Warum werden Menschen abhängig? – Die psychosoziale Seite.

In diesem zweiten Teil soll es um die Frage gehen, welche psychischen und sozialen Faktoren die Entwicklung einer Abhängigkeitserkrankung bedingen. Hierzu habe ich vier Aspekte herausgegriffen, die mir als die wichtigsten erscheinen.

Veränderte Selbstwahrnehmung

Zu diesem Punkt liegen verschiedene Theorien vor, deren Gemeinsamkeit darin besteht, dass sie davon ausgehen, dass Alkoholkonsum zu einer veränderten Wahrnehmung der eigenen Person führt und so z.B. bei sozial ängstlichen Personen bewirkt, dass diese sich weniger schüchtern und offener in soziale Interaktionen begeben.

So postuliert z.B. die Self Awareness-Theorie, dass Alkohol die selbstbezogene Aufmerksamkeit verändert. Generell gilt: Je höher die selbstbezogene Aufmerksamkeit, desto besser stimmen externe und interne Verhaltensstandards überein, d.h. umso mehr orientiert sich das eigene Verhalten an gesellschaftlichen Normen. Unter Alkoholeinfluss reduziert sich laut dieser Theorie die Aufmerksamkeit auf die eigene Person, und in der Folge verhalten sich Menschen eher entgegen jener Normen – d.h. sie tun Dinge, die ihnen unter intakter Selbstaufmerksamkeit viel zu peinlich wären (auf dem Tisch tanzen, den Chef auf einer Betriebsfeier anbaggern, etc.). Zu dieser Theorie ist die empirische Befundlage leider sehr mager, sodass sie nicht als bestätigt angesehen werden kann.

Die Alcohol-Myopia-Theory besagt derweil, dass Alkohol dazu führt, dass bei der Entscheidung, welchem von zwei Handlungsimpulsen aus der Umwelt man folgt (z.B. auf der Betriebsfeier eher hemmungslos abtanzen oder sich aufgrund der Anwesenheit des Chefs eher zurückzuhalten)  immer derjenige gewählt wird, der weniger kognitive Verarbeitung erfordert und der am meisten hervorsticht. In diesem Beispiel wäre der dominierende Impuls “Party”, und die Verarbeitung des weniger hervorstechenden Aspekts “Chef ist anwesend” würde aufgrund des Alkoholkonsums unterdrückt, sodass der erste Impuls das Verhalten steuert und man beispielsweise wild auf dem Tisch tanzt. Für diese Theorie liegen tatsächliche einige Belege vor.

Das Appraisal-Disruption-Modell besagt etwas sehr Ähnliches. Es geht davon aus, dass Alkohol verhindert, dass bei der Wahrnehmung eines bestimmtes Reizes in der Umwelt (z.B. “Chef da drüben”) die damit assoziierten Aspekte im Gedächtnis (“nicht blamieren”) aktiviert werden, was aber für eine adäquate Bewertung des Reizes und somit angemessenes Verhalten unerlässlich ist. Die Theorie sagt somit aber vorher, dass Alkohol sich nur dann auf Selbstwahrnehmung und Sozialverhalten auswirken sollte, wenn er konsumiert wird, bevor man mit dem zu bewertenden Reiz konfrontiert wird (da er sich nur dann auf die Aktivierung im Gedächtnis auswirken kann) – eine Vorhersage, die bislang nicht bestätigt wurde.

Insgesamt kann man die Forschungsergebnisse zum Aspekt der veränderten Selbstwahrnehmung so zusammenfassen: Als bestätigt gilt, dass Alkoholkonsum die Selbstwahrnehmung verbessert, was man z.B. daran erkennt, dass sich Probanden nach dem Konsum von Alkohol positivere Eigenschaften zuschreiben (gemessen mit dem so genannten Impliziten Assoziationstest). Weiterhin wurde die Frage untersucht, ob sich durch Alkoholkonsum tatsächlich die soziale Ängstlichkeit reduziert. Hier konnte gezeigt werden, dass sozial ängstliche Probanden nach Alkoholkonsum und der Ankündigung, z.B. vor anderen eine Rede halten zu müssen, zwar subjektiv weniger Angst und Stress angaben, dies aber nicht durch objektive physiologische Messwerte, die mit Angstreaktionen einhergehen (Herzrate, Hautleitfähigkeit…) widergespiegelt wurde. Insgesamt ist aber gerade aufgrund der subjektiv wahrgenommenen Angstreduktion davon auszugehen, dass die leichter fallende Interaktion mit anderen bei sehr schüchternen Personen einen wesentlichen Beitrag dazu leistet, dass sich eine Abhängigkeit entwickelt – was dazu passt, dass sich bei Patienten mit einer sozialen Phobie häufig sekundär eine Alkoholabhängigkeit entwickelt.

Suchtbezogene Grundannahmen

Dieser Aspekt beruht auf der kognitiven Theorie bzw. der kognitiven Therapie nach Aaron Beck, der als Kern der Abhängigkeit bestimmte kognitive Strukturen (Überzeugungen, Grundannahmen) ansieht, die sich aus den Erfahrungen des Individuums in der Vergangenheit gebildet haben. Suchtbezogene Grundannahmen haben gemeinsam, dass die allesamt die Vorteile des Alkoholkonsums betonen. So könnten typische Annahmen z.B. lauten: “Ohne Alkohol kann ich keinen Spaß haben”, “Ohne Alkohol kann ich nicht entspannen”, “Ohne Alkohol wirke ich nicht attraktiv”, “Nur mit Alkohol kann ich mich ohne Angst mit Fremden unterhalten” oder “Nur mit Alkohol komme ich auf richtig gute Ideen”. Wie man sieht, können diese Annahmen vielfältig sein und natürlich auch die Aspekte der oben beschriebenen veränderten Selbstwahrnehmung beinhalten.

Das Modell nach Beck sieht nun vor, dass diese Grundannahmen in Risikosituationen (wie z.B. einer generell schlechten Stimmung) aktiviert werden, was dann bestimmte automatische Gedanken auslöst (z.B.: “Geh los und trink was”). Dies erzeugt dann starkes Verlangen nach der Substanz (hier Alkohol), was schließlich zu einem erlaubniserteilenden Gedanken führt (“Mir bleibt nichts anderes übrig als zu trinken, weil niemand da ist, mit dem ich reden könnte”) – und letztlich zum erneuten Alkoholkonsum.  In der Therapie bestünde daher ein wichtiger Ansatz darin, diese Grundannahmen durch Techniken der kognitiven Therapie zu verändern.

Abstinenz-Verletzungssyndrom

Dieser recht unschöne Begriff bezeichnet ein Phänomen, das bei abhängigen Patienten häufig nach einem Rückfall auftritt, nachdem sie es bereits einige Zeit geschafft haben, abstinent zu sein, also nichts von der Substanz zu konsumieren.  Das Abstinenz-Verletzungssyndrom (kurz AVS) ist gekennzeichnet durch starke Resignation und Minderwertigkeitsgefühle auf Seiten des Patienten, der den Rückfall als Beleg für die eigene Schwäche wertet – sowie dafür, ein Versager zu sein. Typische Gedanken, die Patienten in solchen Situationen häufig kommen, sind: “Ich bekomme es einfach nicht hin, mit dem Trinken aufzuhören”, “Dass ich einen Rückfall hatte, zeigt, dass ich dafür einfach zu schwach bin” und “Im Prinzip kann ich gleich aufhören, es weiter zu versuchen und wieder trinken wie bisher”. Daraus erklärt sich die große Gefahr, die das AVS birgt – nämlich wieder komplett in das alte Trinkverhalten zurückzuverfallen, “weil man es ja eh nicht schafft, ganz aufzuhören”. In der Therapie ist es daher enorm wichtig, zwischen einem einmaligen Rückfall (im Englischen “lapse”) und einem wirklichen Rückfall in das alte Trinkmuster (im Englischen “relapse”) zu unterscheiden und dem Patienten klar zu machen, dass es gerade wichtig ist, nach einem lapse nicht in einen relapse zu verfallen. Tatsächlich brauchen die meisten Patienten 4-5 Anläufe, bis es dauerhaft mit der Abstinenz klappt – eine Erkenntnis, die für Patienten sehr entlastend sein kann.

Veränderungen in der Familie

Zuletzt möchte ich noch auf einige soziale Aspekte eingehen, die die mit einer Abhängigkeitserkrankung einhergehenden Veränderungen in der Familie des Patienten betreffen. So kommt es infolge der Abhängigkeit häufig dazu, dass sich die Familie nach außen hin abschottet – in der Regel aus Scham und der Angst, von Verwandten, Freunden und Bekannten abgewertet zu werden. Die dadurch weniger werdenden sozialen Kontakte brechen somit als wichtige Ressource weg, was der Patient typischerweise durch gesteigerten Konsum kompensiert.

Hinzu kommt, dass in den betroffenen Familien das Thema “Abhängigkeit” oft lange Zeit vermieden und mit aller Mühe versucht wird, es z.B. vor Partner oder Kindern zu verheimlichen. Selbst wenn jeder Bescheid weiß, wird das Thema oft lieber totgeschwiegen als offen angesprochen, meist aus Unsicherheit und Hilflosigkeit der Familienmitglieder. Zudem kommt es häufig vor, dass z.B. Partner dem Abhängigen sogar entgegenkommen, indem sie beispielsweise Alkohol besorgen – natürlich in dem Bestreben, dem geliebten Partner in seinen Qualen behilflich zu sein. Hierdurch passiert natürlich langfristig das Gegenteil: Die Abhängigkeit wird aufrecht erhalten, und die Lage spitzt sich zu.

Letztlich kommt es in solchen Familien auch oft zu gravierenden Veränderungen der Rollenverteilung, z.B. wenn ein älteres Kind die Mutterrolle für jüngere Geschwister übernimmt, weil die alkoholabhängige Mutter nicht mehr in der Lage ist, für ihre Kinder zu sorgen. Solche Veränderungen halten nicht nur die Abhängigkeitserkrankung aufrecht, sondern sind außerdem hochgradig ungünstig für die Entwicklung der betroffenen Kinder. Deshalb gehört zu einer allumfassenden Therapie von Abhängigkeitserkrankungen immer auch der Einbezug der Familienmitglieder und die genaue Betrachtung der sozialen Bedingungen, in denen sich der Patient befindet.

Fazit

Wie ich in diesem und dem vorherigen Artikel hoffentlich habe zeigen können, sind die Ursachen dafür, warum Menschen eine Abhängigkeit entwickeln, sehr vielfältig – und nur durch die Berücksichtigung sowohl biologischer als auch psychischer und sozialer Aspekte lässt sich diese sehr ernste Erkrankung überhaupt verstehen.

© Christian Rupp 2013