Intelligenz – Teil 1: Was ist Intelligenz überhaupt? Die Definition hängt ab von der Kultur, in der wir leben.

Normalerweise würde man an einer solchen einführenden Stelle eine Definition erwarten. Und in der Tat haben auch zahlreiche Forscher versucht, den Begriff „Intelligenz“ zu definieren. Das Problem ist: Dieses Vorhaben ist entsetzlich schwierig, wenn nicht unmöglich. Dass es irgendetwas mit der geistigen (kognitiven) Leistungsfähigkeit und mit „Schlausein“ zu tun hat, ist, in die Alltagssprache übersetzt, der einzige Kern, den die meisten Definitionen teilen.

Ich möchte daher einen anderen Zugang wählen und einen Auszug aus der Forschung vorstellen, die sich mit der Sicht des Begriffs „Intelligenz“ in verschiedenen Kulturen der Erde befasst hat. Denn je nach Kultur kann die Bedeutung von „Intelligenz“ eine ziemlich andere sein, und wenn man die verschiedenen kulturellen Bedeutungen dieses Konstrukts einmal genau bedenkt, so ist dies meiner Meinung nach die beste Möglichkeit, zu verstehen, dass es nicht „die eine“ Definition gibt. In diesem Teil soll es also darum gehen, wie Laien in verschiedenen Kulturen Intelligenz definieren. Um wissenschaftliche, auf empirischen Befunden basierende Theorien der Intelligenz wird es dagegen in den folgenden Teilen gehen.

Wie Menschen „Intelligenz“ definieren, bestimmt ganz maßgeblich, wie sie die eigene Intelligenz und die anderer Menschen wahrnehmen und beurteilen. Sehr gute Forschung zu Laientheorien über „Intelligenz“ wurde von dem renommierten Psychologen Robert Sternberg betrieben. Hierzu wählte er u.a. zwei Methoden: Einmal bat er (bzw. wahrscheinlich eher seine Mitarbeiter) zufällig ausgewählte Menschen (die z.B. auf einen Zug warteten), kurz aufzulisten, welche Fähigkeiten und Verhaltensweisen ein sehr intelligenter Mensch ihrer Meinung nach zeigt, um dann anschließend die Antworten verschiedenen Oberkategorien zuzuordnen. Ein anderes Mal ergänzte er dieses Vorgehen um einen faktorenanalytischen Ansatz, indem er im Anschluss an eine solche Erhebung andere Probanden bat, die aufgelisteten Fähigkeiten und Verhaltensweisen danach zu sortieren, welche sehr wahrscheinlich zusammen auftreten. In beiden Fällen besteht das Ergebnis in unterschiedlich vielen verschiedenen „Faktoren“ oder „Dimensionen“ von Intelligenz.

Sternberg führte solche Studien in verschiedenen Kulturen durch. Am interessantesten ist der Vergleich zwischen „westlichen“ (Nordamerika, Europa) und „östlichen“ Kulturen (ost- und südostasiatische Länder). So fand Sternberg in einer seiner Studien durch Befragung von Laien in westlichen Kulturen, dass die Menschen dort vor allem drei Dimensionen (oder Arten) von Inteligenz unterscheiden:

  • praktische Problemlösefähigkeit (die Fähigkeit, Probleme in Alltagssituationen zu lösen)
  • verbale Fähigkeit (Redegewandtheit, Verständnis von grammatikalischen Strukturen, reicher Wortschatz, Verwendung von Analogien)
  • soziale Kompetenz (gute Selbstwahrnehmung, Selbstsicherheit, Wertschätzung für andere, Fähigkeit, sich zu entschuldigen, Sicherheit in sozialen Interaktionen)

Weitere Studien ergaben, dass westliche Kulturen sehr stark mentale Verarbeitungsgeschwindigkeit sowie die Fähigkeit, Informationen rasch und effizient zu sammeln und zu sortieren, betonen.

Vergleichbare Studien in östlichen Kulturen ergaben ein leicht abweichendes Bild. Hier verstehen die Menschen unter „Intelligenz“ unter anderem soziale, historische und spirituelle Aspekte von alltäglichen Interaktionen, Wissen und Problemlösen. Das „östliche“ Problemlösen unterscheidet sich jedoch in einem zentralen Aspekt von der „westlichen“ Konzeption: Während in westlichen Kulturen ein Individuum dann als intelligent gilt, wenn es in der Lage ist, Probleme jeglicher Art alleine zu lösen, so sieht die in östlichen Kulturen weit verbreitete Sicht von Intelligenz vor, dass intelligentes Verhalten vor allem darin besteht, dass sich das Individuum dreier Arten von Hilfe bedient: indem es (1) Rat bei Familie und Freunden sucht, (2) geschichtliches Wissen hinzunimmt (wer hat dasselbe Problem schon einmal gelöst – und wie?) und (3) spirituelles Wissen hinzuzieht (welche Konsequenzen haben Handlungen zur Lösung des Problems für meine Seele?). Insbesondere spirituelle Aspekte spielen in östlichen Vorstellungen von Intelligenz eine große Rolle, während sie in westlichen Definitionen grundsätzlich nicht anzutreffen sind. Insgesamt liegt, wie gerade beschrieben, der Hauptunterschied darin, dass Intelligenz einmal als die Fähigkeit zum alleinigen Problemlösen aufgefasst wird – und einmal als die Fähigkeit, sich genau hierfür gezielter Hilfe zu bedienen.

Weitere Befunde aus China, Indien und Afrika

Es finden sich aber auch noch weitere interessante Aspekte von Intelligenz, die durch Studien in asiatischen und auch afrikanischen Kulturen entdeckt wurden. So fanden Yang und Sternberg (1997b) im Rahmen einer Befragung in China u.a. die Faktoren „Wohltätigkeit“, „Rechtschaffenheit“, „Bescheidenheit“, „Bemühungen zum Dazulernen“ und „Freiheit von konventionellen Urteilsmaßstäben“. Baral und Das (2004) fanden in Indien neben „Urteilen“ und „Bescheidenheit“ auch die Dimension „Emotionen“ als Facette von Intelligenz, und durch eine Untersuchung in Afrika fanden Irvine (1978) sowie Putnam und Kilbride (1980) u.a. die Aspekte „weniger sprachliche Äußerungen“, „Zuhören“ und „Bedenken aller Aspekte eines Problems“.

Was Dimensionen wie „Bescheidenheit“, „Wohltätigkeit“ und „Rechtschaffenheit“ widerspiegeln, ist eng mit einem stabilen Befund der interkulturellen Persönlichkeitspsychologie verknüpft. Dieser Befund besagt, dass Menschen aus östlichen Kulturen eher kollektivistisch denken, d.h. das Wohl der Gemeinschaft die Maxime ihres Handelns darstellt und sie sich als Teil eines sozialen Gefüges wahrnehmen, ohne das sie nicht existieren könnten. Dem gegenüber weisen Menschen aus westlichen Kulturen (ganz besonders der US-amerikanischen) eher individualistische Denkstrukturen auf, was bedeutet, dass sie sich selbst eher als „Einzelkämpfer“ wahrnehmen und davon ausgehen, dass jeder Mensch für sein Leben selbst verantwortlich ist. Dies wird u.a. auch durch das Verständnis von Intelligenz als Fähigkeit zum selbstständigen Problemlösen widergespiegelt.

Definition von „Intelligenz“ je nach Alter

Aber nicht nur zwischen Nationalkulturen gibt es gravierende Unterschiede, was das Verständnis von Intelligenz angeht. Auch mit dem Alter ändert sich dieses Verständnis, wie z.B. die Psychologen Yussen und Kane (1985) zeigen konnten. Zum einen ist es so, dass Schüler_Innen unterschiedlicher Altersstufen Intelligenz anders definieren: Während jüngere Schüler eher davon ausgehen, dass man entweder intelligent ist oder nicht und dieses angeboren ist, hatten ältere Schüler bereits eine differenzierte Auffassung von Intelligenz und waren der Meinung, dass jemand z.B. im sprachlichen Bereich intelligenter sein kann als im mathematischen und dass die Intelligenz eher ein Zusammenspiel von angeborenen Anlagen und Umwelteinflüssen ist (was hiervon nun korrekt ist, ist ein anderes Thema, das ich natürlich in den folgenden Teilen noch ausgiebig behandeln werde).

Zum anderen hängt unsere Definition von intelligentem Verhalten natürlich stark davon ab, wie alt die zu beschreibende Person ist. So würden Sie wahrscheinlich dem zustimmen, dass „flüssige Ausdrucksweise“ bei einer 20-Jährigen durchaus ein Zeichen von Intelligenz ist, nicht aber bei einer 3-Jährigen, wo vielmehr das schnelle Lernen und die im Kontext korrekte Anwendung eines neuen Wortes ein Anzeichen von Intelligenz ist. Berg und Steinberg (1992) fanden einen ähnlichen Effekt in ihrer Studie, die untersuchte, welche Verhaltensweisen Probanden bei 30-, 50- und 70-Jährigen für intelligent halten. Das Ergebnis zeigte, dass die Fähigkeit zum Umgang mit Neuem eher auf einen intelligenten 30-Jährigen zutrifft, während alltägliches Problemlösen und verbale Kompetenz eher einen sehr intelligenten Menschen zwischen 50 und 70 charakterisieren.

…und je nach Studienfach

Auch die akademische Fachrichtung spielt eine Rolle für das Verständnis von Intelligenz. Hierzu befragte Robert Sternberg (1985b), den wir oben bereits mehrfach kennen gelernt haben, Hochschulprofessoren verschiedener Fachrichtungen (Kunst, Wirtschaft, Philosophie, Physik) und fand sichtbare Unterschiede:

  • Kunst: u.a. Fähigkeit zum Umgang mit Wissen, Abwägen möglicher Alternativen, Sehen von Analogien
  • Wirtschaft: u.a. Fähigkeit zu logischem Denken sowie Durchschauen und Verstehen komplexer Argumentationslinien
  • Philosophie: u.a. kritische und logische Fähigkeiten sowie Auffinden von Fehlern in Argumentationen
  • Physik: u.a. präzises mathematisches Denken und schnelles Erfassen von Naturgesetzen

Fazit

Was ich nun hoffentlich zeigen konnte, ist, dass es in den Definitionen unterschiedlicher Kulturen (sowohl bezogen auf die Nationalität als auch auf die akademische Fachrichtung und das Alter) teils erhebliche Unterschiede bezüglich des Begriffs „Intelligenz“ gibt. Neben diesen Unterschieden gibt es jedoch auch einige Komponenten, über die sich verschiedene Kulturen mehr oder weniger einig zu sein scheinen. Hierzu gehören eine allgemeine Problemlösefähigkeit (sowohl für alltagsnahe, d.h. praktische Probleme als für abstrakte), logisches Denkvermögen und soziale Kompetenz. Diese Begriffe werden Ihnen in den folgenden Teilen noch einmal begegnen, wenn ich die verschiedenen wissenschaftlichen Intelligenzmodelle vorstellen werde.

© Christian Rupp 2013