde ich damit konfrontiert, dass in der Bevölkerung, zumindest im Einzugsgebiet meiner Praxis, offenbar doch auch noch ab und zu die Annahme in den Köpfen der Leute anzutreffen ist, zum Psychotherapeuten gingen nur „Bekloppte“, was natürlich zur Stigmatisierung von Menschen führt, die mich oder meine Kolleg:innen aufsuchen. Und weil ich in Teil 3 viel Wert darauf gelegt habe, u. a. deutlich zu machen, dass die Diagnose einer psychischen Störung vorliegen muss, um in Deutschland Psychotherapie machen zu können, ist es mir ein Anliegen, auch zu erklären, warum die Menschen, die mich aufsuchen, durchaus nicht „bekloppt“ sind.

Hier bietet es sich an, mit einer Statistik zur Häufigkeit psychischer Störungen einzusteigen. Tatsächlich ist es so, dass nach einer repräsentativen, methodisch guten Untersuchung von 2004 (Jacobi et al.) in Deutschland 42 von 100 Menschen im Laufe ihres Lebens irgendeine psychische Störung entwickeln – man spricht hierbei von der so genannten „Lebenszeitprävalenz“. Mit am häufigsten vertreten sind dabei depressive Störungen, woran rund 17% der Deutschen zwischen dem 18. und 65. Lebensjahr irgendwann mindestens einmal erkranken. Zum Vergleich: Einen Herzinfarkt erleiden im Verlauf ihres Lebens durchschnittlich 4,7 % der Menschen (Gößwald et al., 2013), einen Schlaganfall 2,9 % (Busch et al., 2013). Wahrscheinlich gehen Sie beim Lesen jetzt auch im Kopf ihren Bekanntenkreis durch und kommen zu dem Ergebnis, dass das nicht sein kann, weil „die doch alle ganz normal sind“ bzw. man „keinem was anmerkt“. Und hiermit liegen Sie falsch, und zwar aus zwei Gründen, die miteinander verbundenen sind. Erstens, weil man psychische Störungen den meisten Menschen nicht anmerkt, und zweitens, weil im privaten Umfeld noch zu wenige Menschen hiervon (sowie davon, dass sie eine Behandlung beginnen) erzählen.

Diese beiden Gründe sind deshalb miteinander verbunden, weil der Grund für das Nicht-Anmerken und das Nicht-Erzählen in der Regel derselbe ist: Scham. Scham, die bedingt ist durch eben solche gesellschaftlichen Stigmata wie „Nur Bekloppte gehen zum Psychotherapeuten“ und die dazu führt, dass Menschen sich verstellen, eine „fröhliche Maske“ aufsetzen, all ihr Leid weglächeln und somit gar nicht erst den Verdacht aufkommen lassen, dass sie vielleicht unter Depressionen oder übermäßigen Ängsten leiden. Bei den meisten Betroffenen sind diese Gedanken verbunden mit der Fehlannahme, dass ihr Problem sehr selten ist und sie mit diesem somit allein sind, weil ja auch „alle anderen total normal“ wirken und scheinbar „mühelos“ mit dem Leben klarkommen (was, wie ich berufsbedingt weiß, definitiv nicht der Fall ist). In der Folge begeben sich diese Menschen dann nicht oder „nur heimlich“ in Behandlung, was wiederum verstärkt, dass Menschen mit psychischen Störungen nicht sichtbar werden – und der Teufelskreis (siehe Abbildung) sich schließt.

Dass man psychische Störungen den meisten Menschen in der ambulanten Psychotherapie nicht anmerkt, hat allerdings außerdem noch den Grund, dass in einer ambulanten psychotherapeutischen Praxis solche Störungsbilder klar überwiegen, die man den Betroffenen von Natur aus nicht anmerken kann (so, wie Sie ja auch nicht bei jemandem, den sie auf der Straße treffen, sagen können, ob er Nierensteine hat), weil die psychischen Funktionen, die es erfordert, sich „nach außen hin unter Kontrolle zu haben“, bei den meisten Betroffenen noch gut funktionieren. Übrigens – wir erinnern uns an Teil 3 – ist das Vorhandensein guter geistiger Fähigkeiten eine der Voraussetzungen für Psychotherapie. Störungsbilder, die bei mir wie auch in den meisten anderen psychotherapeutischen Praxen den größten Anteil ausmachen, sind leichte bis mittelgradige depressive Episoden, Angststörungen und somatoforme Störungen – allen ist gemeinsam, dass man sie von außen nicht einfach so sieht, sondern man die Betroffenen genau fragen muss.

Das, was meiner Wahrnehmung nach viele Menschen unter „bekloppt“ oder „verrückt“ (im Sinne von „nicht mehr Herr der eigenen Sinne“) verstehen, lässt sich am ehesten einem diffusen Verständnis von geistiger Behinderung, einer Demenz oder einer psychotischen Erkrankung (wie der Schizophrenie) zuordnen. Menschen mit solchen Problematiken wird man in der Regel nicht in einer psychotherapeutischen Praxis antreffen, weil Psychotherapie hierfür überwiegend nicht das geeignete Behandlungsverfahren ist. Die drei genannten Gruppen werden eher ambulant oder stationär von Psychiater:innen behandelt, da die Behandlungsansätze vorwiegend medikamentös sind, und leben häufig in betreuten Wohngruppen oder Einrichtungen, da sie mit einem eigenständigen Leben oft aufgrund ihrer Einschränkungen überfordert sind.

An dieser Stelle möchte ich jedoch noch einen weiteren Aspekt ergänzen und dabei den Titel des Buchs von Manfred Lütz aus dem Jahr 2009 aufgreifen, der bereits die Kernthese aufstellt, dass wir im Bereich der Psychiatrie und Psychotherapie eigentlich „die Falschen behandeln“ (d. h., salopp gesagt, die „Nicht-Bekloppten“). Ich gebe Herrn Lütz insofern Recht, als ich es tagtäglich erlebe, dass eben nicht die Person vor mir sitzt, die das eigentliche Problem hat, sondern die Person, die zum Opfer ersterer geworden ist. Dies gilt insbesondere für die Angehörigen von Menschen mit schweren (z. B. narzisstischen) Persönlichkeitsstörungen, die in der Regel nicht wahrnehmen, dass nicht das Umfeld, sondern sie selbst das Problem sind, und infolgedessen ihr Umfeld bewusst oder unbewusst tyrannisieren. Zu mir kommt in der Regel nicht der alkoholabhängige Ehemann, der betrunken zuschlägt, sondern die Ehefrau, die nicht mehr weiterweiß, und es kommt auch nicht der narzisstisch persönlichkeitsgestörte Chef, der seine Mitarbeiterinnen wie Vieh behandelt und sexuell belästigt, sondern es kommt die Mitarbeiterin zur Therapie. Natürlich haben die „Opfer“ in diesen Beispielen auch ihren Anteil (weil sie es zulassen, so behandelt zu werden), aber ich denke, es ist offensichtlich, wo jeweils das eigentliche Problem liegt. Genau wie Manfred Lütz sehe auch ich es so, dass unser Problem in der Gesellschaft nicht diejenigen sind, die sich psychotherapeutische oder psychiatrische Hilfe suchen. Im Gegenteil: Diese Menschen sind in der Regel sehr reflektiert, haben ein Problembewusstsein, sind (da sie entgegen einem Stigma handeln müssen) mutig und übernehmen dadurch Verantwortung für sich und andere. All diese Aspekte unterscheiden diese Menschen von jenen, die uns gesellschaftlich wirklich Sorgen bereiten sollten: Menschen mit teils gravierenden Persönlichkeitsstörungen, die in der Vorstellung leben, dass ihr Umfeld an allem schuld ist, und die deshalb zu tickenden Zeitbomben werden, weil sie sich eben keine Hilfe suchen. Die Menschen, die sich bei mir in Behandlung befinden, sind im Schnitt meinem Urteil nach auf jeden Fall um einiges „normaler“ und meinem Ermessen nach psychisch „intakter“ als so manche Person, die mir im letzten Jahr in einem Geschäft, im Zug, als Kollege, „Dienstleister“ oder am anderen Ende einer Telefonhotline begegnet ist.

Sollten Sie als Leserin oder Leser dieses Artikels also demnächst wieder einmal jemanden in meine Praxis gehen sehen, so sollten Sie sich bewusst machen, dass dieser Mensch nicht bekloppt ist, sondern Verantwortung übernimmt und mutiger als die meisten anderen ist. Übrigens hat es einen Grund, warum ich weder in Kropp noch in Groß Rheide darauf aus war, einen versteckten Praxiseingang in irgendeinem Hinterhof zu haben, wo die Menschen, die zu mir kommen, „nicht so gesehen werden“. Der Grund ist derselbe wie der, aus dem ich vor Kurzem einer Patientin widersprochen habe, die sich wünschte, dass ich ihr einen Brief ohne Absenderangaben schicke, und er ergibt sich aus der obenstehenden Abbildung. Wenn ich einen versteckten Hinterhofeingang hätte und den Absender auf Briefen weglassen würde, würde ich den beschriebenen Teufelskreis nur weiter befeuern, weil ich erstens dadurch vermitteln würde, dass man sich zu schämen hat, wenn man zum Psychotherapeuten geht, und zweitens dazu beitragen würde, dass Menschen mit psychotherapeutischem Anliegen weiter ungesehen bleiben und sich dadurch die Fehlannahme zementiert, psychische Störungen seien „selten“ (denken Sie an die 42 %!). Beides würde gewaltig dem entgegenstehen, was mein erklärtes Ziel ist, nämlich den Besuch bei mir genau so „normal“ zu machen wie den beim Zahnarzt, Gastroenterologen, der Fußpflege oder der Physiotherapie. Und deshalb liegt meine Praxis gut sichtbar an der Hauptstraße genau richtig.

© Dr. Christian Rupp 2022